Gewinner des Deutschen Reporterpreis 2010 in der Kategorie "Politische Reportage".
Der
Kinderknast von Lesbos
Minderjährige
Flüchtlinge, die meisten aus Afghanistan, werden von der
griechischen Küstenwache gejagt und in ein heruntergekommenes
Gefängnis gesteckt. Mit der Verschärfung des Asylrechts hat das
reiche Europa das Flüchtlingsproblem seinen Randstaaten aufgehalst.
Und schert sich nicht um die Folgen
Roland Kirbach,
Zeit, 04.02.2010
Jetzt beginnt sie
wieder, die Zeit des Sterbens, sagt Nayem. Jedes Jahr im Winter, wenn
die Stürme das Meer aufwühlen, wenn die Ägäis schäumt, kentern
die Schiffe, ertrinken die Kinder. Ihre dicke Winterkleidung saugt
sich voll Wasser und zieht die jungen Körper nach unten.
Vor wenigen Wochen
zerschellte ein Boot an einem der Felsen, vier Kinder ertranken. Sie
hatten ihr Ziel fast erreicht: Lesbos, Europa. Sie konnten die
Freiheitsstatue im Hafen von Mitilini, der Hauptstadt der
griechischen Insel, schon sehen.
Die Wucht, mit der
das Meer sie gegen die Felsen schlug, hat ihnen die Gesichter
zerschmettert. Vier junge Afghanen. Zwei von ihnen hat Nayem am
Strand gesehen. Seitdem schläft er nachts nur noch mit Licht. »Damit
mir die Toten nicht erscheinen«, sagt er.
Nayem ist 30 Jahre
alt und lebt seit fünf Jahren in Mitilini. Er ist selbst Afghane.
Auch er kam mit dem Schlauchboot aus der Türkei herüber, die zehn
Kilometer zwischen Asien und Europa. An klaren Tagen kann er drüben
die Minarette sehen. Den Osten. Jetzt ist Nayem der Mann, der sich im
Westen um die Kinderleichen kümmert.
Auf dem
St.-Panteleimon-Friedhof von Mitilini beerdigt Nayem die ertrunkenen
Flüchtlingskinder, Winter für Winter. Der Friedhof ist klein, er
liegt auf einem Hügel oberhalb der Stadt, mit Blick auf das Meer.
Nur Beamte der Hafenpolizei und der örtlichen Präfektur sind dabei,
keine Verwandten. Nayem kann nicht verstehen, dass den Toten ein
Begräbnis nach islamischem Ritual verwehrt wird. Kein Mullah darf
die Trauerrede halten, das übernimmt ein griechisch-orthodoxer Pope.
»Nicht mal im Tod dürfen sie ankommen«, sagt Nayem.
Die Flüchtlinge
werden ganz hinten an der Friedhofsmauer begraben, neben den
Gartenabfällen. Ihre Gräber sehen wie große Maulwurfshügel aus.
Keine Grabsteine, keine Blumen, kein Schmuck. 40 Ertrunkene habe er
hier beerdigt, sagt Nayem, vielleicht auch 60. Er hat sie nicht
gezählt und kann das auch nicht nachholen. Die Friedhofsverwaltung
ebnet die Grabreihe alle drei Jahre ein. Anschließend lässt sie
dort neue Flüchtlinge verscharren. Und dann stecken in neuen
Grabhügeln wieder alte Holzbretter, auf denen steht: »Afghane Nr.
1«, »Afghane Nr. 2«, »Afghane Nr. 3«.
Europa hat kein
Interesse an ihren Namen, weil Namen für Menschen stünden. Die
Toten von Lesbos heißen bloß »Drittstaatsangehörige«, so ist es
festgelegt in der »Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.
Februar 2003«. Ein Regelwerk, von dem Nayem noch nie etwas gehört
hat, das aber das Leben und Sterben an den Rändern Europas
beeinflusst. Zehn Seiten Papier, deren Folgen in Mitilini den
Friedhof füllen.
Es war ein kalter
Tag im Dezember 2002, als Europas Innenminister an einem ovalen Tisch
im Brüsseler Ministerrat die Verordnung 343/2003 verabschiedeten,
kurz »Dublin II« genannt. Unter ihnen Otto Schily (SPD). In 29
Kapiteln ist geregelt, dass jeder Flüchtling in der Europäischen
Union nur einen Asylantrag stellen darf – in dem Land, in dem er
erstmals seinen Fuß auf europäischen Boden setzte. Dublin II heißt
die Verordnung, weil sie Dublin I aus dem Jahr 1997 noch verschärfte.
Beamte der
Küstenwache schickten den 16-Jährigen zurück aufs Meer
Es gab Gezerre und
Taktiererei damals, denn das Gesetz, um das gestritten wurde, war vor
allem für Länder wie Deutschland gut, für Staaten, die umgeben
sind von anderen EU-Mitgliedern. Deutschland wurde damit quasi
unerreichbar. Fragt man Otto Schily heute, was er von dem Tag noch in
Erinnerung hat, an dem sich Deutschland das Elend der Welt vom Halse
hielt, sagt er nur: »Herrgott, das weiß ich doch jetzt nicht mehr.
Ich sitze ja nicht hinterm Ofen.«
Auf Lesbos schaut
Nayem aufs Meer. Ein neuer Sturm ist angekündigt. Seit 2002, seit
jenem Tag im fernen Brüssel, wird auf Lesbos ein Stellvertreterkrieg
geführt. Ein Krieg von Arm gegen Reich. Ein Krieg von Ansturm und
Abwehr. Ein Krieg, etwas widerwillig geführt von den Griechen. Wie
eine Exklave liegt Lesbos in einer weiten Bucht der türkischen
Westküste, ein verlockender Flecken für Flüchtlinge, viel leichter
zu erreichen als Lampedusa, viel schlechter zu bewachen als
Gibraltar. 146000 Flüchtlinge sind im vorvergangenen Jahr in
Griechenland aufgegriffen worden, die meisten kamen mit dem Boot.
Nayem würde gern
weg von hier, weggehen von dieser Insel, an deren Küsten sich
Touristen sonnen, die für ihn aber nur Leid und Tod bedeutet. Doch
er sitzt fest. Die Polizei hat seine Fingerabdrücke. Damit ist er
überall in Europa registriert, auch das ist in Dublin II geregelt.
Selbst wenn es Nayem gelänge, sich nach Frankreich oder Deutschland
durchzuschlagen und dort um Asyl zu bitten, er würde sofort nach
Griechenland zurückgebracht.
Weil Nayem gut
Englisch spricht, machte ihm die Polizei in Mitilini das Angebot, bei
den Verhören afghanischer Flüchtlinge als Dolmetscher zu arbeiten.
Er berichtet nun von Fluchten, die in Kabul, Baghlan und Kandahar
begannen, und mit jeder Übersetzung hat er das Gefühl, Verrat zu
begehen, weil er Wege, Routen und Verstecke offenlegt.
»Der Preis, den ich
dafür zahle, heißt Verzweiflung«, sagt Nayem. Dafür bekam er eine
Duldung. Neben dem Dolmetscherjob arbeitet er als Kammerjäger; so
kommt er auf genügend sozialversicherungspflichtige Arbeitsstunden,
um bleiben zu dürfen. Verliert er seine Jobs, muss er das Land
verlassen.
Da draußen, weiß
Nayem, ist eine neue Völkerwanderung im Gange, ausgelöst durch
Kriege und durch Völkermorde, manchmal durch entlegene
Stammesfehden, manchmal aber auch durch eine Armut, an der die
Reichen eine Mitschuld haben. Nayem kennt die Statistiken und Karten,
die die Polizisten zeichnen und nach Athen oder Brüssel schicken,
Europakarten voller Pfeile, die für Flüchtlingsströme stehen: Da
ist die »West Africa Route« von Marokko Richtung Kanaren. Da ist
die »Central Mediterranean Route« von Libyen über das Mittelmeer
nach Süditalien. Und da ist die »South Eastern European Route«,
auf der Iraker, Kurden und Afghanen über die Türkei Richtung Europa
wollen. Der Pfeil ist dick und versehen mit einem Wort, das eine
Warnung ist: »Increase!«, Zunahme.
Er zeigt direkt auf
Lesbos.
Nayem weiß von
keiner Flucht, die glücklich ausgegangen wäre. Erst recht nicht,
wenn sie in die Verhörzimmer der griechischen Polizei geführt hat.
Griechenland, seit Dublin II so etwas wie ein sich selbst
überlassener Außenposten der EU, behandelt alle Flüchtlinge als
illegale Einwanderer und wirft sie ins Gefängnis. Auch die Kinder,
was gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt und auch gegen
griechisches Recht. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan,
und sie sind allein unterwegs, ohne Eltern und Familie. Wie der
16-jährige Milad*, der behauptet, eine Kriegswaise zu sein.
Milad setzte
gemeinsam mit einer Zufallsgemeinschaft afghanischer Flüchtlinge von
der türkischen Küste nach Lesbos über. »Wir hatten ein kleines
Boot zum Aufpumpen«, sagt er. Gegen zwei Uhr nachts seien sie
aufgebrochen und gegen die Strömung angerudert. Nach sechs Stunden,
etwa 300 Meter vor der griechischen Küste, habe sie ein Schiff der
Küstenwache entdeckt. Das Boot habe sie mit hoher Geschwindigkeit
umkreist, sagt Milad, so schnell, dass sie in den Wellen fast
gekentert wären. »Irgendwann warfen uns die Polizisten eine Leine
zu, und wir wurden an Bord geholt.« Sie seien durchsucht worden, ihr
Geld hätten ihnen die Polizisten abgenommen, sagt Milad. Er habe
gedacht, dies sei eine zwar etwas rüde Rettung, aber immerhin eine
Rettung. Bis die Polizisten Miland und seine Begleiter ins
Schlauchboot zurückgestoßen, es in türkische Gewässer
zurückgeschleppt und etwa zwei Kilometer vor der türkischen Küste
die Leine gekappt hätten.
»Aber vorher
machten sie uns noch ein kleines Loch ins Boot«, sagt Milad.
Es war ein
türkischer Fischer, der die Flüchtlinge rettete.
Bei einem zweiten
Versuch gelang es Milad, Lesbos zu erreichen. Die Polizei brachte ihn
ins Gefängnis. Bei seiner Entlassung einige Wochen später bekam er
ein Schreiben auf Griechisch in die Hand gedrückt, das er nicht
lesen konnte und dessen Inhalt ihm niemand erläuterte. Darin wurde
er aufgefordert, das Land innerhalb von 30 Tagen zu verlassen.
Nur wie? Schwimmend?
Und wohin? Es gibt keine Schlepperbanden, die sich die Mühe machten,
Kinder wieder nach Afghanistan zurückzubringen. Und kein Geld, das
Menschen wie Milad geblieben wäre.
Lesbos war vom Ziel
zur Falle geworden. Und das nicht nur für ihn.
So endet die »South
Eastern European Route«, dieser alarmierend dicke Pfeil auf den
Observierungskarten der Europäischen Union, vor allem für Kinder in
einem staubigen Gewerbegebiet nördlich von Mitilini: Pagani. In
einem Lagerhaus, das einmal zum Stapeln von Waren erbaut wurde, nicht
zur Unterbringung von Menschen. Wie in einem Schweinestall reiht sich
Box an Box, Zelle an Zelle. Der Boden ist aus Beton, drei von vier
Wänden der riesigen Halle sind fensterlos, nur die Frontseite ist
offen, ein Gitter, durch das im Sommer die Sonne brennt und im Winter
kalter Wind weht. Für höchstens 300 Menschen bietet die
heruntergekommene Halle Platz, doch im vergangenen Sommer waren hier
bis zu 1000 Menschen eingepfercht. Das Gelände ist mit Stacheldraht
umzäunt. Es gibt keinen Hofgang und keinen Kontakt zur Außenwelt.
Es stinkt beißend nach Exkrementen.
Pagani ist der
Kinderknast von Lesbos. Ein Ort des Verdrängens und Vergessens. Der
Ort, an dem wortreiche europäische Asylpolitik, an dem Dublin II,
diese zehn Seiten Papier, zu einer Wahrheit wird. Zu einer
Demütigung.
Zweimal, manchmal
dreimal in der Woche steht Nayem, der traurige Dolmetscher, vor
diesem Lagerhaus der Kinder, an seiner Seite Toulina Demeli, eine
Anwältin, die sich um die Gefangenen von Lesbos kümmert. »Wir
dürfen die Zellen nicht betreten«, sagt sie. Wer mit den Kindern
reden will, muss durch das Gitter rufen. »Die weiter hinten stehen,
kann ich nicht erreichen.«
Rastlos führt die
Anwältin Demeli Gespräche ohne Blickkontakt, Nayem übersetzt.
»Warum sind wir
hier eingesperrt?«
»Weil du die
Landesgrenze ohne gültige Papiere überschritten hast.«
»Wann werden wir
freigelassen?«
»Das liegt alleine
an der Polizei.«
»Was, wenn es mir
gelingt, abzuhauen?«
»Dann gibt es nur
noch mehr Probleme.«
Europa kennt auf die
Fragen der Kinder nur drei Antworten: Polizei, Papiere und Probleme.
In die
Lebensgeschichten, die Toulina Demeli durch die Gitter von Pagani
zugerufen bekommt, haben sich der Krieg und Zerfall Afghanistans
gefressen. Die Familien der meisten Jugendlichen haben sich
aufgelöst, manche sind ausgelöscht. Die nächsten Verwandten sind
untergetaucht oder ums Leben gekommen. Immer mehr Kinder und
Jugendliche sind ohne Schutz, das macht sie zunehmend zu Freiwild.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat deshalb
Richtlinien zum »Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender« erlassen,
an denen sich die Staaten bei ihren Asylentscheidungen orientieren
sollen. Kinder seien die am meisten gefährdete Bevölkerungsgruppe
in Afghanistan. Sie würden »in einer immer weiter steigenden Zahl
getötet, ausgebeutet und misshandelt«. Bewaffnete Gruppen aller Art
würden sie gefangen nehmen und zu Selbstmordattentaten zwingen. Sie
würden Opfer »sexueller Gewalt, von Kinderarbeit unter ausbeutenden
Umständen und von Kinderhandel«. Der Staat gewähre keinen Schutz,
im Gegenteil, auch von Polizei und Armee würden Kinder misshandelt
und missbraucht. Das UNHCR legt den reichen Ländern daher nahe,
afghanische Kinder als Asylbewerber anzuerkennen, auch wenn sie keine
individuelle Verfolgung nachweisen können.
Die Griechen
ignorieren das. Im vergangenen Jahr wurden die hygienischen Zustände
im Lager von Pagani immer katastrophaler. Die Gefangenen mussten vom
Boden essen, das Trinkwasser war oft ungenießbar. 160 Kinder teilten
sich eine Toilette. In einem Trakt floss aus einer defekten
Kloschüssel wochenlang braune Kloake in die Matratzen auf dem Boden.
Das führte zu Streit, »wer in der Scheiße liegen muss und wer oben
liegen darf«, erinnert sich Salinia Stroux, eine deutsch-griechische
Ethnologin, die mit der Anwältin Demeli die Flüchtlinge auf Lesbos
betreut. Selbst Ärzte durften die Zellen nicht betreten, ihre
Untersuchungen beschränkten sich auf Blickdiagnosen durch das
Lagergitter.
Als die Zustände in
Pagani unerträglich wurden, traten mehrere Häftlinge in einen
Hungerstreik. Salinia Stroux und anderen Helfern gelang es, eine
Videokamera ins Lager zu schmuggeln. Insassen filmten damit das
Gefängnis. Das Video, das mittlerweile im Internet auf YouTube zu
sehen ist, zeigt unter anderem einen 13-jährigen Jungen, der
bewegungslos in seinem Bett liegt. »Er ist krank! Er spricht nicht
mehr!«, ruft ein anderes Kind aufgeregt in die Kamera. Ein weiterer
Junge fleht: »Das ist das schlimmste Gefängnis der Welt. Bitte
helft uns!«
Wenig später
besuchte eine Abordnung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten
Nationen das Lager Pagani. »Die Bedingungen in der Einrichtung sind
schockierend«, erklärte die Delegation anschließend, vor allem die
Situation der Minderjährigen sei »inakzeptabel«. Schon ein Jahr
zuvor hatte das Flüchtlingshilfswerk der griechischen Regierung
»Empfehlungen« zur Überarbeitung des Asylsystems gegeben, vor
allem der »Schutz Asyl suchender Kinder« müsse dringend verbessert
werden.
Nichts davon wurde
umgesetzt, im Gegenteil, Griechenland verschärfte noch einmal seine
Einwanderungsgesetze, die zweite von drei Instanzen für Asylanträge
wurde ersatzlos abgeschafft. Außerdem hat die Regierung die Dauer
einer zulässigen Inhaftierung von drei auf sechs Monate verlängert,
nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder – entgegen dem
Appell des UNHCR.
Die Kinder saßen
weiter in den Zellen. Weiter wehte der Wind durch die ungeschützte
Halle. Und weiter führte die Anwältin Demeli Hilfsgespräche –
wenn auch in einem kleinen Raum im ersten Stock, den die Polizei ihr
nun zur Verfügung stellt. Dort stellen die Kinder weiter ihre
Fragen. Warum sind wir hier? Wo sollen wir hin? Was ist aus dem Dorf
meiner Eltern geworden, mitten im Kriegsgebiet? Haben Sie meine
kleine Schwester gesehen? Und Toulina Demeli weiß keine Antworten.
Im Winter, nach
stürmischen Tagen, sind die Strände von Lesbos übersät mit
Schwimmwesten, Plastikflaschen und verlassenen Schlauchbooten. Bei
der Hafenpolizei in Mitilini stapeln sich Außenbordmotoren, daneben
Schlauchboote und kleine Ruderboote. Im Hafen dümpeln die
schnittigen Schiffe der Küstenwache, grau-weiß getarnt; moderne
italienische Schnellboote vom Typ Lambro 57 III, die mit ihren 3000
PS starken Motoren bis zu 100 Stundenkilometer erreichen. Martialisch
wie Kriegsschiffe sehen sie aus, mit Radar- und Flutlichtanlagen auf
dem Dach und einer Lafette auf dem Bug, auf die ein Maschinengewehr
aufgesetzt werden kann. Nacht für Nacht stechen sie in See, um
Bootsflüchtlinge abzufangen. Kinder wie Milad, denen sie ein Loch
ins Boot stechen. Kinder, deren Namen man nicht kennt, weil sie es
nicht geschafft haben. Und von denen man nie erfahren wird. Denn das
Meer ist ein stummer Zeuge.
Als hätten sie
Einsatzbefehle wie zu Kriegszeiten, löschen die Boote beim Verlassen
des Hafens ihre Positionslichter. Und wie im Krieg scheinen sich die
Küstenwachenoffiziere auch zu fühlen. In einem Gespräch mit der
Stiftung Pro Asyl, die eine Dokumentation über den Umgang
Griechenlands mit den Kinderflüchtlingen veröffentlicht hat, sagte
der bis vor Kurzem amtierende Chef der Küstenwache von Lesbos,
Apostolos Mikromastoras, er betrachte afghanische Flüchtlinge
allesamt als Feinde, auch die Kinder: »Das sind alles Krieger!« Sie
seien jung und »sehr gut trainiert«. Für ihn seien das keine
Schutzbedürftigen, sondern Angreifer, in Marsch gesetzt mit dem
Ziel, »in Europa zuzuschlagen«. Er glaube fest daran, sagte der
Küstenwachenchef, »dass es sich hier um eine islamische Invasion
handelt«.
Die Küstenwache von
Lesbos hat ihren Sitz in einem weißen Haus am Hafen von Mitilini.
Die Räume wirken heruntergekommen. Uniformierte Männer und Frauen
laufen türenschlagend von Zimmer zu Zimmer. Ganz am Ende des Gangs
sitzt der neue Chef, Antonis Sofiadelis, ein großer, kräftiger Mann
um die vierzig. Hält auch er die jungen afghanischen Flüchtlinge
allesamt für islamische Krieger? »Darauf möchte ich nicht
antworten«, sagt er knapp. »Es ist nicht meine Aufgabe, über das
Asylsystem zu sprechen.«
Die Stiftung Pro
Asyl behauptet in ihrer Dokumentation, die Küstenwache versuche,
jedes Flüchtlingsboot in türkisches Gewässer zurückzubugsieren,
egal wie und mit welchem Ergebnis, auch solche mit Kindern. Dabei
komme es immer wieder zu gefährlichen Konfrontationen mit der
türkischen Küstenwache, die versuche, die Boote wieder in
griechisches Seegebiet zu drängen. Auch hätten die Griechen Kinder
auf dry islands ausgesetzt, Inseln ohne Wasser und Nahrung. In der
Dokumentation wird die Schilderung eines 16-Jährigen wiedergegeben:
Seine Flüchtlingsgruppe sei von der Küstenwache aufgegriffen und
verprügelt worden, anschließend hätten die Griechen die
Flüchtlinge auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt. Nach drei Tagen
seien sie von der türkischen Küstenwache gerettet worden.
Eine Gruppe von
Kindern als Spielball der Mächte, zerrieben zwischen
unterschiedlichen Interessen. Kann es sein, dass die Griechen sich
mit ihren schnellen Schiffen unbeobachtet jene Probleme vom Hals
schaffen wollen, die Länder wie Deutschland ihnen aufgebürdet
haben?
»Die Vorwürfe
treffen nicht zu«, sagt Küstenwachenchef Sofiadelis, ein
Frontsoldat in diesem Krieg der Welten, in dem es immer auch um
Bilder und um Worte geht. Seine Beamten brächten Flüchtlinge nicht
in Gefahr, sondern in Sicherheit. Er öffnet den Laptop und spielt
ein Video ab. Es zeigt eine Rettungsaktion der Küstenwache. Ein
überbesetztes Flüchtlingsboot schaukelt in stürmischer See. Einige
Insassen klettern Schutz suchend auf einen schmalen Felsen. Am
Bildrand sieht man den Bug eines Küstenwachbootes. Man hört
Stimmen, die den Flüchtlingen etwas zurufen. »30 Flüchtlinge
hatten sich auf diesen kleinen Felsen gerettet«, sagt Sofiadelis.
»Zwei Stunden später wäre der Felsen überflutet gewesen. Wir
haben sie gerettet.«
»Natürlich«, sagt
Sofiadelis dann, »wenn das jeden Tag geschieht, sinkt die Moral ein
bisschen.« Seine Beamten kämen kaum noch dazu, all die anderen
Aufgaben zu erfüllen. Fähren kontrollieren, Umweltdelikte
aufklären. Seine Leute seien vom nicht abreißenden Strom der
Flüchtlinge »erschöpft und müde«.
Antonis Sofiadelis
und seine Beamten sind Vollstrecker einer Verordnung aus Brüssel,
und es fällt dem Chef der Küstenwache schwer, zu verschweigen, dass
er sich hier auf Lesbos von Europa allein gelassen fühlt. Mit einer
Aufgabe und mit Vorwürfen. Laut UNHCR wurden 2008 allein auf Lesbos
13.252 Flüchtlinge aufgegriffen – mehr als doppelt so viele wie im
Jahr zuvor. Mehr als 3600 davon waren Kinder. Seit Italien und
Spanien dank bilateraler Abkommen mit den nordafrikanischen
Küstenstaaten ihre Seegrenzen für Flüchtlinge aus Afrika nahezu
unerreichbar gemacht haben, nehmen auch diese Flüchtlinge nun den
Weg über die Türkei.
Taqi, 16, will
nichts mehr essen, Farhat, 17, hat graue Haare
Wer es schafft, dem
Gitterkäfig von Pagani zu entkommen, hat nach gültigem Gesetz keine
andere Wahl, als sich zu verstecken, sich nach Athen durchzuschlagen
und dort zu verschwinden. Unsichtbar zu werden auf dem Festland.
Wem dies nicht
gelingt, der findet Zuflucht hoch oben in den Bergen von Lesbos –
und die Frage ist, ob es Glück ist oder Unglück, hier zu landen. In
der Mitte der Insel, 40 Kilometer von Mitilini entfernt, oberhalb des
Bergdorfs Agiassos, liegt sehr abgelegen die Villa »Azadi«. Das
Wort stammt aus dem Farsi und bedeutet: Haus der Freiheit.
Das Haus nennt sich
jedoch nur Villa, tatsächlich ist es ein nüchternes,
mehrgeschossiges Gebäude, mitten im Wald. In den dreißiger Jahren
diente es als Sanatorium für Tuberkulosekranke. Ein griechischer
Zauberberg, mit dem Unterschied, dass hier Kinder leben.
Die Villa Azadi ist
Griechenlands erste Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge,
gegründet nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Kritik an der
griechischen Asylpolitik. Sie wird betrieben von einer NGO und erhält
Geld vom Staat, doch ihr Bestand ist nirgendwo geregelt, von heute
auf morgen kann sie wieder geschlossen werden. Rund 100 junge
Afghanen zwischen 14 und 18 Jahren leben hier. Manche, weil sie kein
Geld haben, um weiterzuziehen. Die meisten, weil ihnen jegliche Kraft
fehlt.
Da ist Mustafa, 17,
der nicht mehr spricht.
Da ist Qabir, 15,
der nachts, im Schlaf, schreiend um sich schlägt.
Da ist Jamil, 17,
dessen Schwester entführt wurde; seine Eltern haben nicht das Geld,
sie freizukaufen. Jede zweite Nacht schreit er, weil er starke
Herzschmerzen hat.
Da ist Yaqub, 15,
der mit ansah, wie ein Onkel seine Eltern tötete, für ein Stück
Land. Er hat jetzt öfter Atemnot.
Da ist Taqi, 16,
dessen Freund auf der Flucht von Schleppern vergewaltigt wurde und
der seit Tagen nichts mehr essen will.
Da ist Farhat, 17,
mit den grauen Haaren, der sich nachts mit Rasierklingen die Arme
aufschneidet.
Und da ist Said, 16,
der sich kürzlich auf eine Straße legte und darauf wartete, dass
ihn ein Auto überfährt.
Die Kinder schlafen
in metallenen Krankenhausbetten, in Vierbettzimmern, deren
Lazarett-Ambiente sie mit den letzten persönlichen Gegenständen
mildern, die ihnen geblieben sind. Abgegriffene Fotos von Verwandten,
geschundene Stofftiere.
Noyan, der sein
Alter mit 17 angibt und humpelt, sagt, seine Familie sei seit Jahren
auf der Flucht. Und er habe sie verloren. Er stamme aus Razni
westlich von Kabul. 2004 seien sein älterer Bruder und sein Vater
bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen. 2006 habe er mit seiner
Mutter entschieden, dass er versuchen solle, nach Europa zu gelangen,
in ein besseres Leben. Er habe zunächst ein Jahr in Iran gearbeitet,
auf einem Feld, um Geld für die Flucht zu verdienen. Anfang 2009 sei
er aufgebrochen.
Noyan erzählt
sprunghaft, sein Gesicht ist ständig in Bewegung. In einem
Augenblick lacht er ein breites Lachen, das kräftige Zähne
entblößt, im nächsten Moment ist sein Gesicht verschlossen, der
Blick leer.
Von der Route, von
den Mittelsmännern, für die sich die Polizisten auf Lesbos so
brennend interessieren, erzählt Noyan nur wenig Konkretes. Aus Angst
vor Verrat – Beamte der in Warschau ansässigen
EU-Grenzschutzagentur Frontex versuchen Flüchtlinge auszuhorchen,
geben sich dabei auch als Journalisten oder Menschenrechtler aus.
Aber Noyan könnte seinen Weg selbst kaum nachvollziehen. Eine Flucht
ist immer ein Vor und Zurück, ein Warten und Loslaufen. Sie wird in
Etappen organisiert, erfolgt meist in Lieferwagen, von Versteck zu
Versteck, von Grenze zu Grenze, von Afghanistan über Iran, das
kurdische Grenzgebiet bis in die Türkei. Die Schlepper sind meistens
Kurden, Jugendliche wie Noyan sind ihnen vollends ausgeliefert, in
jeder Hinsicht.
Es ist auch Scham,
die sie nicht reden lässt.
Einmal, sagt Noyan,
hätten Polizisten ihn erwischt und sein Knie zertrümmert. Deshalb
das steife Bein. Deshalb die Villa Azadi. Dieser Ort der geretteten
Gescheiterten und gescheiterten Geretteten.
Manchmal, erzählen
die Kinder, die auf den Betten der Villa Azadi sitzen, würden sie im
Dorf Agiassos von den alten Männern angeraunzt. Der Kurs für Sex
mit einem Unerwünschten steht derzeit bei 25 Euro.
Immer wieder bringt
die Ethnologin Salinia Stroux die Jungen aus der Villa nach Mitilini
hinab, zum Fährhafen, wo Schiffe Richtung Festland ablegen. Niemand
hält die Jugendlichen in der Villa zurück; wenn sie gehen wollen,
können sie gehen. Wer 18 wird, muss die Villa ohnehin verlassen.
Salinia Stroux weiß, dass sie die meisten in den Straßen von Lesbos
wiedersehen wird.
Und die, die sie
nicht wiedersieht, haben nicht unbedingt Glück gehabt.
Damals, 2003, am
ovalen Tisch im Brüsseler Ministerrat, da lag noch ein anderer
Vorschlag für Dublin II auf dem Tisch. Es ging darin um
Flüchtlingsquoten für Drittstaaten. Quoten, die den Ansturm
verteilt hätten. Quoten, die Inseln wie Lesbos, Außenposten
Europas, nicht mit dem Problem allein gelassen hätten. Aber
Deutschland, gut abgeschirmt mitten in Europa, stimmte so vehement
gegen den Vorschlag, bis er vom Tisch war. Seit 2003 gehen die
Flüchtlingszahlen in Deutschland rapide zurück.
Einen Tag dauert die
Überfahrt von Lesbos nach Piräus, in den Hafen von Athen. Manchmal
wartet dort Karl Kopp, der Europareferent von Pro Asyl. Ständig
pendelt er zwischen Athen, Lesbos im Osten und Patras im Westen, um
Essen oder Unterkünfte für die Kinder zu organisieren.
Flüchtlingshilfe in
Griechenland ist alles andere als staatlich.
»Sie steigen aus
ohne einen Cent, ohne etwas zu trinken oder zu essen, und wissen
nicht, wohin«, sagt Kopp. Griechenland hat kein funktionierendes
Asylsystem, keine Unterkünfte, keine medizinische Versorgung. Aus
der Haft werden die Flüchtlinge ohne Geld in die Obdachlosigkeit
entlassen. Der Außenposten der EU gibt sich entschlossen grimmig.
Mit etwas Glück
findet Kopp einen Schlafplatz für die Asylsuchenden in einem der
sogenannten Afghani-Hotels rund um den Attikiplatz im Zentrum von
Athen. Hier sammeln sich Flüchtlinge aus dem ganzen Land, von Tag zu
Tag werden es mehr. In den Abbruchhäusern des Viertels schlafen die
Kinder in Schichten, immer vier Stunden, weil der Platz sonst nicht
reicht.
Wer kein Bett
findet, schläft draußen auf einer Parkbank. Tagsüber, nicht
nachts, dann ist es zu gefährlich. Bürgerwehren machen Jagd. Im
Dunkeln sind die Kinder ständig in Bewegung. Und sie nehmen jeden
Job an, um Geld für einen neuen Schlepper zu verdienen. Rund um den
Attikiplatz wächst der Minderjährigenstrich. »Alle Arten
menschlicher Ausbeutung«, sagt Karl Kopp, erlebten die afghanischen
Kinder auf ihrer Flucht – einer Flucht ohne Ankunft und Ausweg.
In Athen werden die
Freier immer brutaler.
In Lesbos warten
schreckliche Erinnerungen.
Und in Patras, wo
die Fähren nach Italien übersetzen, in eine Welt, die Flüchtlinge
dem Vernehmen nach besser behandelt als Griechenland, ist nun auch
die Jagdsaison eröffnet.
Seit die Polizei im
vergangenen Sommer ein Flüchtlingscamp in Hafennähe niederriss,
einen Slum mit 1500 Menschen, hausen die Afghanen in den Wäldern
nördlich der Stadt und die Afrikaner auf dem Güterbahnhof im Süden,
unter ausrangierten Waggons.
Ein meterhoher
Metallzaun sichert das Hafengelände. Die Rampe hinauf zu den Fähren,
das Tor in den Westen, zum Wohlstand. Immer wieder versuchen Kinder,
sich unter die Fahrgestelle von Lastwagen zu hängen. Jungen wie der
16-jährige Hassan aus Masar-i-Scharif. Dieser Hafen, diese Rampe,
sie sollten das Ende seiner endlosen Flucht sein, die vor einem Jahr
in einem Marmorsteinbruch in Iran begann, wohin seine Familie einige
Jahre zuvor geflohen war. Im Südosten der Türkei hielten Kurden ihn
und andere Kinder gefangen, um von ihren Eltern Lösegeld zu
erpressen. Wenn für jemanden nicht gezahlt wurde, schnitten sie ihm
Nase und Ohren ab. Auf der Überfahrt nach Lesbos, im Schlauchboot,
zerbrach Hassan das einzige Paddel, er ruderte mit seinen Schuhen
weiter. Auf der Insel erwischte ihn die Polizei und steckte ihn in
den Kinderknast von Pagani.
Dann, in Patras,
wollte Hassan gerade hinten in den Laderaum eines der vielen
wartenden Lastwagen klettern, sich zwischen all den Paketen
verstecken, da gab der Fahrer des nachfolgenden Lasters Gas und
klemmte den Jungen ein. Hassan erlitt eine Lungenquetschung, zwei
Monate lag er im Koma im Krankenhaus in Patras. Jetzt ist er wieder
auf Lesbos, in der Villa Azadi.
Und in Athen, im
siebten Stock eines weithin sichtbaren Hochhauses, hebt Spyros
Vougias, der neue Vizeminister des zuständigen »Ministeriums zum
Schutz der Bürger«, mit großer Unschuldsgeste die Hände. Sehr
entrückt blickt man von hier oben auf die weiße Stadt. Zwar sind es
nur wenige Metrominuten bis zum Attikiplatz, wo sich Nacht für Nacht
die minderjährigen Afghanen verkaufen, doch durch die Fenster des
Ministers ist das da draußen kaum mehr als eine Fototapete.
Als die Sozialisten
bei der Parlamentswahl im Oktober 2009 die Konservativen ablösten,
versprachen sie, dass sie eine andere Flüchtlingspolitik machen
wollten als die Vorgängerregierung. Der neue Vizeminister Vougias
reiste ins Lager Pagani und sagte in einem Interview mit dem
griechischen Fernsehen: »Ich bitte um Vergebung für den Mangel an
Humanität in diesem Lagerhaus der Seelen, gegen das Dantes Inferno
verblasst.« Er versprach die rasche Schließung und kündigte den
Bau neuer »humaner« und »würdevoller« Einrichtungen an. Ja, und
eine Umkehr in der griechischen Asylpolitik.
Inzwischen ist das
berüchtigte Lager, nach kurzer Pause, wieder in Betrieb. Nun sind es
Afrikaner, die hier eingesperrt werden. Die Anwältin Demeli sucht
wieder tröstende Worte. Der Küstenwachenchef Sofiadelis schickt
wieder seine Schiffe los. Der Dolmetscher Nayem begräbt wieder
ertrunkene Kinder. Der einstige deutsche Innenminister erinnert sich
nicht mehr an den Tag, an dem er für Dublin II stimmte. Und in Athen
mag Vizeminister Vougias nicht mehr von einer neuen Asylpolitik
Griechenlands sprechen. Eine neue Asylpolitik, das hieße ja:
Unterkünfte bauen, ein Versorgungssystem errichten, Personal
einstellen. Griechenland hat derzeit andere Probleme, ihm droht der
Staatsbankrott.
Eigentlich wäre das
ein Grund zu fliehen.
*Die Namen der
Jugendlichen wurden geändert Zurück |