Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Mauern
ohne Ende
Im Kloster Ettal
wurden über Jahrzehnte Schüler misshandelt, missbraucht, gequält.
Vor vier Monaten kündigten die Mönche an, alle Fälle aufzuklären,
doch die Wahrheit sieht anders aus.
Bastian Obermayer
und Rainer Stadler, SZ-Magazin, 25.06.2010
Seine Vergangenheit
am Internat von Kloster Ettal holt Roman Hofer* am Morgen des 5. März
1999 ein, auf der Bundesstraße B 20 zwischen Straubing und Landau in
Niederbayern. Als er den Verkehr im Rückspiegel beobachtet, kann er
plötzlich seine Augen nicht mehr kontrollieren, sie rollen zur
Seite, sein Puls beginnt zu rasen, er fängt an, heftig zu schwitzen.
Auf der Rückbank sitzt sein sechsjähriger Sohn.
»Was passiert mit
ihm, wenn ich jetzt sterbe?«, schießt es Roman Hofer durch den
Kopf. Er schafft es noch bis zum nächsten Parkplatz und ruft dort
den Notarzt. Im Krankenhaus wird er gefragt, ob er schon mal einen
Herzinfarkt hatte. »Herzinfarkt, mit 35?«, entgegnet Hofer
irritiert, »ich bin Langstreckenläufer, ich trainiere fast jeden
Tag!« Nach fünf Tagen EKG und Betablockern wird er entlassen, ohne
Diagnose, aber mit dem Rat, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Der
hört sich seine Symptome an, dann fragt er: »Junge, wer hat dich in
deiner Kindheit ermordet?«
Wenn die Psyche
eines Menschen von dem überwältigt wird, was ihm das Leben angetan
hat, sendet sie Warnsignale an den Körper, so erklärt es ihm der
Therapeut. Roman Hofer wurde zwischen seinem 12. und 17. Lebensjahr
am Kloster Ettal vom Erzieher Pater Magnus mindestens fünfzigmal
missbraucht; »Sexualverkehr in allen Varianten«, so beschreibt es
Hofer. Nur die Küsse des Geistlichen konnte er abwehren. Zum
Missbrauch durch Pater Magnus kamen die Prügel des Paters Gabriel,
der ihn in der sechsten Klasse regelmäßig wegen schlechter Noten
schlug, mit der flachen Hand und voller Wucht auf den nackten Hintern
des damals Zwölfjährigen.
Nach seinem
Zusammenbruch auf der Bundesstraße fängt Roman Hofer eine Therapie
an, langsam gewinnt er wieder die Kontrolle über sich, die
Schweißausbrüche werden weniger. Zurück bleiben tiefe
Selbstzweifel - und Hass: Fast jedes Jahr denkt er an Ostern darüber
nach, den Festgottesdienst in der Ettaler Klosterkirche zu stürmen
und »rauszuschreien, was für Schweine hier am Werk sind«. Als Ende
Februar 2010 die Zeitungen berichten, im Internat von Kloster Ettal
seien Schüler von Geistlichen sexuell missbraucht worden, kann er es
kaum fassen. Zum ersten Mal wird ihm klar, dass er nicht das einzige
Opfer war.
Die Klosterleitung
scheint schnell und vorbildlich zu reagieren: Der Abt und der
Schulleiter treten zurück, obschon die beiden kein direkter Vorwurf
trifft. Es wer- den Entschuldigungen verlesen, Ansprechpartner für
ehemalige Schüler benannt und ein externer, unabhängiger
Sonderermittler eingesetzt, der die Verbrechen schonungslos aufklären
soll. Am 5. März 2010 tritt der Sonderermittler, der Münchner
Anwalt Thomas Pfister, vor die Presse, auf den Tag genau elf Jahre
nach Roman Hofers Zusammenbruch, und erklärt, im Kloster Ettal seien
zwischen 1960 und 1990 mindestens hundert Schüler von zehn Patres
systematisch misshandelt und missbraucht worden.
Ausgerechnet Ettal,
die bayerische Eliteschmiede, durch die unter anderem
Ex-Ministerpräsident Max Streibl, der frühere Adidas-Chef Horst
Dassler, Theaterintendant Christian Stückl und der oberste
Wittelsbacher Herzog Franz gingen. Sonderermittler Pfister liest 40
Minuten lang vor laufenden Fernsehkameras Leidensberichte von
früheren Internatsschülern vor. Eine ähnlich detaillierte
Offenlegung von Opfervorwürfen hat es bis dahin weder an der
Odenwaldschule gegeben noch an anderen Internaten, die seit Anfang
dieses Jahres von dem Missbrauchsskandal erschüttert werden.
In derselben
Pressekonferenz gesteht ein Pater unter Tränen, selbst ebenfalls
»Kinder brutal misshandelt und gedemütigt« zu haben - ein
Auftritt, der vermutlich in keinem Fernseh-Jahresrückblick 2010
fehlen wird. Bei Roman Hofer keimt 26 Jahre nach seinem Abitur im
Kloster Ettal die Hoffnung, ihm könnte nach all den schrecklichen
Erlebnissen nun endlich so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren.
Drei Monate später
ist von dieser Hoffnung wenig geblieben. Die Zeitungen beschäftigen
sich mit der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, dem Niedergang des
Euro und Lena Meyer-Landrut. Das Kloster Ettal hat die öffentliche
Aufarbeitung des Missbrauchsskandals weitgehend eingestellt und lehnt
Gesprächsanfragen kategorisch ab: Man habe Besuch vom Visitator
erhalten, einem Abgesandten des Papstes, und warte nun auf Weisungen
aus Rom. Auch das zuständige Erzbistum München-Freising schweigt.
Der unbequeme Sonderermittler Pfister darf nicht mehr reden, sein
Auftrag ist beendet, das Mandat ausgelaufen, und das Kloster fordert
ihn bereits per Anwaltsbrief zur strikten Einhaltung der
Schweigepflicht auf.
Dabei gäbe es viel
zu erklären: Wie war es möglich, dass über Jahrzehnte Patres
prügelten und ihre sexuellen Fantasien auslebten, ohne dass die
damalige Klosterleitung, andere Erzieher oder die Eltern eingriffen?
Was passiert nun mit den Tätern? Und was mit den Opfern; ist
angesichts der Schwere der Verbrechen eine Wiedergutmachung überhaupt
denkbar? Aber wer drei Monate nach Bekanntwerden des größten
Skandals in der 680-jährigen Geschichte des Klosters Ettal Antworten
sucht, bekommt nur düstere Andeutungen zu hören, die an Umberto
Ecos Roman Der Name der Rose erinnern: Hinter vorgehaltener Hand ist
von Mönchen die Rede, die gefährlich sind, die hinter den
Klostermauern mit aller Macht die Wahrheit vertuschen; von Mönchen,
die Intrigen spinnen, die bis zum Vatikan reichen; von Mönchen, die
mit dem katholischen Geheimbund Opus Dei in Verbindung stehen.
Wie konnte das
anfangs doch so vorbildlich reagierende Kloster derart schnell seine
Glaubwürdigkeit verspielen?
Tatsächlich - und
das wird jenseits des geheimnisvollen Raunens in den Gesprächen
schnell klar - wurde die Offenheit dem Kloster von Anfang an von
außen aufgezwungen. So traten der Ettaler Abt Barnabas und der
Schulleiter Pater Maurus im Februar keineswegs freiwillig zurück:
Erzbischof Reinhard Marx, der öffentlich auf rückhaltlose
Aufklärung pochte, drängte beide regelrecht aus dem Amt, als
bekannt wurde, dass sie einen Vorfall aus dem Jahr 2005 dem Bistum
verschwiegen hatten. Damals hatten sich mehrere Internatsschüler
beschwert, ein Pater habe sie »an Armen, Körper und Beinen
gestreichelt«.
Der Abt und sein
Schulleiter hielten den Vorfall, den inzwischen die
Staatsanwaltschaft untersucht, nicht für meldenswert - ein klarer
Verstoß gegen die Richtlinien, welche die Deutsche Bischofskonferenz
2002 erlassen hat, um sexuellen Missbrauch in der Kirche zu
verhindern. Auch die Aufsehen erregende Pressekonferenz vom 5. März
empfanden die Mönche nicht als Befreiung, sondern als Demütigung.
Sie nahmen dem Sonderermittler Pfister übel, dass er die Schandtaten
ihrer Brüder derart ausbreitete - 40 Minuten lang - und mit der
vernichtenden Wertung zusammenfasste, am Kloster Ettal hätten Mönche
über Jahrzehnte Schüler »systematisch misshandelt und
missbraucht«.
Und sie waren
aufgebracht darüber, dass Pater Johannes zu jenem Geständnis, er
habe »Kinder brutal misshandelt und gedemütigt«, erpresst wurde:
Ein ehemaliger Schüler hatte eine Stunde vor der Pressekonferenz
telefonisch gedroht, er werde Ärger machen, wenn der Pater nicht mit
genau diesen Worten seine eigenen Verfehlungen einräume. Daraufhin
kroch Pater Johannes, live übertragen vom Fernsehen, zu Kreuze. Nach
dieser erzwungenen öffentlichen Reue versucht das Kloster in den
folgenden Wochen, wieder Herr seiner Entscheidungen zu werden, und
relativiert das so unfreiwillige wie umfangreiche Schuldbekenntnis
Schritt für Schritt.
Im Bayerischen
Fernsehen beschwert sich der ehemalige Ettaler Internatsdirektor
Pater Angelus, dass nun alles in einen Topf geworfen würde, es
handle sich doch nur um »einzelne Fälle, die diesem und jenem
Schüler auch in Erinnerung sein mögen«. Der von mehreren
Ex-Schülern als Sadist beschriebene Pater Gabriel lässt verlauten,
er habe es mit der »sogenannten Null-Bock-Generation« zu tun
gehabt, die nur durch Schläge in den Griff zu bekommen war.
Elternsprecher des
Klosters bestreiten öffentlich die systematische Anwendung von
Gewalt in Ettal und sprechen von vereinzelten Ohrfeigen. Zu den
Missbrauchsfällen heißt es lapidar, Krankheit und Kriminalität
existierten eben überall. In einem Internetforum, in dem mehr als
500 ehemalige Ettaler Schüler über den Missbrauchsskandal
diskutieren, müssen sich Opfer plötzlich als Nestbeschmutzer und
Trittbrettfahrer beschimpfen lassen. Das Kloster selbst verstrickt
sich in einen bizarren öffentlichen Streit mit dem Erzbistum, der
darin gipfelt, dass es dem Bistum per Pressemitteilung vorwirft, bei
der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals Lügen zu verbreiten.
Gleichzeitig beschweren die Mönche sich beim Vatikan über das
Vorgehen und einzelne Mitarbeiter des Bistums.
Nach außen ist die
neue Politik des Klosters spätestens am 14. April sichtbar: Im
Kloster wird der Schlussbericht des Sonderermittlers Thomas Pfister
über den Missbrauch von Schülern vorgestellt - ohne Thomas Pfister.
Die Präsentation hat ein anderer Anwalt übernommen, den das Kloster
kurzfristig verpflichtet hat. Er soll Pfisters Bericht »juristisch
aufarbeiten«, was ein wenig so klingt, als gelte es, Fehler in dem
Dokument zu beseitigen. Beraten wird das Kloster bei seinem
Rückzugsgefecht vom Münchner Anwalt Aribert Wolf, einem früheren
CSU-Politiker. Wolf, der seine Polit-Karriere nach einigen Affären
und zwei erfolglosen Kandidaturen für den Posten des Münchner
Oberbürgermeisters aufgab, war bis 2007 Präsident der
Rhein-Donau-Stiftung, die der erzkonservativen Glaubensgemeinschaft
Opus Dei nahe steht.
Nicht nur das
Münchner Erzbistum findet die neue Linie des Klosters »befremdlich«.
Auch die Opfer bekommen den Kurswechsel zu spüren. Bereits im März
wird ein »Runder Tisch« im Kloster eingerichtet, an dem Opfer,
Vertreter des Klosters und externe Berater über Entschädigung und
Wiedergutmachung diskutieren. Dort nimmt auch Pater Johannes Platz,
der selbst geprügelt hat - für viele Betroffene ein Affront. Vor
allem aber bleiben die Treffen weitgehend folgenlos. Für einen
längst beschlossenen Ort der Besinnung zum Beispiel, der
eingerichtet werden sollte, um der Opfer des Missbrauchs zu gedenken,
hat sich drei Monate später angeblich noch immer kein geeigneter
Raum gefunden, in einem Klosteranwesen mit mehr als 25 000
Quadratmeter Grundfläche.
Aus Sicht vieler
ehemaliger Schüler ist die Krisenbewältigung des Klosters
gescheitert. Sie fühlen sich hingehalten und behandelt wie
Schulbuben. Der Ausdruck vom zweiten Missbrauch macht die Runde. Den
meisten Opfern geht es nicht nur um ihr eigenes Schicksal, sie
empört, wie von Seiten des Klosters und seiner Unterstützer die
Vorfälle aus der Vergangenheit kleingeredet werden. Und wie wenig
tatsächlich passiert.
Roman Hofer, den
wieder Schweißausbrüche und Magenprobleme plagen, seit der Fall
Ettal publik wurde, will sich selbst ein Bild machen. Er fährt im
Mai nach Ettal, um mit dem früheren Abt Barnabas über seine
Schadensersatzforderungen zu sprechen. Nach der Zeit in Ettal litt
Hofer lange unter Kontaktphobie, er stotterte, wenn er Frauen traf,
er scheiterte immer wieder beruflich, er kam nicht von Ettal los.
Jetzt will er entschädigt werden dafür, dass die Mönche an ihm
ihren Sadismus und ihre sexuellen Perversionen auslebten. In Los
Angeles zahlte die katholische Kirche Missbrauchsopfern
durchschnittlich 1,3 Millionen Dollar, hat Hofer gelesen. »Wieso
soll mein Leben der Kirche weniger wert sein?«, fragt er Pater
Barnabas. Der Abt bleibt eine konkrete Antwort schuldig.
Ende Mai, das
Kloster lehnt die dritte Gesprächsanfrage des SZ-Magazins ab. Erst
war es der Visitator, der noch nicht gesprochen hatte, dann der
Schulbetrieb, der nicht gestört werden sollte, und nun sind
Pfingstferien und die Patres »nicht greifbar«, sagt der Sprecher.
Dafür melden sich immer mehr ehemalige Internatsschüler, es hat
sich herumgesprochen, dass das SZ-Magazin an einem Beitrag über das
Kloster Ettal recherchiert. Die meisten Ex-Schüler haben sich
bislang zurückgehalten und sich nicht öffentlich geäußert; sie
wollten dem Kloster Zeit geben. Nun ist ihre Geduld am Ende, jetzt
wollen sie reden.
Es sind erwachsene
Männer, zwischen 40 und 60 Jahren, die stockend aus ihrer Jugend
erzählen, über Stunden hinweg, viele wütend, manche weinend. Fast
alle waren in Therapie, manche haben es bis heute nicht
fertiggebracht, mit ihren Frauen über den Missbrauch zu sprechen.
Und nun sind sie entsetzt, wie man sich in Ettal aus der
Verantwortung stehlen will.
Selbst ehemalige
Schüler, die nicht missbraucht oder geschlagen wurden, empört das
sture Beharren im Kloster auf der Feststellung, Fälle von Missbrauch
und Gewalt habe es am Kloster nur vereinzelt gegeben. Ihre
Schilderungen belegen das Gegenteil: wie sehr der Klosteralltag für
viele Schüler von Angst und Schrecken geprägt war. Bis in kleinste
Details gleichen sich dabei die Eindrücke der Ex-Ettaler, egal ob
sie die Internatspforte 1965 oder 1985 zum ersten Mal durchschritten:
ein Schlafsaal, den sich 40 Schüler teilen, Holzbett, Nachtkästchen,
kein Poster, kein Kuscheltier. Keine Möglichkeit, allein zu sein.
Waschbecken mit
schmiedeeisernen Armaturen. Die ersten Monate kein Kontakt zu den
Eltern. Morgens Schule, dann Mittagessen, zwei Stunden Sport, Musik
oder Freizeit, dann Lernen, Abendessen, noch mal Lernen, eine Stunde
Freizeit, Bett. Am Samstag Schule, am Sonntag Gottesdienst, danach
eine Stunde Briefe schrei- ben an die Eltern, die vor dem Absenden
der Präfekt liest. Und Schläge. Schläge wegen schlechter Noten,
Schläge, wenn der Teller nicht leer gegessen wird, Schläge, wenn
abends im Schlafsaal geredet wird, nachdem das Licht aus ist.
Pater Laurentius
schlägt mit seinem Gürtel, Pater Gabriel mit der flachen Hand,
Pater Godehard schlägt mit allem, was wehtut, und sei es sein
Gipsarm, Pater Johannes mit dem Kleiderbügel, Pater Edelbert mit dem
Stock. Abends läuft Pater Magnus durch die Schlafsäle und greift
nach dem Gutenachtsagen jedem Jungen, der sich nicht wehrt, in die
Schlafanzughose. Die einzige Möglichkeit, den Kummer mit den Eltern
zu teilen: ein Telefonhäuschen, das abends eine Stunde lang benutzt
werden darf. Jeden Abend bildet sich eine Schlange davor, und während
der Erste noch wählt, klopfen die anderen schon ungeduldig ans
Fenster.
»Es war ein
satanischer Ort, ich war nirgends sicher«, sagt Alfons Maier, der
1965 ins Klosterinternat kam und die schlimmste Zeit dort miterlebte,
die Sechziger- und Siebzigerjahre, als fast alle Mönche zuschlugen.
Seine Bilanz: sieben Jahre Ettal, fünf Jahre Therapie, viele Jahre
schwere Depressionen. Pater Godehard hielt ihn an einem Arm zum
Fenster hinaus, im zweiten Stock, und lachte nur, während Maier
dachte, er müsse sterben. Der pädophile Pater Magnus würgte ihn in
der Schwimmhalle mit dem Handtuch so lange, bis er ohnmächtig wurde,
und als er aufwachte, lag der Pater, nur mit der Badehose bekleidet,
über ihm. Besonders der spätere Abt Edelbert hat ihn schwer
misshandelt, Pater Gabriel schlug ihn.
»Ich war allein,
ich hatte niemanden, der mir half«, sagt er, und die Mundwinkel
zucken. Von Mitschülern war keine Solidarität zu erwarten: Sie
duckten sich weg, um nicht selbst den Zorn eines wild gewordenen
Paters auf sich zu ziehen. Und die Eltern? Maier lächelt. »Sie
haben mir nicht geglaubt. Es waren ja Mönche, die uns misshandelten
- das hat keiner geglaubt.«
Wie in jedem
Schreckensregime gibt es auch am Kloster Ettal Privilegierte: Meist
sind es Schüler aus einflussreichen, wohlhabenden Familien, die
schon in dritter oder vierter Generation ihre Kinder auf die
Klosterschule schicken. Gebrochen werden vor allem die Schüler, die
wenig Selbstbewusstsein haben und aus einfachen Verhältnissen
stammen, was für die prügelnden Mönche bedeutet: Aus dem
Elternhaus ist nicht viel Widerstand zu erwarten. Der pädophile
Pater Magnus greift sich vor allem Schüler heraus, denen eine
Vaterfigur im Leben fehlt, Waisen oder Scheidungskinder - auch das
hat System.
Anfang Juni, es gibt
noch keine Kunde vom päpstlichen Visitator, trotzdem stimmen die
Mönche plötzlich einem Treffen mit dem SZ-Magazin zu. Ob die kurz
zuvor ans Kloster versandte Liste mit detaillierten Fragen zu den
Sexual- und Prügelpraktiken der Patres den Anstoß gegeben hat?
Belegte Brote und Gebäck stehen bereit, außerdem »Harmonietee«
aus klostereigener Produktion und gleich vier Patres: Abt Pater
Barnabas, im Februar als Klosterleiter zurückgetreten, Pater Maurus,
im Februar als Schulleiter zurückgetreten, Pater Johannes, der live
im Fernsehen Misshandlungen gestanden hat, und Pater Emmeram, der dem
Kloster seit Februar übergangsweise vorsteht. Er wird im Verlauf des
dreistündigen Gesprächs drei Sätze beisteuern. Auch Rechtsanwalt
Aribert Wolf sitzt mit am Holztisch.
Es folgen plausible
Erklärungsversuche und ehrliche Schuldeingeständnisse - aber auch
Ausreden, offensichtliche Widersprüche, juristische
Spitzfindigkeiten. Die heute verantwortlichen Mönche zeichnen das
Bild eines Internats, dessen Erzieher jahrzehntelang überfordert
waren. Ein Pater betreute 50 oder 60 Schüler, sieben Tage die Woche.
Bis 1980 gab es keinen Sozialpädagogen am Eliteinternat Ettal. In
ihrer Hilflosigkeit hätten viele Patres begonnen zu prügeln.
Geredet habe man darüber aber nicht, auch nicht über den sexuellen
Missbrauch von Pater Magnus, dessen Treiben im Kloster lange bekannt
war.
Dieses Schweigen war
ein Fehler, räumen die Patres heute ein, ebenso wie die Entscheidung
der damals Verantwortlichen, den pädophilen Pater Magnus nach zwei
Suspendierungen wegen Missbrauchsvorwürfen jedes Mal wieder zurück
an Internat und Schule zu holen. »Man sprach mit ihm und dachte, er
würde sein Verhalten schon ändern«, sagt Pater Maurus. Erst im
Jahr 2010 habe das Kloster das volle Ausmaß seiner Taten erkannt.
Zumindest Letzteres
ist wenig glaubhaft: Es gab nicht nur die beiden Zwangsversetzungen
von Pater Magnus in den Jahren 1969 und 1984, jeweils wegen
Missbrauchsvorwürfen, es meldeten sich auch wiederholt ehemalige
Schüler im Kloster und berichteten von den Verbrechen des Paters.
Und dennoch verblieb der Serientäter bis zu seinem Tod im Kreis
seiner Mitbrüder, und auch danach distanzierte das Kloster sich
nicht von ihm: Im Kreuzgang der Klosterkirche befindet sich bis heute
seine Grabtafel, in einer Reihe mit den anderen verstorbenen Mönchen
des Klosters.
Zu einigen Fragen
schweigt die Runde an diesem Abend, etwa als es um die Rolle von
Erzbischof Marx geht, der öffentlich immer wieder die Aufklärung
der Missbrauchsaffäre in Ettal forderte, dem Kloster wohl zu
öffentlich. Und vieles bleibt im Ungefähren: Opferentschädigung?
Im Prinzip ja, in realistischer Höhe. Was genau realistisch
bedeutet, wollen die Mönche nicht erklären. Aufarbeitung? Ja, aber
es dürfe nicht ausufern. »Wir haben ja nicht nur die Aufgabe, die
Vergangenheit aufzuarbeiten, wir müssen uns auch um die Schüler
kümmern, die heute im Internat sind«, sagt Ex-Abt Pater Barnabas,
manche Eltern hätten schon angemahnt, der Missbrauchsskandal dürfe
»nicht zum Dauerthema werden«. Vor allem, weil doch seit 1990 kaum
mehr etwas vorgefallen sei.
Und immer wieder
geht es um die Einordnung der Vorfälle, »systematisch« oder
»schreckliche Einzelfälle«? Letztlich bleibt es dabei: Die Mönche
wollen in den Verbrechen kein System sehen, weil es niemand gab, der
den Missbrauch und die Gewalt gesteuert hat. Dass aber fast alle im
Kloster den Missbrauch und die Gewalt hinnahmen und über Jahrzehnte
niemand im Kloster den Missbrauch und die Gewalt verhinderte, blenden
die Mönche heute aus.
Ein zweites Treffen,
einige Tage später im Garten der Klostergaststätte. Dieses Mal
spricht nur Abt Barnabas, der, obwohl als Leiter längst
zurückgetreten, offenbar weiter die Linie des Klosters vorgibt, und
zum ersten Mal spricht er auch über die Reaktion des Klosters auf
den Missbrauchsskandal: »Wir waren mit vielem, was über uns
hereingebrochen ist, total überfordert. Auch ich war blauäugig,
aber ich bin Lehrer und Theologe, und kein Psychologe oder Jurist.
Deshalb waren und sind wir auf Rat von außen angewiesen.« Wenige
Tage später ist zu erfahren, dass die Mönche zumindest auf den Rat
des umstrittenen Ex-Politikers und Anwalts Aribert Wolf künftig
wieder verzichten wollen.
Vielleicht war es
tatsächlich die Unbedarftheit, vielleicht auch die nackte Angst um
den Fortbestand des Klosters, die die Mönche daran hinderte, die
Verbrechen der Vergangenheit entschiedener aufzuklären. Darüber
hinaus lässt es die Klosterleitung aber auch an Konsequenz
vermissen, wenn sie zwar Pater Rupert und Pater Gabriel ihrer
seelsorgerischen Pflichten enthebt, als im Februar die ersten
Vorwürfe gegen sie laut werden, Pater Johannes als Wirtschaftschef
des Klosters jedoch in Amt und Würden bleibt, obwohl er im März
selbst einräumt, brutal zugeschlagen zu haben.
Für viele Opfer ist
es mittlerweile unerheblich, ob das Kloster während der vergangenen
Wochen bewusst getäuscht oder nur stümperhaft gehandelt hat. »Ich
will keine salbungsvolle Entschuldigung, das interessiert mich
nicht«, sagt zum Beispiel Alfons Maier, »ich will Vergeltung, auch
finanziell. Ich habe meinen Preis bezahlt. Jetzt ist das Kloster an
der Reihe.« Mit anderen Betroffenen hat er sich zu einer
Opfergemeinschaft zusammengeschlossen, deren Verhandlungen der
Münchner Rechtsanwalt Stefan Lang führen wird. Lang vertrat bereits
Kapitalanleger im Streit mit der Telekom und Kunden, denen Banken
wertlose Immobilien angedreht hatte.
Er weiß, dass
einzelne Kläger gegen solch übermächtige Gegner wenig erreichen
können - eine ganze Gruppe von Klägern dagegen schon eher.
Schadensersatzverhandlungen vor Gericht wird es wohl nicht geben. Die
Staatsanwaltschaft München ermittelt zwar noch gegen drei Patres,
die meisten Straftaten am Kloster sind jedoch längst verjährt. Der
moralische Druck wird das Kloster aber wohl zwingen, einem
außergerichtlichen Täter-Opfer-Ausgleich zuzustimmen. Welche Summen
am Ende dieser Verhandlungen auf das Kloster zukommen, ist völlig
offen; für eine Oberschenkelfraktur oder ein Schädel-Hirn-Trauma
gibt es in Deutschland Schmerzensgeldtabellen, nicht jedoch für die
Folgen von sexuellem Missbrauch eines Kindes über Jahre hinweg.
Neben einmaligen
Entschädigungsleistungen fordert Lang, der selbst in Ettal Abitur
machte, einen Opferfonds für künftige Notfälle. »Wer sagt uns
denn, dass ein Betroffener nicht vielleicht in fünf oder zehn Jahren
eine Therapie benötigt?«
Ein Anwalt aus
Nordrhein-Westfalen, der vorerst anonym bleiben will und nach eigenen
Angaben 32 Opfer aus Ettal vertritt, geht einen völlig anderen Weg:
»Wir sprechen überhaupt nicht mit dem Kloster. Wir warten, bis die
Mönche zu uns kommen, und sie werden kommen.« Er will das Kloster
bloßstellen, öffentlich, vielleicht mit einem Theaterstück auf
einer Wiese vor den Toren des Klosters, in dem all die Misshandlungen
nachgespielt werden. Vielleicht mit wöchentlichen Anzeigen in
überregionalen Zeitungen, in denen nur zu lesen sein wird, das
Kloster werde nicht davonkommen mit diesen Verbrechen. Vielleicht
auch etwas ganz anderes, genug Geld für seine Aktion hat er schon
beisammen, sagt er, etwa zwei Millionen von Geldgebern, deren Namen
er nicht preisgeben möchte.
Der Mann lächelt.
»Juristisch können wir dem Kloster nichts, ist alles verjährt.
Aber wir können sie in die Enge treiben, und das werden wir. So
lange, bis sie uns fragen, was sie tun sollen, damit wir aufhören.«
Dann will er ihnen eine Summe nennen: eine Viertelmillion Euro, für
jedes Opfer. Für die Opfer dauert der Missbrauchsskandal nun schon
Jahrzehnte an, für das Kloster hat er gerade erst begonnen.
* Namen von der
Redaktion geändert Zurück |