Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Fischers
viertes Leben
In Berlin sieht
man ihn selten, und wenn, dann mäßig gelaunt im Schlepptau seiner
glamourösen Frau. Joschka Fischer ist jetzt Berater. Ist es dem
ehemaligen grünen Außenminister gelungen, sich noch einmal neu zu
erfinden?
Von Tina
Hildebrandt, Zeit Magazin, 26.08.2010
Das erste
Wiedersehen endet gewissermaßen klassisch, also mit einer
Beschimpfung. Hochgezogene Augenbrauen, Entrüstung. »Ich wusste
es«, schnauft der frühere Außenminister, der Zeigefinger fährt
anklagend nach vorn, »Sie sind auch so eine. So eine -
Schnarchnase!« So eine Schnarchnase, die nicht begriffen hat, dass
es nur zwei Möglichkeiten gibt: Krieg oder Europa. Die den
dramatischen historischen Moment nicht erfasst. In dem es nicht darum
geht, wie man die Griechen dazu bringt, ein effizientes Sparprogramm
aufzulegen oder die Regeln zu retten, die einmal für die EU gemacht
wurden, sondern um alles oder nichts. Eine Schnarchnase, die auch
noch lacht, wenn man ihr all das ins Gesicht sagt. Unglaublich. Was
ist das bloß für eine Generation? Kopfschüttelnder Joschka
Fischer.
14. April 2010: Vor
zwei Tagen ist der Metzgerssohn Joseph Martin Fischer, genannt
Joschka, ehemaliger Sponti, Schläger, Turnschuh- und Außenminister,
Vizekanzler, fünffacher Ehemann, dreifacher Vater, Großvater, der
wahrscheinlich interessanteste lebende deutsche Politiker, 62 Jahre
alt geworden. Oder müsste man sagen: Expolitiker?
Es sollte eine
Reportage über Joschka Fischers viertes Leben werden. Wie wird ein
Revolutionär alt? Was macht so einer, wenn er aufhört? Wo geht die
Energie hin bei jemandem, dessen Bühne die Republik und dessen Leben
die Politik war? Fünf Jahre ist es jetzt her, dass Fischer sein
drittes Leben beendet hat, das Leben als Berufspolitiker, die Tür
zugemacht, den Schlüssel umgedreht und weggeworfen hat, wie er sagt.
Als drinnen im Auswärtigen Amt alle darauf warteten, den Chef zu
verabschieden, hat er den Hinterausgang genommen, ist in den Polo
seiner Frau gestiegen und weggefahren, nach Hause, Kaffee trinken.
Ohne die »traute Zweisamkeit zu siebt«, wie er das Leben mit der
Sicherheit sarkastisch genannt hat. Er hat ein Haus im Grunewald
gekauft, ist als Gastdozent nach Princeton gegangen, hat dort die
deutsche Wurst vermisst und gemerkt, dass Amerikaner anders, aber
auch ganz anders sind als die Deutschen, und ist zurückgekommen.
Jetzt ist er
Unternehmer. Die Firma heißt Joschka Fischer and Company. Fischers
Partner ist der frühere Pressesprecher der Grünen-Fraktion, Dietmar
Huber, außerdem hat Fischer seine langjährige Sekretärin Sylvia
Tybussek mitgenommen, mit der er schon die Grünen und diverse
Untersuchungsausschüsse durchgestanden hat (daran merke man
übrigens, dass man echt raus sei, hat Fischer neulich zu seiner Frau
gesagt: kein Untersuchungsausschuss mehr). Wer einmal zu Fischers
Clan dazugestoßen ist, durchs Rüpelbad gegangen und gemerkt hat,
dass der Mann mit den gelegentlich demonstrativ schlechten Manieren
auch ganz anders kann, der bleibt meist aus echter Hingabe dabei.
Sein Unternehmen
logiert am Gendarmenmarkt, ein großes Schild sucht man vergebens. Am
Eingang weist, sehr amerikanisch, ein freundlicher Portier den Weg in
die oberen Etagen. Schwarzes Leder, viel Chrom, leere Regale, wenige
Bilder, alles riecht neu, sieht neu aus, nach Kulisse. Zeit seines
Lebens war Joschka Fischer berühmt für seine schlechte Laune. Schon
in der WG mit Daniel Cohn-Bendit in Frankfurt konnte er die
schlechteste Laune der Welt haben. Man ließ ihn dann besser allein.
Später als Außenminister ließ er Spiegel- Reporter, die ihm in den
Urlaub zum Sommerinterview nachreisten, stundenlang bei einer halben
Birne und einer Flasche Wasser schmachten und nannte das Ganze dann
sardische Vorspeise. Gesprächspartner, sofern sie von der Presse
sind, nennt er gerne Nasenbären oder Fünf-Mark-Nutten. Sagenhaft
auch Fischers Leibesumfang als solcher und als Metapher, über den er
selbst ganze Bücher verfasste (Mein langer Lauf zu mir selbst). In
letzter Zeit war zu hören, Fischer sei wieder ganz schön dick
geworden.
Da sitzt er also im
Designerfauteuil, kariertes Hemd, dunkler Anzug, schaut mäßig
interessiert, mitteldick, mittelgut gelaunt. Nein, über sein viertes
Leben will Fischer eigentlich nicht sprechen und auch nicht über
sein Unternehmen. Mitnehmen will er schon gar keinen, nicht mal zu
Vorträgen. Keine Reportage also, allenfalls ein Gespräch. Es werden
dann drei.
Das ungeschriebene
Gesetz jeder Fischer-Begegnung verlangt, dass erst mal die Fronten
geklärt und die Kräfte gemessen werden. »Was ihr nie verstanden
habt«, fährt Fischer also den Besucher an, »ich habe auch
furchtbar gelitten.« An den Medien, an der Partei. Die Grünen, die
immer aus Prinzip alles ganz anders machen wollten, Apfelsinenkisten
statt Podium, keine professionellen Lautsprecher, weils so kreativer
war, sodass er sich heiser brüllen musste. Dumme Journalisten, die
noch dümmere Fragen stellen, immer dasselbe. Klar, er sei an der
Politik auch gewachsen. Aber Außenminister, das sei der permanente
»Alert-Status«. »Mit der Zeit wird auch der Stärkste nicht
besser«, sagt Fischer. Das sei vom System so gewollt. Der Stärkste,
versteht sich, das ist er.
Wenige glückliche
Momente habe er in seinem dritten Leben erlebt, dafür viele
historische. Den Kosovokrieg, natürlich, in den sie eintreten
mussten, Schröder und er, noch bevor sie im Amt waren, weil sie
sonst gar nicht erst ins Amt gekommen wären. Am meisten berührt,
sagt Fischer, habe ihn die deutsche Einheit. Die Einheit, die er
gefürchtet hat. Sein größter Irrtum. Deutschland, sagt Fischer
heute, habe sich als sympathische Demokratie erwiesen, als
liebenswürdiges Land.
Das dritte Leben,
das als Politiker, begann 1985 mit dem Eintritt in die hessische
rot-grüne Koalition unter Holger Börner. Ein bewusster Entschluss
sei das gewesen. »Ich wusste, dass ich eine Lebensentscheidung
treffe. Mir war sehr klar, dass ich nicht der bleiben kann, der ich
bin«, sagt der Mann, der doch darauf beharrt, immer derselbe
geblieben zu sein. Vielleicht meint er: nicht mehr sich allein zu
gehören. Denn die Politik zu betreten bedeutet, die Öffentlichkeit
zu betreten. Das heißt, zumindest zu großen Teilen ein sichtbares
Leben zu führen. Es heißt, auf viele Facetten zu verzichten, die
man auch in sich spürt, auf Optionen. Das, sagt Fischer, habe er auf
Dauer nicht gewollt.
»Macht gegen
Freiheit« tausche er nun, hat Fischer bei seinem Ausscheiden gesagt.
Jetzt sitzt er da und bemüht sich, Gelassenheit zu verströmen. Aber
muss er als Businessmann nicht doch wieder den angeblich so
verhassten dunklen Anzug tragen? »Glauben Sie bloß nicht, den habe
ich Ihretwegen angezogen«, sagt Fischer, er habe noch einen
wichtigen Termin. Was also ist jetzt seine Rolle? »Da ist die
Antwort ganz einfach: keine.« Kann man das, die Öffentlichkeit
einfach so verlassen? »Es ist einfacher, aus der Politik rauszugehen
als aus der Öffentlichkeit«, sagt Fischer. »Man kann die
Öffentlichkeit nicht betreten, und man kann sie nicht verlassen.«
Er plane seine Rollen nicht, habe er nie getan. Ist er einer, der
immer wusste, was er will? Nicht direkt, antwortet Fischer. »Es fügt
sich, wie es sich immer gefügt hat.«
In einer
wunderschönen Augustnacht habe es sich gefügt, dass er »die
Schnauze voll« gehabt und gleichzeitig »Erfahrung kumuliert« habe.
So sei aus Außenpolitik, grüner Technologie und Nachhaltigkeit ein
Geschäftsmodell entstanden. Und dann habe er mit seinem Partner
Dietmar Huber eben »ein paar Dinge klargezogen«, und sie hätten
sich »entschlossen, dass wir das Risiko eingehen und ins kalte
Wasser springen«.
Sein Unternehmen, so
viel ist bekannt, kooperiert mit dem der früheren US-Außenministerin
Madeleine Albright. Als Fotos aufgetaucht waren, auf denen Fischer
einen Polizisten schlägt und er als Außenminister fast zurücktreten
musste, hatte Albright nur gesagt: »Ich wusste, dass du ein böser
Junge warst - aber so böse?« Seither sind sie Freunde.
Zu Fischers Kunden
gehören RWE, BMW und Siemens. Was genau macht Fischer? Da wird er
schnell unwillig. »Was ist so mirakulös daran? Ich mache das, was
ich als Außenminister gemacht habe.« Aha. Deutsche Interessen
vertreten also, nur für Siemens? Verzweiflung über so viel
journalistischen Unverstand. Unternehmen hätten keine
außenpolitische Kompetenz, er schon. So einfach. So einfach?
Fischer hätte sich
vorstellen können, für die UN zu arbeiten, er wäre auch gerne zur
EU gegangen. Wenn die Regierung ein bisschen Arsch in der Hose gehabt
hätte, findet Daniel Cohn-Bendit, hätte sie Fischer statt Oettinger
den Posten als EU-Kommissar angeboten. Manche hätten ihn sich auch
als Nahostvermittler statt Blair oder als EU-Außenminister
vorstellen können. Fischer glaubt, das habe ihm letztlich Hartz IV
versaut.
Gerhard Schröder
legte, kaum aus dem Amt geschieden, seine Memoiren vor, schloss einen
Vertrag als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG, einer
Gesellschaft, die den Bau der sogenannten Ostseepipeline betreibt,
die Gas von Russland nach Deutschland liefern soll und die Schröder
noch als Bundeskanzler vorangetrieben hatte. Fischer genoss es, dass
alle ihn dafür lobten, es so ganz anders als Schröder gemacht zu
haben, so würdig. Jetzt arbeitet er, der Grüne, für einen
Automobilkonzern, einen Hersteller von Atomstrom und einen Betreiber
von Atomkraft und wirbt für Nabucco, eine Pipeline, die
nichtrussisches Gas durch Ost- nach Westeuropa leiten soll. Manch
einer sieht darin ein Duell mit seinem alten Freund-Rivalen Schröder.
In den Zeitungen tauchten manchmal Fotos auf, bei denen seine schöne
junge Gattin in Designermode in die Kameras lächelt. Fischer ist der
Herr daneben, der meistens eher missmutig schaut. Joschka habe seine
Ideale verraten und seine Partei, sagen seine Gegner, bei den Grünen
sind viele enttäuscht. Er sei doch wie Schröder, großes Ego,
opportunistischer Machtmensch. Der Herr Fischer sei beim Marsch durch
die Institutionen eben jetzt wirklich angekommen, stellen süffisant
die Konservativen fest. Bei einem Fest in Berlin zeigte RWE-Chef
Jürgen Großmann zu vorgerückter Stunde einmal mit dem Finger auf
Fischer und sagte weithin vernehmlich: »Den hab ich auch gekauft.«
Vom Sponti zum Trophy-Man?
Er mache nichts für
Unternehmen, sagt Fischer, er berate sie. Wo ist der Unterschied?
»Die Entscheidungen«, sagt Fischer, träfen andere, Ratschläge
könne man auch ablehnen. Überhaupt werde die Sache mit den
Kontakten überschätzt. Es gehe weniger um Kommunikation bei seinem
Geschäft, mehr um Analyse. Aber - »das ist Geschäft. Ich will
nicht drüber reden.« Macht das Geschäft Spaß? »Sehr.« Was macht
Spaß daran? »Die Arbeit.«
RWE berät er nur
für Nabucco, da legt er Wert darauf. Siemens nicht im Atomsektor.
Ist das nicht eine ziemlich, sagen wir, pharisäerhafte
Argumentation, eine, die der junge Fischer, mit Verlaub, jedem Gegner
krachend um die Ohren gehauen hätte? Sei ihm auch egal, brummt
Fischer. Siemens im Übrigen sei bei der Entwicklung spritsparender
Fahrzeuge und Elektroautos ein echter Motor des Fortschritts.
Typisch: Wo Fischer ist, ist die Spitze des Fortschritts. Ärgern ihn
die Vorwürfe? Nein, ärgern ihn nicht. Er ärgere sich nur über
Dinge, die zutreffen. Er sei sich »ziemlich treu geblieben«, sagt
Fischer. Punkt. Was schuldet ein Vizekanzler der Republik? Nichts.
Nada. Ein Kanzler aber schon, denn was Schröder gemacht hat, findet
Fischer nicht ganz lupenrein.
Für ihn sei die
politische Hygiene durch den zeitlichen Abstand gewahrt, den er
zwischen Abschied aus dem Amt und Ankunft im Geschäftsleben
eingehalten habe. Die Gesprächsatmosphäre nähert sich dem
Tiefpunkt, da kommt übers Handy eine tolle Nachricht rein.
Westerwelle hat der Bravo ein Interview gegeben. Über Hautprobleme
und Aufklärung. Der Außenminister. Sein Nachnachfolger. Der Bravo.
In der Euro-Krise. Kann man es fassen? Fischer mit einem Mal ganz
aufgekratzt, er wirkt glücklich. Der kann es nicht. Konnte es nie.
Wird es nie können. Ist und bleibt unreif. Auch so eine
Schnarchnase. Diese Schnarchnasen! Werden alles ruinieren!
Deutschland, Europa, die Welt! Es ist zum Verrücktwerden!
28. April, Hörsaal
3A der Heinrich-Heine-Uni Düsseldorf, an der Stirnwand fünf
Schiebetafeln im Halbrund. Der Projektor wirft große Namen auf die
Leinwand: Marcel-Reich-Ranicki, Helmut Schmidt, Avi Primor, Wolf
Biermann, Siegfried Lenz. Auf den Rängen drängen sich die
Studenten. »Ich hab mal den Papst beim Weltjugendtag gesehen«, sagt
einer mit langen Rastalocken zu einem Kommilitonen. »Ach, der Papst,
den kannste überall haben«, entgegnet der andere, »aber Fischer!«
Die Digitaluhr springt auf 16.02 Uhr, dann betritt Dr.h.c. Joschka
Fischer den Saal, grinst freundlich ins Publikum, blickt missmutig
auf die Fotografen und beginnt eine vergnüglich-sorgenvolle Suada.
Mal gibt er den Nostradamus, dann den Spitzendiplomaten von Welt,
dann wieder den alten Herrn, der eigentlich nur noch in Ruhe Tauben
auf dem Gendarmenmarkt füttern will. Er knöpft sich vor: die
»Schnösel« von der Bild- Zeitung (»da krieg ich Wut«) und ihre
Kampagne gegen Griechenland, die deutsche Regierung, die ihre
Führungsrolle in Europa verweigert (»ich kriege einen dicken Hals,
wie Sie merken«), und die europavergessene junge Generation (»ich
frage mich: Erkennen wir unsere eigenen Interessen nicht?«).
Höhepunkt der Veranstaltung: Joschka Fischer warnt die Jungen mit
milder Ironie davor, Typen wie er selbst zu werden: »Bestimmten
Beispielen solltet ihr überhaupt nicht folgen. Es gibt Teile meiner
Biografie, reden wir nicht drumrum, da gab es die Verführung zur
Gewalt.« Das aber sei überhaupt nicht nötig in Deutschland. »In
diesem Land kannst du alles erreichen. Es gibt eine Polizei, die
einen sogar unterstützt.« Begeistertes Gelächter im Saal.
Ist Fischer je ein
Revolutionär gewesen? »Ich weiß nicht«, sagt er. Anfang Juli, er
sitzt in einem Restaurant am Gendarmenmarkt. Eine Woche zuvor ist
Bundespräsident Wulff im dritten Wahlgang gewählt worden. Wulff,
der noch vor gar nicht so langer Zeit gegen Schröder Wahlkampf
gemacht hat mit dem Hinweis, dass einem Mann mit so vielen Ehen nicht
zu trauen sei, und der sich jetzt seiner Patchworkfamilie rühmt.
»Schauen Sie, mit den 68ern ist das ein Kreuz«, sagt Fischer, »um
uns zu bewerten, ist es zu früh.« Aufgewachsen im Schatten des
Krieges, des großen Verbrechens, denn darum ging es ja. »Ob man ein
Revolutionär gewesen ist, wenn man dafür ein Gespür hatte und sich
dagegen aufgelehnt hat und sich dabei auch vertan hat mit der
Missachtung des Parlamentarismus, ich weiß nicht.« Die dritte
Ringvorlesung an der Düsseldorfer Uni ist beendet, die Euro-Krise
fürs Erste abgewendet, aber Fischer ist nicht zufrieden, es arbeitet
in ihm. Seine Generation sei die letzte gewesen, die versucht habe,
Politik auf die Geschichte zu beziehen, sagt Fischer, immer sei man
in die Sinnfrage gestürzt worden. Die Konsequenz aus alldem: Europa.
Das müsse doch irgendwie in die Gene übergegangen sein, sagt
Fischer, er verstehe das einfach nicht, wieso das nicht so sei.
Draußen ist es
heiß, WM-Zeit, Fähnchen-Zeit. Singt er, wenn die Hymne gespielt
wird? Der große Europäer, plötzlich pampig: »Ich bin kein
Hymnensinger.« Warum nicht? »Entschuldigung, ich kann nicht
singen.«
Wie deutsch er ist,
stellte Fischer in seiner Freak-Zeit fest. Damals sei er mit drei
Freunden in die Camargue gefahren, um Skat zu spielen, es war das
Jahr, in dem die Sommerzeit eingeführt wurde. Man trank, feierte,
ließ die Bärte wachsen. Um zwei Uhr sah Fischer auf die Uhr und
befahl: «Jungs, Uhren umstellen!« Die Kirchturmuhr im Ferienort
ging natürlich noch drei Wochen später anders. Fischer würde nie
deutsche Fähnchen aufhängen, aber er mag das Leichte, das
Schwarz-Rot-Gold neuerdings hat, vor allem mag er, dass auch die
Türken und Araber deutsche Fähnchen aufhängen.
Ein ganz anderes
Land sei das Land seiner sogenannten revolutionären Dekade ja
gewesen, sagt Fischer, damals habe er ganz anders gedacht, gelitten,
gelebt. Das Land geändert zu haben, das sei die eigentliche Leistung
der 45er gewesen, der Leute wie Habermas und Schmidt. Wie deren
kleine Brüder seien die 68er gewesen, oder eben wie Söhne.
Ausgerechnet Schmidt, die Schmidt-Abneigung hatte ja die Grünen erst
möglich gemacht hat. Ist das also jetzt allen Ernstes die
Quintessenz: Ich und Schmidt, und danach kamen nur noch Weicheier?
Nein, im Gegenteil, er empfinde es als großen Fortschritt, dass die
Gräben zugeschüttet seien, sagt Fischer, dass politische
Auseinandersetzungen nicht mehr im Modus des Bürgerkriegs geführt
würden. Irgendwann gab es sogar so etwas wie ein Versöhnungsgespräch
mit Alfred Dregger, dem alten Stahlhelmer der hessischen CDU. »Als
ich Sie das erste Mal gesehen habe«, sagte Dregger zu Fischer, »da
dachte ich, Sie sind die fünfte Kolonne Moskaus.« - »Und ich
dachte, Sie sind die zivil gewandete Reaktion«, entgegnete Fischer.
Was will er mit der Anekdote sagen? »Die Gräben sind zugeschüttet,
das ist deutsche Geschichte.« Wann hat er eigentlich angefangen, das
Land liebenswürdig zu finden? Wisse er nicht mehr, brummt Fischer.
Im deutschen Herbst
jedenfalls sei das revolutionäre Jahrzehnt vorbei gewesen. Man
verkaufte die Marx-Engels-Ausgaben. Die einen gingen zum Bhagwan und
zogen sich in die neoromantische Innerlichkeit in fernöstlichem
Gewand zurück, Fischer fuhr Taxi, das zweite Leben begann, eine der
wenigen eher unpolitischen Phasen. Er hatte viel Zeit und wenig Geld.
Er dachte viel über sich selbst nach. »Born to be free«, das sei
immer sein Motto gewesen. »Und dann lande ich ausgerechnet in der
Berufspolitik«, sagt Fischer, die nicht viel Freiheit verspricht und
doch höchsten Lohn. »Du begibst dich freiwillig auf die Galeere und
lässt dich anschmieden, und das alles nur mit der vagen Hoffnung,
dass du eines Tages die Meuterei anführen und andere in Ketten legen
kannst. Dann allerdings«, Fischers Augen leuchten, »wenn du dein
Rendezvous mit der Geschichte hast, dann kannst du Dinge bewirken!«
Acht Menschen, rechnet Fischer an den Händen vor, hätten dieses
unschätzbare Privileg in Deutschland seit dem Krieg gehabt. Er
wiederholt die Zahl: acht Kanzler. So wenig. »Und deshalb verstehe
ich nicht, weshalb Merkel nichts macht. Selbst den Text durch Tun in
das Geschichtsbuch unserer Nation zu schreiben, das bedeutet für
mich Kanzlerschaft.«
Keine Spur mehr von
spöttischer Gelassenheit jetzt, das ist ihm ernst. Da spricht der
Mann, der immer vor allem eins wollte: Autor der eigenen Geschichte
bleiben. Der mit 17 Jahren sehr bewusst den Entschluss fasste, sich
selbst zu erfinden. Über den es heißt, er habe sich seither
unzählige Male neu erfunden, der das bestreitet und beharrt, er sei
doch immer der Alte geblieben. Vermutlich kommt es beim Erfinden
nicht auf das Wörtchen neu an, es kommt auf das Wort selbst an. Muss
es so einen nicht wahnsinnig machen, dass er so nah dran war, seinen
Satz ins Buch der Nation zu schreiben, und gleichzeitig so weit weg,
weil er in der falschen Partei war, einer, mit der er nie selbst
Kanzler werden konnte? Nein, behauptet Fischer. »Denn dann gehörst
du endgültig der Öffentlichkeit, und diesen Preis wollte ich nie
zahlen.«
Kann man sich
vorstellen, dass einer, der politisch so glüht, zufrieden damit ist,
mit anderen Geschäftsleuten Meetings abzuhalten,
Telefonschaltkonferenzen zu absolvieren und zum Businesslunch zu
gehen? »Natürlich bin ich ein politischer Mensch durch und durch,
aus Leidenschaft, nicht aus Sucht«, betont Fischer, wenn auch beides
nah beieinanderliege. Natürlich telefoniert er in diesen Tagen
manchmal mit Gerhard Schröder. Natürlich fragen sie sich dann: Was
würden wir machen? Natürlich sind sie der Meinung, dass sie es
besser könnten. »Aber ich will nicht mehr, begreifen Sie das doch!«
Er gehe nicht Rosen züchten. Auch für höchste Amtsträger gebe es
keine Staatssklaverei, davon stehe nichts im Grundgesetz. Fischer
wird wieder ungehalten. Darf man ihn fotografieren, ihn, der so
verschieden aussah in seinen verschiedenen Leben und der sein
Aussehen zu früheren Zeiten selbst zum Thema gemacht hat? Nein.
Warum nicht? Weil er nicht will. Ist vorbei. Er sei jetzt
Privatmensch, sagt Fischer. Und schreibt doch ständig Beiträge über
Europa, die Türkei, Israel, Iran. Gibt Interviews darüber, wie
lasch der Bundestag und wie schwach seine Nachfolger seien. Hasst die
Öffentlichkeit, verachtet die meisten Journalisten und liebt doch
die eigene Wirkung auf beide.
Anruf bei
Cohn-Bendit, der meistens einen Schritt weiter war als Fischer und
doch formal nie so weit gekommen ist wie sein Freund. Der vor ihm
Europäer war und vor ihm für eine militärische Intervention im
ehemaligen Jugoslawien. Der da ist, wo das Schicksal ihn als Sohn der
bürgerlichen Oberschicht vorgesehen hat, irgendwo oben, und der das
darum nie um jeden Preis beweisen musste, während Fischer immer
beweisen musste, dass er da angekommen ist, wo er, Metzgerssohn,
Studienabbrecher ohne Abitur, nie hätte sein dürfen: ganz oben.
»Nee, der Joschka war nie ein Revolutionär«, sagt Cohn-Bendit, der
war ein Revoltierender, der wollte Macht haben, aber es war nicht
klar, was da rauskommen sollte. Er wollte die Welt verändern und
sich in der Welt.«
Cohn-Bendit hat eine
Ahnung, wann Fischer angefangen hat, das Land zu lieben: als das Land
angefangen hat, ihn zu lieben. Das ist nicht so süffisant gemeint,
wie es klingt. Was Cohn-Bendit meint: Die Umkehr von Ablehnung zu
Akzeptanz am eigenen Leib zu erfahren hat Fischer gezeigt, dass das
Land nicht so war, wie er behauptet hatte.
Was ist Fischer
jetzt? Jetzt, sagt Cohn-Bendit, gehört er zur gesellschaftlichen
Elite und zu denen, die ihren gesellschaftlichen Einfluss paaren mit
geschäftlichem Nutzen. »Jetzt ist er wirklich so ne Ich-AG. Er
lässt sich vergolden, was er geschafft hat.« Cohn-Bendit würde das
nicht machen, aber er meint das auch nicht vorwurfsvoll. Wenn Fischer
es vertreten kann, kann er es auch. Er kenne so viele Leute bei den
Grünen, die jeden Tag gegen ihre moralischen Grundsätze im Umgang
mit Frau und Kindern verstießen, die sollten mal nicht so auf dem
hohen Ross sitzen, findet Cohn-Bendit, früher Dany le Rouge genannt.
Politiker werden bei
Wahlen gewogen, sie sind die Währung der Demokratie. Die Währung
der Geschäftswelt ist Geld. Für Dostojewskij war Geld gemünzte
Freiheit. Ist Geld also wichtig? Nein, sagt Fischer, nicht wirklich.
Klar, jetzt sei er dabei, Geld zu verdienen. Andererseits: »Wenn ich
Instinkte an der Börse hätte wie in der Politik, wäre ich
steinreich.« Ärgert ihn so ein Satz wie der von Großmann, er habe
ihn gekauft? Ehrlich wirkende Gelassenheit: Kein bisschen! Großmann
habe nicht ihn gekauft, könne der gar nicht, sondern eine
Dienstleistung, und auf die habe er einen Anspruch. Kein
klitzekleines bisschen Ärger? Höchstens über die Frage. Die zeigt
in seinen Augen mal wieder, dass es in Deutschland ein ungesundes
Verhältnis zum Geschäft gibt, als sei das per se etwas
Unanständiges. Ist es also umgekehrt: Wenn er jetzt für Unternehmen
dasselbe macht wie früher als Außenminister, ist das Unternehmen
dann das, was früher seine Partei war, ein Vehikel der
Einflussnahme? Auch nicht, sagt Fischer. Sein Unternehmen, das sei
eine kühl-rationale Geschäftsbeziehung. Das sei es mit seiner
Partei nie gewesen, das sei doch eher eine Art St.-Pauli-Syndrom
gewesen: ein Scheißverein, den man trotzdem liebt.
Aufgeräumter
Fischer, er sitzt beim Italiener in der Nähe seines Hauses, Ende
Juli. Am Nebentisch arbeitet ein Vater daran, seinen Mut
zusammenzunehmen, um den »Herrn Minister« beim Rausgehen um ein
Foto mit seinem Sohn zu bitten, der an diesem Tag 35 werde. Da ist
sie wieder, die Öffentlichkeit, die man nicht so leicht verlassen
kann. Aber wenn sie so nett daherkommt wie diese, dann lässt sich
das sogar ein Joschka Fischer gefallen. Vierte Sozialisation, ja,
kann sein, das gefällt ihm. Was hat ihn am meisten verändert im
Leben? Das Alter, sagt Fischer, sei letztlich die Kraft, die einen am
stärksten verändere. Alter, nicht als Verfall, nicht nur, sondern
als unvermeidlicher Prozess. Älter werden, wachsen, lernen, sich
irren, etwas Neues lernen, Kinder kriegen, Enkel kriegen, vor Kurzem
ist er Großvater geworden. Evolution statt Revolution, das Schicksal
jedes Revolutionärs, der überlebt.
Neulich ist ihm
aufgefallen: Wenn sie bei den Wahlanalysen im Fernsehen von der
Gruppe Ü60 sprechen, den über 60-Jährigen, dann meinen sie ihn -
ist das zu fassen? Ü60, das waren für Fischer die Typen, die den
Dackel ausführten und im Zweifel aus Versehen »Heil Hitler!«
schrien. Und jetzt ist er einer von denen. Er schlägt die Hände vor
die Augen, gespielte Verzweiflung, listige Augen, die sagen: Glauben
Sie mir kein Wort!
Er schreibt den
zweiten Band seiner Memoiren. Er hält Vorträge, um Geld zu
verdienen, aber nicht nur. Er will immer noch Einfluss nehmen. Ihn
treibt das Gefühl um, dass im Moment etwas passiert. Die Welt so
instabil, Deutschland so stark wie nie, und so führungsschwach!
Andererseits: Wie in einer Nacht alle Regeln über Bord geworfen
wurden, um Europa zu retten, das hat ihm gefallen. Vielleicht haben
die Schnarchnasen ja doch schon mehr Europa verinnerlicht, als er
befürchtet hat.
Die Lernmaschine
Fischer brummt wieder, und das macht ihm großes Vergnügen. »Ich
habe das Gefühl, dass ich im Moment wieder unglaublich viel lerne,
etwas, das ich gar nicht erwartet habe.« Er sei ziemlich fit derzeit
in diesen ganzen Wirtschaftsfragen. Er könne arbeiten wie ein
Journalist, aber mit viel besseren Zugängen. »Ich kann mit Leuten
reden, die mit Ihnen nie reden würden. Ich lerne wieder - und das
alles nur aus Ärger über die Regierung!«
Wer hätte gedacht,
dass Joschka Fischer Angela Merkel noch mal würde dankbar sein
müssen? Zurück |