Dieser Text ist für den Reporterpreis 2009 nominiert.
Aus
einem Krieg eine Geschichte vom Sterben zu erzählen ist nichts
Besonderes. Im Krieg wird gestorben. Menschen werden getötet,
gezielt oder aus Versehen. Lange Erklärungen gibt es. Und kurze.
Bomben werden eingesetzt, Raketen, Sprengfallen, Handgranaten. Körper
werden durchlöchert und zerrissen, verbrannt und verstümmelt. Im
Schlaf wird gestorben, im Kampf, mit geladenen Waffen, mit leeren
Händen.
Warum
vom Tod eines einzelnen Menschen berichten, wenn auch zahllose andere
gestorben sind, auf beiden Seiten? Über Schuld und Unschuld sagt
diese Geschichte aus dem jüngsten Gaza-Krieg nichts aus. Trotzdem
muss vom Tod eines einzelnen Menschen erzählt werden, weil nur dann
verständlich wird, wie unverständlich es ist, das Sterben, so
unverständlich wie ungeheuerlich.
Der
Palästinenser Mohammed Shurab sucht noch immer nach Gründen für
den Tod seiner Söhne. Sucht nach einem Fehler. Nach etwas, das ihm
einen Hinweis hätte geben können. Aber da war nichts. Warum nur
mussten seine Söhne sterben? Und warum in einer Feuerpause?
Der
63-Jährige sitzt auf der Dachterrasse seines Hauses in der Stadt
Khan Younis bei einem Glas Orangensaft und erzählt von jenem 16.
Januar 2009, an dem er seine beiden Söhne verlor, obwohl die Rettung
so nah war. Er erzählt sie langsam, die ganze Geschichte, als könne
er sie so besser begreifen. Er sagt: "Ich hatte nie Probleme mit
Israelis. Nie." Wieder und wieder sagt er diesen Satz. Er hält
ihn vor sich wie einen Schutzschild, als hätte die versöhnliche
Geschichte der Begegnungen, die er mit den Menschen der anderen Seite
gemacht hat, all das abwehren müssen, was ihm während des Krieges
im Gaza-Streifen widerfahren ist.
Nur
vierhundert Meter von der israelischen Grenze entfernt liegt sein
Zweithaus auf dem Land nahe dem Dorf al Foukhary, ein von
Grapefruitbäumen umstandenes Idyll. Hierhin zieht sich Mohammed
Shurab von Sonntag bis Donnerstag zurück, bevor er zurückfährt in
die Stadt, jeden Freitag, immer über den lehmigen Sandweg, der in
die asphaltierte Hauptstraße mündet, vorbei am kleinen Supermarkt,
bis er ein paar Kilometer weiter in Khan Younis ankommt, der ruhigen
Stadt im Süden von Gaza, wo er das Wochenende bei seiner Familie
verbringt. Das Haus dort teilen sich Mohammed und sein Bruder Ibrahim
mit ihren Kindern und der gebrechlichen Großmutter, die im
Erdgeschoss auf einem Sofa ruht.
"Ich
hatte nie Probleme dort", sagt Mohammed, "nicht während
der Besetzung von Gaza und nicht danach." Er lächelt, wenn er
von den früheren Besuchen der israelischen Soldaten erzählt. Wie
sie mehrmals sein Haus durchsuchten, das wie ein Grenzstein an dieser
Konfliktlinie zwischen Palästinensern und Israelis stand, die ihn
aber immer unbehelligt ließen. Mohammed verstand das als Bestätigung
seiner Unbefangenheit, als ein Gütesiegel vielleicht. Auch darum
sucht er jetzt nach Gründen: Weil er noch immer glaubt, dass es der
Gründe bedarf, um jemanden zu töten. Weil er nicht glauben will,
was so viele andere glauben: dass die andere Seite ein Feind sein
müsse. Weil er den Hass, der den Krieg im Nahen Osten schürt, nicht
teilt. Und weil er den Hass aus seiner Geschichte des 16. Januar
heraushalten will.
Wieder
und wieder geht Mohammed Shurab den Ablauf dieses Tages durch, malt
Wege und Straßen auf ein Blatt Papier, druckt Satellitenfotos von
Google Earth aus, schützt seine Unterlagen mit Klarsichtfolien.
Alles muss ordentlich sein. Wie sonst sollte er der Unordnung
begegnen, die sein Leben zerstörte, an jenem Freitag, dem 16.
Januar?
Am
Mittag, gegen 12 Uhr, waren er und seine Söhne, der 28 Jahre alte
Kassab und der 18 Jahre alte Ibrahim, in den roten Landrover
gestiegen und losgefahren, vom Land in Richtung Stadt, wie immer,
sagt Mohammed. Mühsam bewegt er seinen verletzten linken Arm über
den Tisch und zeigt auf der Landkarte den Punkt, an dem die
Geschichte begann. Von 10 bis 14 Uhr sollte die tägliche Feuerpause
dauern, festgelegt von der israelischen Armee, damit Zivilisten sich
bewegen konnten, zum Beispiel etwas einkaufen. Dass Einheiten der
israelischen Armee in der Nähe waren, wusste Mohammed Shurab. Er
hatte Panzer vorbeifahren sehen. Von der Terrasse seines Landhauses
hatte er einen Überblick. " Ich konnte die Bombardierungen
sehen", sagt er und malt einen Halbkreis auf seinem Lageplan,
"in Rafah...", er malt einen Punkt im Süden, für die
Grenzstadt, "...in Gaza", er malt einen weiteren Punkt für
Gaza-Stadt ans andere Ende. " Ich konnte alles sehen."
Mohammed
Shurab beschreibt den Krieg wie jemand, der sich in Sicherheit
wähnte, auf einem entlegenen Außenposten, den die Gewalt nicht
treffen konnte. All die Jahre hatten die Israelis um sein Haus
gewusst, und nie hatten sie etwas zu beanstanden. Warum sollte er
irgendetwas anders machen als an all den anderen Freitagen? Warum den
Israelis nicht trauen? Sie hatten diese Waffenruhe versprochen, und
Mohammed Shurab war ohne Furcht.
Den
Zeitpunkt, an dem er aufbrach, wählte er mit Bedacht. 12 Uhr, das
sollte die besonders sichere Mitte der Waffenruhe sein.
Normalerweise, erzählt Mohammed, fuhr er diese Strecke allein. Es
war ein Zufall, dass ihn an diesem Tag seine beiden Söhne
begleiteten. Der Fernseher in seinem Haus auf dem Land war
ausgefallen. " Kassab wollte ihn reparieren." Kassab, der
ältere Bruder, hatte einen Abschluss in Architektur an der
Universität in Gaza. Ibrahim, der jüngere, begleitete ihn. Am
Mittwoch, dem 14. Januar, hatten die beiden den Vater besucht, die
Satellitenschüssel gerichtet und danach zusammen ferngesehen. Als
sie am Freitag ins Auto stiegen, um in die Stadt zurückzukehren, saß
der Vater auf dem Fahrersitz, neben ihm Kassab, Ibrahim dahinter.
Es
gibt einen Zeugen für den Zeitpunkt, an dem der Vater mit seinen
Söhnen das Haus verließ: Der 39 Jahre alte Amer Amira al Amour
bestätigt die Uhrzeit. " Ich konnte Mohammeds roten Jeep sehen,
wie er langsam den Weg entlangfuhr." Als Amer das sagt, steht er
auf dem Dach seines Hauses, das zwischen Mohammed Shurabs Landsitz
und der Hauptstraße liegt, hier war er auch am 16. Januar. Amer
trägt ein Sweatshirt mit dem Schriftzug Israel Airport Authority, es
ist ein wenig ausgewaschen. Schon lange ist es her, dass jemand wie
Amer, ein Beduine aus Gaza, in Israel arbeiten durfte. Er sagt:
"Mohammeds roter Jeep fuhr so langsam, dass selbst ein Esel ihn
hätte überholen können."
Die
ersten Schüsse fielen um kurz nach zwölf. Sie trafen den Vater.
Mohammed
Shurab nahm die gewohnte Strecke, am Ende der Kakteenallee bog er auf
die Hauptstraße. " Es war ein klarer Tag", erzählt er,
"es war sonnig." Das ist ihm wichtig. Er wäre nicht
gefahren, wenn es neblig gewesen wäre. " Im Dorf al Foukhary
wurde nicht gekämpft. Alles war ruhig." Mohammed Shurab fuhr
langsam, der Kreisel am Salim Platz war nur noch wenige Hundert Meter
entfernt. Links vor ihm, neben der Straße, die nach Westen führt,
sah er zwei israelische Panzer. " Ich habe gestoppt", sagt
er, "und ich habe gewinkt." Er winkt jetzt noch einmal,
ganz so, als müsse er für jedes Detail einen Beweis vorlegen. Wie
oft hat er diese Szene in seiner Fantasie noch einmal durchgespielt?
Wenn diese Straßenkreuzung das Leben seiner Söhne zerstörte, hätte
er dann nicht etwas bemerken müssen? " Es war alles in
Ordnung", sagt er, die Soldaten auf dem Panzer konnten ihn
sehen, ihn und seine beiden unbewaffneten Söhne.
Sie
hätten ihn warnen können, ihn aufhalten können, ihn zwingen, die
andere Abzweigung zu nehmen, den Weg nach Norden. Aber die Soldaten
auf dem Panzer regten sich nicht. So fuhr Mohammed Shurab weiter,
langsam, geradeaus, ließ die Panzer hinter sich. Er schaffte noch
zweihundertfünfzig Meter, ungefähr. Dann brach es los. " Auf
einmal wurden wir beschossen, aus diesem Haus in vierzig Meter
Entfernung", sagt er, "sie haben uns nicht gewarnt."
Eine der ersten Kugeln traf Mohammed Shurab im linken Oberarm. "
Ich habe zu den Jungen geschrien: Runter!" Das Gewehrfeuer
wollte nicht aufhören. Mohammed Shurab konnte den Wagen nicht mehr
kontrollieren. Er prallte gegen eine Mauer am Straßenrand.
Der
Landrover ist ein stummer Zeuge. Der Wagen steht in der Werkstatt von
Bilal el Khady in der Stadt Khan Younis. Der Mechaniker zeigt die
Munitionssplitter, die er aus dem durchlöcherten Auto mit dem
Nummernschild 3-3776-93 geklaubt hat: aus dem Motor, dem Dach, den
Türen, der Rückbank. Zweiundzwanzig Einschusslöcher allein in der
Windschutzscheibe, die meisten auf der Fahrerseite, in Kopfhöhe.
Mohammed
Shurab liebte seine Söhne. Wenn er von ihnen erzählt, funkeln seine
Augen. Er erhebt sich und steigt die Treppe hinunter ins Erdgeschoss,
die Ablenkung scheint ihm gutzutun. Er möchte etwas zeigen, geht ins
Wohnzimmer und holt hinter einer Tür die Zeichnungen von Kassab
hervor: Pläne des jungen Architekten, Entwürfe von Häusern und
Landschaften, Utopien eines neuen Gaza-Streifens, eines Landes ohne
Krieg. Mohammed Shurab zeigt ein Foto seines Sohnes Ibrahim, der sich
erst wenige Monate zuvor an der Universität eingeschrieben hatte, er
wollte Wirtschaft studieren wie sein Vater.
"Als
wir auf dem Boden lagen", sagt er, "haben sie weiter
geschossen. Tiefer." Im Auto konnten sie nicht bleiben. Sie
mussten aussteigen. Langsam. Mussten deutlich machen, dass keine
Gefahr von ihnen ausging. " Kassab stieg als Erster aus",
sagt der Vater, "er öffnete die Autotür und stand aufrecht,
ganz ohne Angst. Er wurde sofort erschossen."
Mit
seiner Hand markiert Mohammed Shurab eine schräge Linie vor seinem
eigenen Oberkörper, um die sieben Kugeln zu beschreiben, die seinem
Sohn quer in der Brust einschlugen. " Kassab ging noch ein paar
Schritte. Dann wurde er wieder getroffen und fiel zu Boden." Der
Vater schweigt einen Moment, dann fügt er hinzu: "Er hat sich
nicht mehr gerührt."
Wo
war der Fehler, der erklären könnte, weshalb sein Sohn getötet
wurde? Jede Frage, die Mohammed Shurab seither an sich richtet, zieht
eine weitere nach sich, weil er keine Antwort findet. Warum wurde
während der Feuerpause geschossen? Warum am helllichten Tag? Warum
auf einer übersichtlichen Straße in einem winzigen Dorf? Wieso
hatte niemand gesehen, dass der Junge unbewaffnet war? Dass er
aufrecht stand, aufrecht, wie das nur der Sohn eines Palästinensers
konnte, der israelischen Soldaten vertraute?
"Dann
ist auch Ibrahim ausgestiegen", sagt Mohammed Shurab, auch sein
anderer Sohn verließ das Auto, "die rechte hintere Tür ließ
er offen. Sie haben auf ihn geschossen." Ibrahim stürzte zu
Boden und versuchte noch, Mohammed zu beruhigen. Ibrahim habe gesagt:
"Keine Sorge, Vater, es ist nicht so schlimm. Sie haben mich am
Bein getroffen, unterhalb des Knies." So erinnert sich der
Vater. Er sitzt über den Tisch gebeugt, sagt bloß noch diesen Satz:
"Das warme Blut lief über meinen Arm die Finger herunter. Mein
einer Sohn war tot und mein anderer verwundet."
Captain
Benjamin Rutland, ein Sprecher der israelischen Armee, kann sich zu
der Geschichte von Mohammed Shurab nicht äußern. " Wir
unterziehen gerade das allgemeine Auftreten der Israel Defense Forces
während der Gaza-Offensive und einige Einzelfälle einer extensiven
Überprüfung", erklärt Rutland. Die Frage, warum auf Mohammed
Shurab geschossen wurde, darf Rutland nicht beantworten, solange die
Ermittlungen laufen. Auch die Frage, warum die Waffenpause an jenem
Freitag, dem 16. Januar, im Dorf al Foukhary nicht eingehalten wurde,
lässt er offen. Vielleicht gibt es Erklärungen für die Schüsse
auf das Auto von Mohammed Shurab, vielleicht gibt es Gründe für den
Tod von Kassab Shurab, vielleicht kennt sie Captain Rutland, aber er
schweigt. Daraus lässt sich nichts folgern. Keine Absicht. Keine
Motive. Keine Schuld.
Für
die Perspektive der israelischen Soldaten im Dorf al Foukhary gibt es
einen einzigen Zeugen, einen Palästinenser, der zweisprachig ist. Er
wohnt nicht in dem Gebäude, aus dem heraus geschossen wurde, sondern
nebenan. Etwas linkisch sitzt er auf seinem Stuhl. Er fühlt sich
unwohl bei der Erinnerung an den 16. Januar. Es ist seine eigene
Rolle, die ihm nicht behagt. Er hat sie sich nicht ausgesucht. Etwas
zu wissen, was gegen die israelische Armee verwendet werden könnte,
macht ihm Angst. Etwas preiszugeben, was die Israelis wiederum gegen
ihn verwenden könnten, macht ihm noch mehr Angst.
Am
Donnerstag, dem 15. Januar, so beginnt die Geschichte des Nachbarn,
seien israelische Soldaten bei ihm zu Hause aufgetaucht. Sie hätten
durch die Tür seines Hauses geschossen und ihn am Arm verwundet.
Tatsächlich klafft im rechten Ärmel seiner Jacke ein Loch. Er sei
als Geisel genommen worden, zwei Tage lang mussten er und neun andere
Menschen in einem Zimmer im Erdgeschoss ausharren. Die Tür sei offen
geblieben, erzählt der Nachbar, auf einem Stuhl habe ein
israelischer Soldat gesessen, mit einem Gewehr auf dem Schoß, um die
Geiseln zu bewachen. Seine Wunde am Arm hätten die israelischen
Soldaten verarztet.
Der
Nachbar sagt, sein Hebräisch sei gut genug gewesen, um mit den
Soldaten ins Gespräch zu kommen. Gut genug, um zu verabreden, wer
auf die Toilette gehen durfte oder in die Küche. Zu essen habe es
nichts gegeben, jedoch zu trinken. Sein Hebräisch, sagt der Nachbar,
habe auch gereicht, um den Funkverkehr der Soldaten zu verstehen. Der
Funker habe draußen direkt vor dem offenen Fenster gestanden. Zwar
habe er ihn nicht sehen können, aber er habe die Stimmen
verschiedener Soldaten, die über Funk mit dem Kommandeur sprachen,
deutlich gehört. In dem Gespräch, das am Freitagmittag stattfand,
habe eine Stimme gesagt: "Da kommt ein Wagen. Was sollen wir
tun?" Eine andere Stimme habe geantwortet: "Schießen!"
Ob
er sich sicher sei? Ja. Keine Warnung? Keine Warnung. Danach, sagt
der Nachbar, habe sich die erste Stimme wieder gemeldet: "Schon
erledigt." Dass die Worte "schon erledigt" Mohammed
Shurab galten, habe er nicht geahnt.
Captain
Rutland kann sich zu den Ereignissen vom 16. Januar nicht äußern.
Was immer es an entlastenden Erklärungen geben könnte, an Gründen
für die Schüsse auf Mohammed Shurab und seine Söhne, er kann nicht
darüber sprechen, bis die internen Ermittlungen der Armee
abgeschlossen sind. Vielleicht hatten die Soldaten auf Befehl
gehandelt, wie es der ängstliche Nachbar erzählt. Vielleicht auch
nicht. Vielleicht waren es junge Soldaten, die das Auto auf sich
zufahren sahen. Vielleicht waren sie unerfahren und schossen deshalb.
Vielleicht waren es ältere Soldaten. Vielleicht waren sie erfahren
und schossen deshalb. Vielleicht war es ein Fehler, begangen aus
Müdigkeit oder Angst. Vielleicht hatte die palästinensische
Organisation Hamas an diesem Tag an einem anderen Ort den
Waffenstillstand gebrochen. Vielleicht waren die Soldaten angegriffen
worden. Vielleicht hatten sie Freunde verloren.
Damit
wäre vielleicht der erste Beschuss zu erklären, die Kugel, die
Mohammeds linken Arm traf. Vielleicht war es ein weiterer Irrtum,
Kassab zu erschießen, den Sohn, der aufrecht aus dem Auto gestiegen
war. Und vielleicht lässt sich so erklären, warum der zweite Sohn,
Ibrahim, am Bein getroffen wurde.
Um
13.30 Uhr rief der Onkel einen Rettungswagen - und wurde vertröstet.
Aber
die Geschichte hat noch einen zweiten Teil. Noch lag der Vater an
jenem Freitagmittag mit seinem verwundeten Sohn Ibrahim auf der
Straße, etwa vierzig Meter vom Gebäude mit den Soldaten entfernt. "
Das waren ja Menschen, die Israelis", sagt Mohammed Shurab, er
spricht immer von "Israelis". Kein einziges Mal bei all den
Begegnungen, in den Gesprächen, die sich über Stunden ziehen, nie
verwendet er das Wort "Juden". Die Israelis, sagt er, die
waren ja nah, er konnte sie sehen.
"Ibrahim
hat gefleht, er brauche Hilfe", erzählt Mohammed Shurab, "aber
die Soldaten haben ihn angeschrien: Hör auf zu weinen, sonst
erschießen wir dich." Ibrahim versuchte, mit seinem Handy einen
Krankenwagen zu rufen, 1-0-1, aber, so erinnert sich der Vater, ein
Soldat habe gebrüllt: "Wenn du das Handy benutzt, erschießen
wir dich." Eine halbe Stunde vielleicht lagen sie auf der
Straße, wenige Meter voneinander entfernt. Gegen 13 Uhr klingelte
plötzlich Ibrahims Handy. Obwohl es ihm verboten war, nahm der
verwundete Junge den Anruf an: Sein Onkel Ibrahim, Mohammeds Bruder,
erkundigte sich ahnungslos, wann sie zu Hause einträfen.
Ibrahim,
der den Erinnerungen seines Bruders Mohammed wortlos zugehört hat,
erzählt jetzt, da er selbst zum Zeugen der Geschehnisse wird, seinen
Teil der Geschichte. Es war ungefähr 13.30 Uhr an diesem 16. Januar,
als er zu versuchen begann, seinen Bruder Mohammed und dessen Sohn zu
retten. Er alarmierte die Notrufstelle der Ambulanz in der Stadt Khan
Younis und die Rettungsdienste des Roten Halbmonds. Er hielt es zu
Hause nicht mehr aus, sondern machte sich sofort auf den Weg zu dem
Parkplatz, wo die Krankenwagen standen. Er wollte dabei sein, wenn
die Ambulanz losfuhr. Er würde nicht lange warten müssen, habe er
gedacht, der Rote Halbmond ist eine der Partnerorganisationen des
Internationalen Roten Kreuzes und hat damit die besten Kontakte, um
bei den Israelis eine Genehmigung für die Evakuierung von
Verwundeten zu bekommen.
Anne
Sophie Bonefeld vom Internationalen Roten Kreuz in Jerusalem kann zu
konkreten Fällen nichts sagen. Das ist die offizielle Politik ihrer
Organisation, Bonefeld ist die Medienbeauftragte. Wann das Rote Kreuz
den Notruf zur Evakuierung von Mohammed und Ibrahim Shurab erhalten
hat? Kann sie nicht sagen. Bonefeld erklärt die normale Prozedur
während eines Krieges, der kaum normale Prozeduren zuließ. Sie
sagt: "Üblicherweise erhielten wir Anrufe wegen ganz
unterschiedlicher Notlagen: Familien wollten aus Gegenden evakuiert
werden und brauchten sicheres Geleit. Oder es gab Notrufe, um
Verwundete zu retten." Der Rote Halbmond rief beim
Internationalen Roten Kreuz an und bat um Schutz, und das Rote Kreuz
setzte sich mit den israelischen Behörden in Verbindung, um eine
Genehmigung zu bekommen. Bonefeld sagt: "Alles, was wir dann tun
konnten, war, auf grünes Licht zu warten." Wie lange konnte das
dauern? " Manchmal Stunden. Manchmal Tage."
Um
14 Uhr begann der Vater zu beten. Sein Sohn hörte nicht auf zu
bluten.
Mohammed
Shurab, der mit seinem verwundeten Sohn auf der Straße lag, ahnte
nichts von diesen Verwicklungen. Er wusste nur, dass sein Sohn Hilfe
brauchte. Er habe auf Hebräisch gerufen: "Bitte, Soldat, ruf
einen Krankenwagen." Er schaut ins Leere, noch immer erzählt er
die Geschichte fragend, als ob er in der Wiederholung irgendwann eine
Erklärung entdecken könnte. Konnte es wahr sein, dass diese
Menschen das Leid nicht sahen? Denn Menschen, das waren sie doch,
diese Soldaten, die da am eisernen Tor vor dem zweistöckigen Gebäude
standen. Gegen 14 Uhr begann Mohammed Shurab zu beten. Sein Sohn war
inzwischen näher an ihn herangerobbt. Er lag zwischen seinen Beinen.
" Vater, bitte", habe Ibrahim gesagt, "ruf Hilfe."
Wieder und wieder habe der Junge diesen Satz gesagt, erinnert sich
der Vater.
"Die
erste Stimme hat dann noch mal nachgefragt", sagt der Zeuge im
Nachbarhaus: "Sollen wir helfen?" Die Antwort sei "Nein"
gewesen, "die sollen sich selbst helfen". Wie viel Zeit
zwischen den Schüssen und dieser Frage vergangen sei? " Nicht
viel."
"Für
diese Offensive wurde extra ein humanitäres Koordinierungsbüro
eingerichtet", sagt Captain Rutland von der israelischen Armee.
" Natürlich waren wir generell immer darum bemüht, den
Ambulanzwagen Zugang zu den Gegenden zu verschaffen, an denen jemand
gerettet werden musste. Aber wenn es Kämpfe in der Gegend gab, dann
konnten wir diesen Zugang nicht autorisieren."
Waren
nicht auch die Soldaten dazu verpflichtet, Verletzten zu helfen,
unabhängig vom Roten Kreuz? " Doch. Unsere Soldaten und
Sanitäter sind selbstverständlich so ausgebildet, dass sie
Verwundete bergen und verarzten. Aber wenn es Gefechte gibt, ist es
ihre oberste Pflicht, sich selbst zu verteidigen." Ob es am
Freitag, dem 16. Januar, Gefechte in der Umgebung des Dorfes al
Foukhary gab, darf Captain Rutland nicht sagen.
Von
Kämpfen an jenem Tag weiß niemand im Dorf. Nicht Mohammed Shurab.
Nicht Ibrahim, sein Bruder. Nicht Amer Amira al Amour, der erste
Zeuge. Der Osten, die Gegend von Khouza, sei ein umkämpftes Gebiet
gewesen, aber im Dorf al Foukhary sei es ruhig geblieben. Unabhängig
verifizieren lässt sich das nicht. Auch das Internationale Rote
Kreuz kann sich dazu nicht äußern.
Um
14.30 Uhr hatte Ibrahim, der Onkel des verletzten Jungen, noch immer
keine Bestätigung des Roten Kreuzes, dass ein Rettungswagen
losfahren werde. Eine Stunde war seit dem ersten Notruf vergangen.
Auf eigene Faust, mit einem örtlichen Ambulanzfahrer, versuchte
Ibrahim nun, seinen Bruder und seinen Neffen zu evakuieren. Sie kamen
bis ans Rondell, wenige hundert Meter von Mohammed und Ibrahim
entfernt. Die Panzer waren noch immer da. Nur noch einmal abbiegen,
und der Ambulanzwagen wäre am Ziel gewesen. Weil der Fahrer aber
keine Erlaubnis erhielt, wagte er es nicht, sich den Verwundeten zu
nähern. Im Krieg ist auch ein Rettungswagen keine Garantie, nicht
beschossen zu werden.
Anne
Sophie Bonefeld vom Internationalen Roten Kreuz sagt, Furcht sei da
verständlich. " Viele der Fahrer vom Roten Halbmond haben bei
ihrer Arbeit ihr Leben riskiert." Immer wieder mussten
Rettungsversuche abgebrochen werden, weil plötzlich geschossen
wurde. Ohne Genehmigung der israelischen Behörden konnte es kein
Sanitäter wagen, einem Menschen in Not zu helfen.
Warum
die Genehmigung auf sich warten ließ, kann niemand sagen. Jede halbe
Stunde, erzählt Ibrahim, der Onkel, habe er beim Roten Halbmond
angerufen. Jede halbe Stunde wurde ihm gesagt, es werde daran
gearbeitet. Gegen 17 Uhr erhielt der Onkel die Auskunft, dass er auf
einen Rettungswagen nicht mehr hoffen könne. Die Genehmigung war
noch immer nicht erteilt, und der Rote Halbmond rechnete nicht mehr
damit, dass sie nun, nach Einbruch der Dunkelheit, noch komme.
Ibrahim
rief seinen Bruder Mohammed an und sagte, dass er nichts mehr tun
könne. Mohammed sei nun auf sich allein gestellt, allein mit den
israelischen Soldaten. " Es waren ungefähr vier", erinnert
sich Mohammed Shurab, "die standen am Gartentor." Sein Sohn
war noch ansprechbar. Als es dunkel war und die Kälte hereinbrach,
zog der Vater den Jungen in den Wagen, um ihn zu wärmen. Er musterte
die Soldaten vor dem Haus. Was taten sie die ganze Zeit?
Aus
einem Loch in der Wand im ersten Stock des Hauses kann man die kleine
Straße gut überblicken. Das Loch wurde auf der Höhe des Fußbodens
von innen in die Mauer geschlagen, sodass man im Liegen auf die
Straße schießen kann. Auf dem Boden vor dem Loch liegen noch immer
Zigarettenstummel im Sand, die Reste von Zigaretten der Marken Kent
und Next.
Die
Besitzer des Hauses rauchten nicht. Sie waren vor dem 16. Januar
geflohen. Ob von hier aus geschossen wurde, vom improvisierten
Schießschacht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Oben auf der
Dachterrasse wurde ein weiteres Loch in die Mauer geschlagen, etwas
größer. Davor liegen grüne, mit Sand gefüllte Plastiksäcke. Mit
Sicherheit lässt sich nur sagen, dass die Sicht von hier aus
ungehindert war. Dass man von hier erkennen konnte, ob der Mann mit
dem blutenden Sohn im Arm bewaffnet war oder nicht.
Vielleicht
haben sich die Soldaten einfach gelangweilt. Warum sonst sollten sie
das Büro mit all den Büchern im ersten Stock verwüstet haben?
Warum sonst sollten sie die Krawatten im Kleiderschrank des
Schlafzimmers abgeschnitten haben? Die halbierten Schlipse hängen
noch immer aufgereiht im Schrank. Und warum sonst sollten sie die
Graffiti an der weißen Wand neben der Küche hinterlassen haben? "
Kahane hatte recht" steht da auf Hebräisch, in Erinnerung an
den Rabbi Meir Kahane, der von einem Groß-Israel träumte und der
jeden Araber dazu zwingen wollte, sein Land aufzugeben.
Am
Abend telefonierte der Vater mit der BBC, danach starb sein Sohn.
Es
war kurz nach 17 Uhr an jenem Freitag, dem 16. Januar. Ibrahim, der
Onkel, wartete mit den Fahrern im Aufenthaltsraum des Krankenhauses,
als einer der Sanitäter auf eine Idee kam. " Er schlug mir
vor", sagt der Onkel, "Mohammeds Handynummer an die Medien
zu geben, damit die vielleicht etwas ausrichten konnten." Von
nun an ging Mohammed Shurab ans Telefon, wann immer es klingelte. "
Es war mir egal, ob die israelischen Soldaten mich erschießen
würden", sagt er. Mohammed Shurab sprach in diesen Stunden mit
Reportern von Al Jazeera, Al Arabia, BBC. Er kann sie gar nicht mehr
alle aufzählen, so viele Journalisten meldeten sich bei ihm. Jedem
Anrufer berichtete der Vater, was vorgefallen war und wo er lag und
dass sein Sohn Ibrahim noch immer blutete. Stunde um Stunde verging,
die Nacht kroch ins Dorf, und fremde Menschen wurden Ohrenzeugen
eines unfassbaren Schicksals in einem palästinensischen Irgendwo.
"Es
wurde kälter", sagt Mohammed Shurab, "ich habe Ibrahim den
Rücken gerieben, um ihn warm zu halten." Er führt es noch
einmal vor, wieder und wieder dieselbe Handbewegung. " Ich habe
gesagt: Bitte, Soldat, gib uns eine Decke. Wenigstens eine Decke. Die
Nacht ist so kalt." Ibrahim, der Sohn, wurde stiller. Ibrahim
habe nicht mehr viel gesprochen, nur gefragt: "Warst du
zufrieden mit mir, Vater?" Immer wieder habe der Vater
zurückgefragt: "Bist du noch bei Bewusstsein, Junge?"
Gegen
Mitternacht, erinnert sich der Vater, habe sein Sohn so still
dagelegen, dass nichts mehr von ihm zu hören war, nicht einmal
Atemgeräusche. " Ich habe ihm die Stirn gefühlt", sagt
Mohammed Shurab, "sie war noch warm. Ich habe den Puls gefühlt.
Aber er war fort."
Einen
halben Tag lang hatte Mohammed Shurab mit seinem Sohn auf der Straße
gelegen, dann war Ibrahim verblutet. Ein halber Tag, an dem niemand
zu Hilfe kam. Vielleicht gab es Gründe, gute oder schlechte, für
den Beschuss des Wagens. Vielleicht gab es Gründe, gute oder
schlechte, für die Schüsse auf Kassab, für die Schüsse auf
Ibrahim. Es mag Absicht gewesen sein oder ein Irrtum. Es war Krieg in
Gaza. Und im Krieg wird gestorben. Aber zu jeder Stunde nach dem
Beschuss hätte Ibrahim Shurab gerettet werden können.
Irgendwann
in jener Nacht, erinnert sich Mohammed Shurab, kamen die Soldaten aus
dem Haus und zogen an ihm vorbei. Zweimal, sagt Mohammed, seien sie
in Marschordnung an ihm vorübergezogen, als gehörten er und seine
toten Söhne zur Kulisse. " Sie hatten zwei Sanitäter",
sagt Mohammed Shurab.
"Ich
war verzweifelt", sagt er, "als irgendwann Tom anrief."
An die genaue Uhrzeit erinnert er sich nicht. " Es war spät."
Der
32-jährige Tom Menahe von der Organisation Physicians for Human
Rights erinnert sich. Es war 1 Uhr in der Nacht, als er durch den
Anruf einer Freundin aus Gaza von Mohammed Shurab erfuhr. Tom Menahe
wählte sofort die Nummer, die er erhalten hatte, und Mohammed Shurab
meldete sich, aber da war sein Sohn schon nicht mehr am Leben. "
Wir haben die ganze Nacht gesprochen", erinnert sich Tom Menahe
in seinem Büro in Tel Aviv. Helfen konnte er nicht mehr, nur
trösten. " Wir haben geredet und geweint." Immer wieder
legte er auf und rief Mohammed aufs Neue an. In den Gesprächspausen
versuchte er, die israelische Koordinierungsstelle für
Rettungseinsätze zu erreichen. " Mein Ansprechpartner dort war
ein Barak. Wieder und wieder habe ich ihm erklärt, dass da noch
immer ein verwundeter Mann liegt, Mohammed, der friert und blutet.
Und dass sie einen Rettungswagen schicken müssen. Barak behauptete,
es gebe Probleme mit dem sicheren Zugang." Tom Menahe schüttelt
den Kopf. " Ich konnte doch bei jedem Telefonat mit Mohammed die
Stille der Nacht um ihn hören."
Am
nächsten Mittag kam ein Rettungswagen und barg die Toten.
Wenn
Mohammed Shurab von dieser Nacht erzählt, von den Stunden, in denen
Ibrahim tot in seinen Armen lag, dann erzählt er vor allem von Tom,
diesem jungen Israeli aus Tel Aviv, dem liebevollen Zuhörer von der
anderen Seite, dem Menschen, der dieselbe Staatsangehörigkeit
besitzt wie die Soldaten, die seine Söhne töteten. Und nichts daran
kommt Mohammed Shurab sonderbar vor. Diese Menschlichkeit, das ist
es, was er erwartet von seinen Nachbarn. Das ist es, was er ihnen
zutraut, Israelis wie Palästinensern. Wie wäre der Tag verlaufen,
wenn Mohammed Shurab dieses Vertrauen nicht gehabt hätte? Oder wenn
die Soldaten auf der anderen Seite ebendieses Vertrauen gehabt
hätten? Ob dann alles anders ausgegangen wäre?
Mohammed
Shurab und Tom Menahe sprachen miteinander bis halb acht am Morgen.
Es war schon wieder hell, als sie sich voneinander verabschiedeten.
Der Akku in Mohammed Shurabs Handy war leer. Es vergingen noch einmal
fünf Stunden, bis ein Rettungswagen kam. Es war Samstag, der 17.
Januar 2009, es war Mittag, 12.30 Uhr, als Mohammed Shurab mit den
Leichen seiner beiden Söhne zum European Hospital nach Khan Younis
gebracht wurde. Einen Tag lang hatte er auf Hilfe gewartet.
Der
Krankenwagen bog am Rondell links ab. An der Kreuzung, vor der
Mohammed Shurab am Tag zuvor mit seinem roten Jeep gestanden hatte,
nahm der Fahrer die Straße nach Norden. Da lag auch gleich das
Krankenhaus. Die Fahrt dauerte vier Minuten.
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