Was macht eine gute Reportage aus? „Spiegel“-Redakteur Cordt Schnibben über ein chronisch modernes Genre
28 Reportagen aus 14 Jahren, versammelt im Buch „Wegelagerer“, was verbindet diese Geschichten?
Gute Reportagen fangen die Zeit ein, sehr gute Reportagen frieren die Zeit ein, und wenn man sie auftaut, Jahre später, dann sind sie immer noch so wahr, wie sie waren, als sie geschrieben wurden. Vor sechs Jahren zum Beispiel hat Matthias Geyer den aufstrebenden Politiker Guido Westerwelle zu Hause besucht, einen Abend lang hat der über seine Gemälde an der Wand und über seine Stoppersocken gesprochen, Geyer ist unserem heutigen Außenminister so nahe gekommen wie seither kein Reporter, und darum enthält sein Porträt mehr Wahrheit über Guido Westerwelle als die Porträts, die Westerwelle – inzwischen routiniert in der Vermeidung von Nähe – heute zulässt. Einen Moment der Wahrheit einzufangen und einzufrieren, der etwas Wichtiges erzählt über die Menschen, über die Geschichte, über die Welt, das ist die Aufgabe der Reportage und das verbindet diese Texte.
Ist „Wahrheit“ nicht ein etwas zu stolzer Begriff für schön zu lesende Reportagen?
Martin Walser hat über unsere Reportagen aus dem Irakkrieg geschrieben, sie lieferten eine „Tatsachennähe, die nicht zur Meinung schrumpft, sondern zur Erfahrung wird“, besser kann man nicht sagen, was eine gute Reportage leisten muss. Jede gute Reportage beginnt mit guter Recherche, nicht nur schöne Sprache macht eine Reportage gut, sondern die Geschichte, die mit der schönen Sprache erzählt wird.
Wenn man diese „Spiegel“-Reportagen nacheinander liest, dann dominieren da bestimmte abgeklärte, düstere, fast existentialistische Stimmungen. Woher kommt das?
Ich glaube, dass alle guten Reporter ein Problem mit sich selbst haben. Sie erzählen die Geschichte anderer Menschen, darum geht es ja immer in der Reportage, sie kriechen in andere Menschen hinein, um auch etwas über sich selbst zu erfahren, auch deshalb, weil sie sich nicht mit sich selbst beschäftigen wollen. Sie sind auf einer großen Expeditionsreise zu sich selbst, jede Reportage, jede Geschichte eines Menschen ist eine Etappe der Selbsterkenntnis.
Wie kamen Sie eigentlich zur Reportage?
Mein erster Job bei der „Zeit“ war im Reiseteil. Da habe ich versucht, untypische Reisegeschichten zu finden, also mit den ersten westlichen Reisenden nach Vietnam zu kommen, als sich das Land gerade öffnete, oder ich habe in Istanbul bei zwei türkischen Familien gelebt, bei einer aus der Oberschicht und bei einer, die in einem Slum lebte. Das war Mitte der achtziger Jahre, da waren Reportagen in der „Zeit“ nicht sehr geachtet, die galten als zu unintelligent, wer intelligent war, schrieb Leitartikel, Analysen, Dossiers. Die Reportage galt als oberflächlich, Reporter hatten den Ruf von reisefreudigen Flaneuren.
Wie hat sich das Genre denn seitdem verändert?
Die Entdecker sind dabei, die Tautologen zu verdrängen. Die Tautologen, das sind die Edelfedern und die Schönschreiber, die glauben, allein die Kraft ihrer Sprache reicht, um immer wieder dieselben Geschichten erzählen zu können, vom Tod, vom Verbrechen, vom Alkohol, Geschichten aus dem Altersheim, dem Arbeitsamt, der Bahnhofsmission, diese Sozialreportagen, die heute jeder Computer von allein schreiben kann. Bis zu diesem Jahr saß ich ja in der Jury des Egon-Erwin-Kisch-Preises und konnte in den letzten beiden Jahrzehnten beobachten, wie sich unter den besten Reportern der Republik immer mehr Entdecker profilierten, Reporter also, die an ihre Texte kommen durch einen investigativen Spürsinn für das Unerzählte.
Man liest viele Reportagen aus dem Krieg, aus der weiten Welt, aber nie beispielsweise aus Dänemark oder Belgien. Woran liegt das?
Das ist der heroische Impetus der Reporter. Man will dort sein, wo sich die Gischt der Geschichte bricht. Kisch hat damals vom gesellschaftlichen Experiment in der Sowjetunion erzählt, aus dem dynamischen Amerika, vom Aufbruch in Asien, und heute ist Asien wieder ein großer Steinbruch für Geschichten, aber auch die Hirnforschung oder die Finanzwelt.
Die Sujets vieler Reportagen stammen ja noch aus der guten alten Männerwelt: Boxen, Krieg, Industriekapitäne, und es gibt immer noch wesentlich mehr Reporter als Reporterinnen.
Das verstehe ich auch nicht. Eigentlich haben Frauen bessere Voraussetzungen für den Beruf des Reporters, jeder Mann erzählt seine Geschichte lieber einer Frau, und jede Frau doch sowieso. Wir haben viele Reporterinnen, die in Krisengebiete wollen. Derzeit werden in den Journalistenschulen zwei Drittel Frauen aufgenommen und nur ein Drittel Männer, das wird sich also sehr bald ausgleichen.
Wer eignet sich zum Reporter?
Man muss sich für andere mehr interessieren als für sich selbst. Man muss es mögen, unter extrem unbequemen Bedingungen zu leben, um eine Geschichte zu recherchieren. Man darf kein Angeber sein, der andere einschüchtert, denn dann erfährt man nichts. Man muss sich für das Detail interessieren und weniger für die große These.
Der Mythos will ja, dass es eine harte, vor allem aber eine einsame Arbeit zu sein hat.
Das kommt auf das Thema an. Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, ein sehr großes Thema wie den 11. September, den Irakkrieg oder die Finanzkrise im Team zu erzählen, weil nur so die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit erzählt werden konnte. Der durch die Welt ziehende einsame Cowboy ist da überfordert. Die moderne Reportage braucht die Gang und den Einzelgänger.
Wie wirkt sich das Internet aus?
Es verändert die Arbeit stark. Man kann Blogger vor Ort als digitale Stringer nutzen, so dass der Leser sich irritiert fragt: War der nun selber da oder nicht? Kisch hatte diese Möglichkeit nicht, der konnte sich keine Information ergooglen.
Dann müsste der Reporter ja eigentlich gar nicht mehr reisen. Oder was genau würde dem Leser fehlen?
Der Leser will die Authentizität, die aus gelebter Zeitzeugenschaft resultiert. Ein Reporter soll mir als denkende Kamera vermitteln, was er erlebt hat, so dass ich das Gefühl habe, dabei gewesen zu sein. Das ist wie bei einem Unfall, den man im Vorbeifahren sieht: Man will alles wissen, Teil werden eines Vorgangs, der eigentlich schon abgeschlossen ist.
Wird jeder Reporter bald mit Kamera unterwegs sein und seine Erlebnisse direkt online stellen?
Print und Online können sich ergänzen: Ullrich Fichtner erlebte ein Attentat auf Karzai in Kabul und berichtete darüber fast in Ist-Zeit für „Spiegel Online“. Für die Reportage im Heft bezog er die Sicht der Aufständischen mit ein, die diesen Anschlag geplant hatten, wechselte also die Perspektive.
Der „Spiegel“ ist ja ein Nachrichtenmagazin. Warum bringt der überhaupt lange Reportagen?
Rudolf Augstein hat den „Spiegel“ im Nachkriegsdeutschland angloamerikanisch angelegt; investigativ, einordnend, erzählerisch, das sind die drei Elemente des „Spiegel“-Journalismus, die Nachrichtenstory ist ja eine erzählte Nachricht, und die große Reportage lieferten Marie-Luise Scherer, Hermann Schreiber, Jürgen Leinemann und andere. In den letzten Jahren hat es eine Rückbesinnung auf diese Gründungstugenden gegeben, gefördert von den Chefredakteuren Stefan Aust und Joachim Preuß und ihren Nachfolgern Georg Mascolo und Matthias Müller von Blumencron, und davon profitieren auch die Reporter.
Sie haben sicher mehr Reportagen gelesen als jeder andere. Gibt es Sätze, die eine Reportage für Sie sofort disqualifizieren? Wenn die ersten drei Sätze einer Reportage es nicht schaffen, meine Neugier zu wecken, hat sich die Reportage disqualifiziert. Da habe ich sofort den Verdacht, hier hat einer nicht gut gedacht, beobachtet, geschrieben. Eine gute Reportage ist wie ein Labyrinth ohne Fenster und Türen, sie hat mich hereingelockt und gibt mir nur eine Chance, ihr zu entkommen, am Ende des letzten Satzes.
Es gibt Reportagen aus fast allen gesellschaftlichen Bereichen, dem Sport, der Wirtschaft, dem Alltag, aber selten aus Kunst und Kultur. Wie kommt das?
Da ist oft die filmische Reportage besser. Wenn ich die Entstehung eines Gerhard-Richter-Gemäldes dokumentieren will, über Jahre, geht das mit den Mitteln des Films besser. Das ist der eine Grund. Der zweite: Der Kulturreporter ist meinungsstark, er will bewerten, nicht erzählen, er will keine Reportage schreiben, sondern eine Kritik. Der dritte Grund: Der Kulturreporter liebt es, sprachlich zu flanieren, er will nicht durch Recherche beeindrucken, sondern durch Beobachtung, Gedanken, Sätze. Und mit allem, wenn er es kann, hat er recht.
Interview Nils Minkmar
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