Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Der
Mann mit Eigenschaften
Eine Laufbahn,
aber kein Leben? Nachforschungen bei Präsidentschaftskandidat
Christian Wulff - und bei den Menschen, die ihn schon als Kind
kannten. Eine kleine Straße in Westdeutschland, eine haltlose
Familie: Früh rettet er sich in die Politik. Und schnell lernt er,
aus der Deckung zu agieren.
Renate Meinhof,
Süddeutsche Zeitung, 28.06.2010
Die Straße ist
schmal und gefegt und so kurz, dass man in zwei Minuten vom oberen
Ende zum unteren gelaufen ist. Kein Haus hier, das hoch hinaus will.
Flach sind sie, wie Bungalows, und kleben, des leichten Anstiegs
wegen, in Stufen aneinander. Sie sehen aus, als hätte ein Riese
versucht, sich in einer Ungegend für jeden seiner Füße eine Treppe
zu bauen. Ein mühsamer Staubsauger ist zu hören, die Kreissäge
nahe den Feldern. Über den Dächern flirrt Hitze den Schwalben
entgegen. Eine Autotür klappt, Rasensprenger wispern. Nach hinten
raus soll es Gärten geben.
Osnabrück, Ortsteil
Atter, Sandesch 9. Christian Wulff hatte sein Zimmer im Keller des
Hauses, was auch deshalb von Vorteil war, weil das, was oben zu
ebener Erde zwischen den Eltern geschah, unten ankam wie durch einen
Filter. Er konnte es, war er unten, auf diese Weise in einen gewissen
Abstand bringen.
Sigmar Gabriel hat
bei der Vorstellung des Kandidaten Gauck für das Amt des
Bundespräsidenten den Satz gesagt: "Joachim Gauck bringt ein
Leben mit in seine Kandidatur, und der Kandidat der Koalition bringt
eine politische Laufbahn mit." Also kein Leben.
Der Satz nach dem
Komma ist eine Anmaßung, egal, über wen er gesprochen wird. Auch
wenn man weiß, warum er ihn so gesagt hat, hätte man Herrn Gabriel
gern ein paar Fragen gestellt, aber dessen Sprecher teilt mit, dass
Herr Gabriel nicht reden mag über den Kandidaten Wulff, über den
Satz auch nicht, über sein eigenes tolles Leben schon gar nicht.
Christian Wulff hat
der Satz verletzt, auch wenn er es so nie sagen oder gar zeigen
würde. Man vermeidet sogar das Wort Verletzung in seiner Gegenwart,
aus Angst, er könnte sich sofort zurückziehen. Wie eine Schnecke.
Wie ein scheuer Tapir. Man fragt ihn also, ob er sich schlecht
behandelt fühlt durch diesen Satz. Er zögert, sagt dann: "Das
haben Sie richtig formuliert. Er entspringt einer in Gabriel ruhenden
Arroganz."
Es sind diese
wohltemperierten Sätze, die klare Ordnung seiner Gesichtszüge,
seiner Haare, seiner Kleidung, die Wulff seit Jahren den Ruf des
Glatten und Langweiligen anheften. Menschen, die ihn nicht mögen,
sagen, er wirke wie einer, der mit 14 Jahren aufgeschrieben hat, was
er werden will, und dann los.
Jetzt, wo er vom
niedersächsischen Ministerpräsidenten zum Staatsoberhaupt
aufsteigen soll, antreten gegen die Lebensfurchen eines Joachim
Gauck, fragt jeder plötzlich nach seinen Brüchen. Hat er welche?
Was hat ihn geprägt? Wer ist dieser Mensch, der es beim dritten
Anlauf schließlich schaffte, in Niedersachsen Ministerpräsident zu
werden?
Joachim Gauck haben
Zwänge, Unfreiheit, Willkür, Angst und Sehnsucht geprägt, das
Leben eines Pastors in der ostdeutschen Diktatur.
Und Wulff?
Ihn haben Zwänge,
Angst und Sehnsucht geprägt, ein Leben in einer endlichen Straße in
Atter, Westdeutschland.
Günter Auding
wartet am Bahnhof in Osnabrück. Am Morgen war er auf dem Markt, um
Spargel zu holen, dann hat er den Optiker getroffen, einen ehemaligen
Schüler, mit dem er sich auch über Christian Wulff unterhalten hat.
"Du", hat der Optiker gesagt, "Christians Brille ist
aber auch nicht mehr von mir."
Christian Wulff ist
hier geboren, hier hat er seine ersten öffentlichen Schritte getan:
Schülersprecher am Gymnasium, Schüler-Union, Junge Union, Stadtrat.
Auding ist schon mehrmals in der Lokalpresse aufgetreten, als Kenner
von Wulffs Anfängen sozusagen. "Einmal Presse, immer Presse",
sagt Auding und steigt in seinen Golf. Von der 10. Klasse an war er
Wulffs Lehrer. Christian rutschte in seine Klasse, weil er
sitzengeblieben war. Sozialkunde Eins, Deutsch Eins, aber wegen einer
Sechs in Französisch hatte es nicht gereicht, und auch Englisch fiel
ihm nicht leicht. "Wie kann man einem Kind eine Sechs geben?",
fragt Auding: "Ich habe solche Lehrer immer für Versager
gehalten. Es ist doch nie aussichtslos." Als der Lehrer, der die
Sechs gegeben hatte, in Pension ging, sei Wulff zu dessen
Verabschiedung gekommen. Auding sagt: "Auch das ist Christian
Wulff."
Das Haus der Audings
macht einen warmen, geordneten Eindruck. Regale voller Bücher an den
Wänden, und Bilder, ein gedeckter Tisch mit weißen Servietten.
Auding selbst, er ist Jahrgang '38, ist in Haltung und Habitus ein
Mann, den man als lebenskluge Respektsperson bezeichnen könnte.
Immer klare Ansagen, sagt er, und Gerechtigkeit, das vor allem.
"Kommt ihr mir dumm, komm ich euch noch dümmer", sei seine
Devise gewesen. Es kam ihm aber keiner dumm. Frau Auding sagt: "Sag's
ruhig, Günter, die hingen doch alle an dir!"
Auding ist
Sozialdemokrat und saß lange im Stadtrat. Er fuhr mit den Schülern
nach Bremerhaven, um ihnen eine Müllverbrennungsanlage zu zeigen.
Nach Berlin, um mit ihnen an die Mauer zu gehen. Für Wulff muss von
Auding eine Anziehung ausgegangen sein, vielleicht, weil er
verkörpert, was Wulff zu Hause nicht hatte: Sicherheit und Klarheit,
Bindungen, die hielten, Verlässlichkeit. "Das war 'ne tolle
Klasse", sagt Auding, "Christian war der Schwächste von
den Leistungen her. Er hatte die kranke Mutter zu Hause, die anderen
haben ihn aber mitgezogen".
Kurz nach
Weihnachten 2000 hat Christian Wulff seinem alten Lehrer bei einem
Klassentreffen eine Biographie über Leibniz geschenkt. "Herrn
Günter Auding mit herzlichem Dank für die Vermittlung der
Grundkenntnisse für das weitere Leben", hat er
hineingeschrieben. Heißt das, dass er, bis er 15 war, niemanden
hatte, der ihm die Grundkenntnisse des Lebens vermitteln konnte?
Wulff sagt: "Ich
glaube, mit einer Mutter und einem Vater in einer funktionierenden
Familie wären mir unterschiedliche Felder eröffnet worden. Diese
Anleitung hatte ich zu Hause nicht."
Gunter Breithaupt,
ein anderer Lehrer, erzählt, dass Wulff ein "wahnsinnig guter
Schülersprecher" gewesen sei. Es habe gar nicht zu seiner sehr
schüchternen, zurückhaltenden Art gepasst, wie er sich da für
andere ins Zeug gelegt hat. Er, Breithaupt, habe immer schon das
Gefühl gehabt, Wulff sei "innerlich ein anderer, dass etwas
anderes in ihm sitzt".
Und Wulff hat doch
Angst, dass er begraben wird im Schloss Bellevue. "Man wird ein
Stück weit älter, glaub' ich, mit dem Amt", sagt er.
Sein Wagen hält am
hinteren Eingang des Osnabrücker Zoos, für dessen Erweiterung die
Landesregierung fünf Millionen Euro bei der EU an Land gezogen hat.
Wulff hat das angestoßen. Afrikanische Wildnis in Niedersachsen, 80
schöne Tiere, die Takamanda-Savanne. Er soll sie eröffnen. Sand
stiebt auf, als die Wagen kommen, bepudert Schuhe und die dunklen
Anzüge. Die Größen der Stadt in einer Wolke aus Sand, ihre Freude
wirkt echt, das Schulterklopfen echt, Mensch Christian, danke, dass
du kommst, sagt Boris Pistorius, ein Schulfreund, Bürgermeister und
SPD-Mann.
Hier ist Wulff
Landesvater, einer, dem es gefällt, in einem überschaubaren
vertrauten Rahmen etwas Neues zu schaffen. Nur ist jetzt nichts mehr
wie früher. Kameras folgen jedem seiner Schritte. Welches Tier mögen
Sie am liebsten?, ruft ein Reporter. "Also, Tapire find' ich
sehr spannend", ruft Wulff zurück, die sind extrem scheu und
vorsichtig und gehen gern dieselben Wege. Man schreibt in den Block:
Sonnt sich in seinem Image. "Manche verabschieden sich hier von
mir, als ob ich beerdigt werde in Berlin", sagt er in seiner
Ansprache, "aber man bleibt ja doch ein Mensch und geht auch in
den Zoo."
Er nimmt sich zwei
Stunden Zeit in der Savanne. Zwei Stunden, in denen er aussieht wie
ein glücklicher Mensch. Wie einer, der nach Hause kommt und weiß,
da ist der Lichtschalter, diese Tür klemmt, und das Radio geht nur,
wenn man ihm einen Klaps gibt. Wenn man den gebügelten, todernsten
und in sich gekehrten Wulff aus dem Kanzleramt vor Augen hat, als
Angela Merkel ihn als "wunderbaren Präsidentschaftskandidaten"
vorstellte, und den Wulff im Zoo, dann sind sie voneinander so weit
entfernt wie die Kunstsavanne in Niedersachsen vom richtigen Afrika.
Am Ende setzt er
sich für ein Foto in einen verrosteten Landrover, von dessen vier
Rädern zwei im Sand stecken. Wulff hat ein Stoffäffchen im Schoß
und lächelt (wenn man die Augen zukneift und sich das Stoffäffchen
wegdenkt) wie Robert Redford in den Kulissen von Jenseits von Afrika
. "Is doch klar, wat ick da drunterschreibe, wenn's nichts wird
mit Bellevue", sagt ein Fotograf: "Hat die Karre in' Sand
jesetzt."
"Man wünschte
sich, dass Christian auch außerhalb von Osnabrück mal Emotionen
zeigen könnte", sagt Pistorius. Wulff steigt in seinen Wagen.
Pistorius, erleichtert, lächelt. An der ersten Biegung hat der Staub
ihn verschluckt.
Wulff sagt im Auto,
er habe sich entschieden, dass es ihm schnurzpiepegal sei, was
Redakteure unter Bilder schrieben. Null Probleme mit Bildsprache,
sagt er. Er wolle das nicht so wie Gerhard Schröder, der sich
niemals auf einer abwärts laufenden Rolltreppe hat fotografieren
lassen, nur weil jemand drunterschreiben könnte: Es geht abwärts
oder so. Wulff sagt: "Die Leute nehmen das doch ganz anders
wahr."
In Niedersachsen
trifft man Menschen, die Christian Wulff auch anders wahrnehmen, als
er öffentlich zu erleben ist. Das Bild, das im Gespräch mit diesen
Menschen entsteht, ist das eines Mannes, der sehr fleißig arbeitet
und diszipliniert, ein Aktenfresser, dem es aber schwerfällt,
Entscheidungen zu treffen und sich festzulegen. Seine Vorsicht stehe
ihm im Wege. Manche nennen die Vorsicht Misstrauen. Der sich manchmal
in Details verknotet und Situationen meidet, in denen von ihm
erwartet wird, dass er inhaltlich Stellung bezieht. Dass er sich
scheue, Konflikte auszutragen. Der Menschen an sich bindet, und sie
von einem Tag auf den anderen fallenlassen kann. Andere sagen, das
liege daran, dass er praktisch kaum Menschenkenntnis besitze, weshalb
er immer wieder Leuten auf den Leim gehe, die eigentlich gar nicht zu
ihm passten. Wenn man Wulff beim Beobachten beobachtet, findet man
Neugierde in seinem Blick. Manche nennen auch die Neugierde Vorsicht.
Es war ein
schwankender Boden, auf dem Christian Wulff mit seinen zwei
Schwestern groß geworden ist. Die Mutter kam aus einer
Industriellenfamilie, ihr Vater hatte einen Furnierhandel. Wulff
sagt, dass ihr alles aus dem Weg geräumt worden sei, zu Hause. Vom
Vater ihrer zwei ersten Kinder trennt sie sich, als Christian zwei
Jahre alt ist, die Scheidung zieht sich Jahre hin. Der Bruch ist so
radikal, dass sie den Kontakt des Vaters mit den Kindern zu
verhindern sucht. Der Vater war Kaufmann. Er kaufte ein Kino, als das
Fernsehen aufkam. "Tja", sagt Wulff.
Sechs Jahre nach der
Scheidung heiratet die Mutter ein zweites Mal und bekommt eine
Tochter. Es ist nicht das, was man eine gute Ehe nennt. "Da war
sehr viel Streit, starke Konflikte", sagt Wulff: "Meine
leise Art kommt natürlich daher, dass ich gesehen habe, wie laut da
agiert wurde, wie krawallig. Innerlich hab' ich mich dagegen
abgeschottet. So wollte ich nicht sein. Ich habe mich dann im
Kontrast definiert."
Wenn man Wulff über
seine Kindheit reden hört, ahnt man, dass sein Maß für Streit
schon in einem Alter voll war, in dem Kinder sonst erst anfangen zu
lernen, wie das geht, sich zu streiten, sich zu reiben an den Grenzen
des anderen.
Als die Mutter schon
erkrankt ist an Multipler Sklerose, verlässt der Stiefvater die
Familie. "Meine Mutter", sagt Wulff, "war nicht sehr
lebenstauglich, und sie konnte Lebenstauglichkeit auch nicht
vermitteln. Sie hat sich über Friseurbesuche und Einkäufe
verwirklicht, über ihre Kinder. Wir trugen Hamburger Schottenkaro,
aber ob das alles gut und richtig war, wird heute sehr zu bezweifeln
sein. Gut gemeint ist ja nicht gut gemacht."
Haben Sie ihr das
nie vorgeworfen, nicht rebelliert?
"Ich hab' da
ganz große Nachsicht geübt. Die Krankheit war dann auch ein solcher
Schicksalsschlag, dass ich sehr viel mehr ertragen, erduldet und
hingenommen habe, als meine Schwestern bereit waren hinzunehmen."
Er verstehe sich sehr gut mit den Schwestern. Jeder müsse das für
sich aufarbeiten. Er lächelt: "Meine Schwestern werfen mir vor,
dass ich meiner Mutter zu wenig vorwerfe."
Christian Wulff hat
sich instinktiv, in der Pubertät schon, ins Politische gerettet. Da
hat er seinen Halt gesucht, eine Familie, weil er spürte, dass er
erschlagen werden würde von dem, was unten in seinem Zimmer in
Atter, gefiltert, ankam.
Das war Flucht?
"Das muss man
heute wohl so analysieren", sagt Wulff.
Mit 16 schreibt er
die Schülerzeitung des Gymnasiums voll. Unter der Rubrik "Zündstoff"
seine "Gedanken zur Bildungspolitik". Ganze Seite,
September 1975: "Jahrelang werden Schüler erzogen, an Lehrsätze
zu glauben: Wer oben steht und doziert, hat recht. Ist es da ein
Wunder, wenn diese Schüler später Gefahr laufen . . . politischen
Heilsverkündern blind zu vertrauen?"
"Christians
Verlobte war die Politik", sagt sein Stiefvater.
Die Nase dieses
Mannes in ihrer unebenen ausufernden Knolligkeit kommt in jeder
Filmrolle gut. Sie war für Hachez in New York, für Hanuta in
Lissabon, für BMW auf Island. "Wollen Sie Plätzchen?",
fragt Wolfgang Carstens. Danke, nein. "Tee?" Nein, danke.
"Was wollen Sie denn? Maa-oo-am!" Carstens hält sich den
Bauch vor Lachen.
Vor ihm auf dem
Tisch liegt sein Personalausweis, als hielte er es für angebracht,
am Anfang des Gesprächs zu klären, dass er die Wahrheit sagt, dass
er jetzt nicht der Paulaner-Mönch oder der Weihnachtsmann im
Schlitten ist, sondern einfach nur: er, Wolfgang Carstens, geboren
1934, Christian Wulffs zweiter Vater. Er lebt nördlich von Hamburg,
umgeben von Raps und Erdbeerfeldern, in einem Mehrfamilienhaus. Auch
wenn er erst im Alter, dank seiner ungewöhnlichen Nase, zum
Darsteller in Werbefilmen wurde, das Gauklerische, Trügerische, der
Rollenwechsel, ist ihm angeboren. Im Gespräch weiß man nicht, woran
man ist, wer er gerade ist, was wahr ist.
"Ich war ein
regelrechter Lackaffe, als ich Christians Mutter kennenlernte",
sagt er, "unter Rolex ging gar nichts." Äußeres sei auch
seiner Frau sehr wichtig gewesen. Carstens wackelt mit den Ohren. Mit
Geld habe er nicht umgehen können. Er hat Versicherungen verkauft,
hat versucht, manches zu Geld zu machen. Richtig gelungen ist das nur
mit der Nase.
Während eines
Urlaubs in Timmendorfer Strand 1975 brach die Krankheit aus. "Meine
Frau stolperte und fiel hin", sagt er. So begann es. Sie habe
sich fallenlassen in die Krankheit, in Trotz und Vorwurf: Ihr seid
gesund, und ich bin krank. Irgendwann sei er psychisch und physisch
am Ende gewesen. Er wollte sie ins Pflegeheim bringen. Der Sohn
wollte die Mutter aber zu Hause behalten. So war dann auch der zweite
Vater weg. Carstens sagt: "Wie kann ein Mann eine kranke Frau
verlassen? Das denken Sie doch jetzt."
Da musste der Sohn
erwachsen sein. Sie haben gestritten über Jahre. Um das Wohnrecht
der Mutter im Haus, um den Unterhalt für seine Tochter. Carstens
sagt: "Ein Prozess jagte den anderen." Wulff sagt, der Mann
habe ihn Jahre seines Lebens gekostet. Erst 1983, als die Mutter
schon fünf Jahre gelähmt ist und die Pflege zu Hause an ihre
Grenzen stößt, bringen sie sie ins Pflegeheim.
Matthias Fenske
steht im wortlosen verlangsamten Geklapper des Speisesaals im
Osnabrücker Küpper-Menke-Stift, wo gerade gegessen wird. Fenske ist
Pflegeleiter und erinnert sich gut an Wulffs Mutter, an den Kontakt
mit ihren Kindern. Er sagt, dass der Sohn der Dreh- und Angelpunkt
der Familie gewesen sei. Er habe es immer geschätzt, dass Wulff ein
Gespür dafür hatte, was mitschwang in Sätzen, die er, Fenske,
sagte, wenn es um Leben und Tod ging, um den Zustand der Mutter. Es
habe nie großer Worte bedurft. Fenske sagt: "Hier wird ja
sieben Tage die Woche gestorben."
Christian Wulff
redet nicht gern über all das. Er sei stolz, es aus diesen
Verhältnissen heraus geschafft zu haben, sein Leben in die Hand zu
nehmen. Aber er weiß, dass Persönliches wichtig ist, wenn man
antritt gegen die Lebensfurchen eines Gauck. "Ein
Ein-Themen-Mann", sagt Wulff, "aber Sie werden mir kein
negatives Wort über ihn entlocken." Er sitzt im Auto zurück
nach Hannover. Es nieselt. Deutschland hat gegen Serbien verloren.
Seine Frau habe den Auftritt von Gauck bei "Farbe bekennen"
toll gefunden. "Fanden ja viele toll. Super 'rübergekommen",
sagt er. Er schaut aus dem Fenster. Es ist eine Kränkung, dass Gauck
im Fernsehen sagen darf, er müsse sich zu diesem oder jenem Thema
erst noch einlesen, zur Wirtschaftskrise zum Beispiel. Und man liebt
ihn dafür. Wulff ist immer eingelesen. Doch bei ihm wird gefragt,
wer seiner Frau das Tattoo gemacht hat. Nein, es werde ihm nicht
schwerfallen, das Parteipolitische loszulassen, sollte er gewählt
werden. "Mir fiel die Oppositionszeit schwer, immer angreifen zu
müssen."
Wenn er über die
erste Begegnung mit Angela Merkel spricht, dann auch über den
Kaffee. Merkel lag 1992 mit einem Knöchelbruch in der Charité, und
Wulff hat sie am Krankenbett besucht. Er trank eigentlich
Filterkaffee, wie es üblich war im Westen. Sie trank den Kaffee
türkisch, wie es üblich war im Osten. "Da schwamm die ganze
Brühe ja drin", sagt Wulff. Er kannte das nicht. Sie mochte es.
Also hat er es auch geschluckt. Es gefällt ihm der Gedanke, neben
der ostdeutschen Pastorentochter aus der Uckermark etwas zu
verkörpern, das er zu Hause nie gehabt hat: das Väterliche.
Albatrosse sind sehr
sichere Flieger, wenn sie erst oben sind. Tausende Kilometer gleiten
sie über die Ozeane des Südens. Aber schwierig sind Start und
Landung, denn da stolpern sie manchmal, und stürzen und überschlagen
sich. Jemand hat Angela Merkel einmal mit dem Albatros verglichen und
dann gesagt, dass Wulff ihr, was die Eigenschaften dieses Vogels
betreffe, in gewisser Weise ähnlich sei.
Da irgendwo kann man
den Präsidentschaftskandidaten finden: zwischen Tapir und Albatros.
Soweit zum Leben von
Herrn Wulff. Zurück |