Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Wer
macht‘s?
Es war ein Sommer
der Rücktritte. Köhler, von Beust, Koch - sie sind aus dem Amt
geflüchtet und haben dadurch ein ganzes Land verstört. War Politik
nicht mal Lebensaufgabe? Warum sind Einstieg und Abschied so
schwierig? Eine Reise zu den Politikern von gestern und von morgen
Von Lorenz Wagner,
Financial Times Deutschland, 27.08.2010
Sie haben Stoiber
nicht erkannt. Und das im Bayerischen Hof! Haben ihm den letzten
Platz gegeben auf ihrer Dachterrasse, wirklich den allerletzten.
Gleich neben dem Grill. Rauch wabert um ihn herum, nach einer Minute
schon riecht sein Sakko nach Curry, genauer gesagt nach Grünem
Thai-Chicken-Curry mit Paprika und Frühlingszwiebel, es wird gerade
drei Schritte entfernt gebrutzelt.
Doch das regt
Stoiber nicht auf. Was anderes regt ihn auf. Der Ole von Beust.
Dieser Pflichtenflüchtling! Was heißt amtsmüde!? Verbraucht!?
"Da sag ich
nur: Bist gewählt, hast dich gestellt, hast einen Vertrag
unterschrieben, also: Dann liefer auch ab. Was der Beust macht,
seinen Vertrag brechen, das kannst du vielleicht im Fußball machen,
aber nicht in der Politik."
Er hebt den Arm,
winkt den Kellner ran. Ein Helles. Und so ein Curry.
"Wenn ich mich
zur Wahl stelle, mach ich das bis zum Schluss. Dann muss schon
Außergewöhnliches passieren. Was mit der Gesundheit. Was der
Steinmeier jetzt macht, das ist honorig. Seine Frau ist krank, und er
nimmt eine Auszeit. Aber der Beust oder der Köhler, davon hab ich
genug."
Prost.
"Heute scheint
alles wurscht zu sein!" Stoiber schüttelt den Kopf, schimpft
weiter vor sich hin, wie Aloisius, der Münchner, der mit seinem
Granteln einst den ganzen Himmel in Aufruhr versetzte. Ja, was ist
nur los in diesem Land?
Es ist wahrlich ein
seltsamer Sommer für Deutschlands Politik! Der Bundespräsident warf
hin. Zwei Ministerpräsidenten sind gegangen, erst Ole von Beust,
dann Roland Koch. Sie hatten keine Lust mehr, wollten nicht mehr
Politiker sein.
Und damit haben sie
das Land aufgeschreckt. So etwas hat es noch nie gegeben. Das passt
in keine Schublade, verstößt gegen eine Grundregel der Politik: Man
geht nicht einfach so. Diese Rücktritte haben Deutschland kurz
innehalten lassen. Im Bundestag, in den Landesparlamenten, in den
Ortsräten - überall haben die Menschen darüber gesprochen und
gestritten. Haben sich Fragen gestellt, die sich nun auch Stoiber
stellt: Was ist los in diesem Land? Ist die Politik nicht mehr, was
sie mal war? Lebensaufgabe jedenfalls scheint sie nicht mehr zu sein.
Ob er etwa mal
Ministerpräsident werden will, wie sein Vater? Dominic Stoiber
zögert und blickt auf sein Curryhuhn. Kein Wunder, dass ihn im
Bayerischen Hof niemand erkannt hat: Wie Edmund sieht er nun gar
nicht aus. Kaum Haare, runde Backen, Bauch - bayerisch wie sein
Zungenschlag.
Auf diese Frage,
sagt er, kann er nicht antworten. Egal was er sagt, es schadet ihm.
"In der Wirtschaft nennt man so was Gefangenendilemma." Er
lächelt. "Sie sagen ja auch nicht, Sie wollen Trainer werden
beim FC Bayern. Das entscheiden andere."
Er ist 30 Jahre alt.
Papa wollte nicht, dass er in die Politik geht. "Tu dir das
nicht an, nicht mit diesem Namen", hat er gesagt. Dominic hatte
ja selbst erfahren, was das Amt mit sich bringt: die Polizeistation
vorm Haus in Wolfratshausen; die Strandferien, die Papa im
Hotelzimmer verhockte, mit dem Hörer am Ohr. Die Angst vor der
Presse, die einen umschleicht. Sie bremste ja auch ihn, als
Jugendlichen: "Da können Sie nicht besoffen in der Ecke
liegen."
Und so hat Dominic
lange gezögert. Er hat Politikwissenschaft studiert, sich bei Pro
Sieben vorgestellt, heute ist er Produktmanager für die Marke Sat 1.
Ganz aber hat ihn
die Politik nicht losgelassen. Er hat ja auch die schönen Seiten
gesehen: die Fußballer, die der Vater treffen durfte; die großen
Dinge, über die er entschied, manchmal erzählte Papa davon in der
Sauna, fragte nach seiner Meinung, etwa über diese Killerspiele, die
er verbieten wollte. "Vergiss es", hat der Sohn gesagt. Sie
haben lange debattiert. Und Dominic hat nicht nachgegeben. "Du
musst deine Meinung immer verteidigen."
So wurde er Chef der
Jungen Union in Wolfratshausen und vor zwei Jahren Bezirksrat. Und
bald sah sein Leben so aus: Um sechs aus dem Bett, an der Promotion
schreiben, um acht in die Firma, am Abend und am Wochenende:
Sitzungen, Vorträge, Wähler treffen. Wer will, schreibt Stoiber auf
seiner Internetseite, den besucht er zu Hause. Er bringt sogar Kuchen
mit.
Er weiß, lange kann
er das nicht mehr machen. Es kommt der Tag, an dem er sich
entscheiden muss. Kommt ein gutes Mandat, ist er verloren für die
Wirtschaft. Kommt ein gutes Angebot von einer Firma aus New York oder
China, wo er schon während des Studiums war, ist er verloren für
die Politik. Gerade haben zwei Talente in Wolfratshausen aufgegeben,
erzählt er, einer ist nach Berlin, einer nach Zürich, als Manager.
Und was wird aus ihm? Dominic Stoiber ist der Vertreter einer
politischen Generation, die am Scheideweg steht.
Eschborn, bei
Frankfurt. Der Wahlkreis von Roland Koch. Der Rathausplatz, das
Eiscafé Adriatico. Zwei junge Männer. Beide in Jeans. Beide in
Kurzarmhemd. Nett sehen sie aus, jünger als Anfang 20: Flaum am
Kinn, neugierige Augen. Frederic Schneider und Stephan Berger von der
Jungen Union. Vor ihnen Milchshakes, einmal Vanille, einmal Erdbeere.
Hier im Eiscafé haben sie für Koch Wahlkampf gemacht. Hier werben
sie Mitglieder, was gerade schwerfällt. Allen Grund hätten sie, auf
Koch sauer zu sein.
"Ich bin nicht
wütend", sagt Frederic.
"Ich auch
nicht", sagt Stephan.
Sie sind nur
traurig. Drei Monate ist es her, dass Koch gesagt hat, Politik sei
nicht mehr sein Leben. Die beiden sitzen da, starr und verstört, als
sei es gestern gewesen.
"Ich habe es
nicht geglaubt", sagt Frederic. "Ich habe eine SMS an einen
Freund geschickt: 'Ist das ein Scherz?`."
Schweigen.
"Ich kann ihn
verstehen", sagt Stephan.
Frederic zögert.
Roland Koch ist doch sein Vorbild. Wie stolz er war, in die JU
Eschborn einzutreten, Koch hat sie gegründet. "Ich kann ihn
verstehen, als Mensch", sagt er irgendwann. "Aber ein
Politiker hat auch eine Verpflichtung."
Wie er das meint?
Ach, er weiß auch nicht. "Und was wird aus Eschborn?",
fragt er.
Milchshake-Geschlürfe.
Frederic strafft
sich: "Ich möchte weiter in die Politik", sagt er. "Wie
Roland Koch."
"Ich möchte
lieber in die Wirtschaft gehen", sagt Stephan.
"Man kann mit
Politik Dinge verändern", beharrt Frederic.
"Ob ich 100 000
verdiene oder 200 000, das ist ein Unterschied."
"Geld ist nicht
alles."
"Aber in der
Politik hängt doch alles von Zufällen ab, siehst du doch jetzt."
Schweigen.
"Ja, stimmt.
Eines habe ich jetzt gelernt", schließt Frederic. "Ich
muss eine Ausbildung machen. Ich muss mich absichern, falls ich mal
zurücktrete."
Nie hätte er
gedacht, dass es so übel enden würde. So voller Wut ist er, voller
Erschrecken, er muss es loswerden, Tag für Tag sitzt er in seinem
Büro und tippt und tippt, "Bankleere" soll sein Buch
heißen, es handelt von einem doppelten Desaster - dem einer Bank und
dem seines politischen Lebens.
Es ist die
Geschichte eines Mannes, der im Herbst 2008 mehrere gute Posten
aufgab, sich in Kiel eine Wohnung kaufte, mit Blick auf die Förde,
weil er glaubte, von der Wirtschaft in die Politik gehen zu müssen.
Der Mann heißt Werner Marnette, wird oft Napoleon von Hamburg
genannt und war einst Chef der Norddeutschen Affinerie. Napoleon hat
seine Schlacht verloren, und seine Wohnung ist längst vermietet. Nur
Monate dauerte sein Abenteuer.
Es war nicht der
politische Alltag, der Marnette zermürbte. Dass seine Worte auf
einmal keine Befehle mehr waren. Dass seine Vorschläge in
Ausschüssen weichgekaut wurden, bis sie nur noch Brei waren, für
alle leicht verdaulich. Das nahm er hin. Was er nicht hinnehmen
konnte, war der Skandal um die HSH Nordbank, die sich verzockt hatte.
Mit 3 Mrd. Euro
Soforthilfe mussten Hamburg und Schleswig-Holstein die Landesbank
retten, ihr für 10 Mrd. Euro Kreditgarantien gewähren. Die
Regierungen taten es, ohne wichtige Fragen zu stellen, behauptet
Marnette. Die Bank muss nun aufgeteilt teilt werden, 100 Mrd. Euro
gehen in eine Bad Bank. Der Haushalt von Hamburg und
Schleswig-Holstein ist gerade mal 20 Mrd. Euro groß, sagt Marnette.
"Wenn das schiefgeht, können Sie in Hamburg keine Lampe mehr
reparieren."
Und wer ist schuld?
Auch die Politiker. Sie berauschten sich an der Idee, dass die
Landesbank die Welt erobern und Millionen scheffeln könnte. Eine
irre Rendite von 17 Prozent forderten sie von den Bankern - und
verleiteten so zur Zockerei. Was die Banker genau machten, das
verstanden nur wenige. Allein diese englischen Fachbegriffe bei den
Aufsichtsratssitzungen! Die meisten hatten, wie sich später
rausstellen sollte, nicht mal den Mut zu fragen, wenn sie die
Ausdrücke nicht verstanden.
Ja, Politiker können
Übles anrichten.
Wie soll einer, der
gewählt wurde, weil er sich auf jedem Stadtfest blicken lässt oder
den Bau einer Bundesstraße verhindert hat, in der Lage sein, über
Milliarden zu entscheiden?, fragt Marnette.
"Wir brauchen
andere Politiker. Leute, die Fachbegriffe verstehen. Die zwischen
Wirtschaft und Politik hin und her wechseln."
Allein: Das wird
nicht kommen. Und daran ändern auch die Rücktritte nichts. Marnette
glaubt ihnen nicht, von Beust und Koch, die sagen, sie wollten sich
nun im Geschäftsleben beweisen. Nein, es sei nicht der Auftakt eines
großen Wechselspiels.
"Der Beust hat
doch nur Angst vor dem, was mit der HSH Nordbank noch auf Hamburg
zukommt."
"Und was Koch
sagt, ist scheinheilig. Ich kenne ihn gut, hab bei der Verkündung
gleich gesehen, wie es in ihm aussieht. Er hätte sagen sollen: Ich
kann nicht Kanzler werden, nicht Finanzminister, also gehe ich."
Nein, diese
Rücktritte seien ohne Botschaft für dieses Land. Ohne Belang.
Er, der alte Mann,
hat kein Vertrauen mehr in die Politiker seiner Generation. Mit
seinen 64 Jahren sehnt er sich nach Jungen, die es anders machen.
Jeder in der Wirtschaft wünscht sich den Wechsel, sagt er. Allein,
sie tut nichts dafür. Sie leiht Talente nicht aus, hält keine
Plätze frei für Rückkehrer. In Deutschland muss man wählen
zwischen Karriere und Vaterland.
Hat er Talente gehen
lassen, als Chef der Norddeutschen Affinerie?
"Nein. Das muss
ich zu meiner Schande gestehen."
Wo aber sind sie,
die Jungen, nach denen sich Marnette sehnt? Die freien Geister, die
Wandler zwischen den Welten. Fragt man in Berlin rum, fallen immer
wieder zwei Namen: Hildegard Müller und Christian Lindner. Sie ist
43 Jahre, war Staatsministerin im Kanzleramt und hat Angela Merkel
verlassen, um in der Wirtschaft Karriere zu machen. Er ist 31,
Generalsekretär der FDP und wird gefeiert als eines der großen
Talente der deutschen Politik.
Die Bundeskanzlerin
im Stich zu lassen! Sich dieser Position zu berauben! Sie habe lange
gerungen, sagt Hildegard Müller. "Ich habe mich gefragt: Macht
man das?"
Wie gut erinnert
sich Müller an den Tag, als Merkel fragte, ob sie ins Kanzleramt
kommen wolle. Ihr Herz machte einen Sprung. Einen Tag nur hat sie
überlegt. Ja, natürlich. Fortan arbeitete sie da, wo die Macht
sitzt, nahm Teil an den Morgenlagen, war Merkels Verbindungsfrau zu
den Ministerpräsidenten, auch zu denen, die nun hinwerfen.
Ja, sagt Müller.
Die Rücktritte sind ein großes Thema in Berlin. Parteifreunde aus
der Union sind zu ihr gekommen, Leute, die sich auf einmal vorstellen
können, rauszugehen aus der Politik: Sag mal, wie war das denn bei
dir?
Es war nicht leicht.
Auf einmal, 2008, kam dieses Angebot. Ob sie Chefin werden wolle des
Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, Cheflobbyistin von
1800 Unternehmen.
Lange Wochen dachte
sie darüber nach. Es war nicht allein der Gedanke an Merkel. Nicht
nur die Angst zu versagen. Nein, es war mehr.
"Es war eine
Lebensentscheidung." Die wichtigste ihres Berufslebens. "In
Deutschland kannst du vielleicht von der Wirtschaft in die Politik
gehen und später zurückkommen. Aber umgekehrt, das ist selten
möglich. Der Weg von der Politik in die Wirtschaft, das ist oft eine
finale Entscheidung."
Ein Abschied für
immer.
Nun sind zwei Jahre
vergangen. Das neue Leben ist fast wie das alte: Konferenzen, Treffen
mit Managern, Werben für die eigene Sache. Ihr altes Leben hilft
ihr, nicht nur die Kontakte: Sie kennt keine Angst, Leute
anzusprechen. Sie kann über Erfahrungen reden, die Manager selten
machen, von Besuchen in Kinderhospizen und Gesprächen mit dem
Botschafter von Israel. Sie hat gelernt, Kompromisse zu schließen.
Was sie in der Großen Koalition hinbekam, klappt auch bei diesem
Verband, der sich nach einer Fusion zusammenraufen muss.
Und das neue Leben
hat seine schönen Seiten. Sie wird nicht mehr an der Kasse bei
Kaiser's erkannt. "Wo du denkst: Hättest dich besser mal
zurechtgemacht." Sie muss keine Klatschfragen mehr beantworten
nach dem Mann in Heidelberg oder ihrer Tochter.
Das ist wohl der
größte Unterschied zwischen der Arbeit eines Topmanagers und eines
Spitzenpolitikers, der Verlust an Freiheit ist ungeheuer für
Politiker, sobald sie aus der Haustür gehen, ist es vorbei mit der
Freizeit, es gibt kein Wochenende, keinen Feierabend, kein
Alleinsein, fast alles wird gesehen und bewertet, selbst das Private
ist politisch: Merkels Wandern in Südtirol, Steinmeiers
Nierenspende, Hildegard Müllers Babypause.
"Ich bereue
nichts", sagt Müller über ihren Abschied.
Nur manchmal, spät
am Abend, wenn das Fernsehen über Merkels Kabbeleien mit den
Ministerpräsidenten berichtet, über die Gesundheitsreform, IHRE
Themen, dann packt sie ein wenig Wehmut. Sie nennt es
"Phantomschmerz": Schade, dass sie nicht dabei sein konnte,
bei diesem Telefonat, jener Entscheidung. "Dann frage ich mich:
Was hätte ich getan?"
Christian Lindner
trägt eine Jeans. "Das ist wichtig", sagt er. Gerade hat
er ein Porträt über sich gelesen. Darin steht, er trage nur
Maßanzüge. "Ich trage keine Maßanzüge." Und in einem
anderen steht, er fahre Porsche. "Ich fahre keinen Porsche."
Sie ärgern ihn, diese Artikel. Und diese Briefe: weil er sich nicht
rasiert. Weil er den falschen Schlips trägt. So ist es, seit er
Generalsekretär wurde, mit 31 Jahren.
Die Zukunft liegt
glänzend vor ihm. Er sehe aus wie sein Vorbild, Steve McQueen,
schreiben die Zeitungen. "Er ist nicht mein Vorbild", sagt
Lindner. Er könne reden wie kaum ein anderer, schreiben sie. Dazu
sagt er nichts. Nach seiner ersten Rede im Bundestag lobte
Bundestagspräsident Norbert Lammert von der CDU: "Hätte man
mir nicht ausdrücklich mitgeteilt, dass dies Ihre erste Rede im
Parlament ist, ich wäre nicht drauf gekommen." Als sich Lindner
im April der Partei vorstellte, stand er da, 50 Minuten, ohne
Manuskript, und redete und redete, und die Partei klatschte und
klatschte. "Eine Frage der Freiheit" hatte er seine Rede
betitelt.
Er ist über die
Philosophie in die Politik gekommen. Spricht über induktive und
deduktive Dialektik, über die Freiburger Thesen, die ihm sein Vater
schenkte, als er 15 Jahre alt war. Und er spricht über die
"Rösler-Doktrin", wie er sie nennt, das Begreifen von
Politik als Projekt. Das ist nichts für ihn, sagt er. "Politik
ist das Sinnvollste überhaupt. Sinnvoller, als den Profit eines
Konzerns zu steigern."
Für die Politik hat
er seine Werbeagentur aufgegeben, die ihm früh Geld und
Verantwortung brachte. Für sie hat er so vieles aufgegeben, er ist
nur noch Generalsekretär, nur noch Funktion. Und in dieser lernt er,
was alle lernen müssen. Jedes Wort bekommt Gewicht. Ein Halbsatz
kann die Koalition in eine Krise stürzen. Er nennt das
"Exponiertheit".
Und so hat er
gelernt, Dinge nicht zu sagen.
Wie er seine Zukunft
sieht? "Ich lege mich nicht fest. Das wäre töricht."
Er verstummt.
"Sehen Sie,
jede Aussage muss ich mir überlegen."
Pause.
"Das lässt
mich scheu sein. Oder, ,scheu` ist das falsche Wort. Sehen Sie, da
ist es wieder. Man kann das nicht spielerisch angehen."
Er schiebt Worte im
Mund hin und her, prüft, ob er sie freilassen kann.
"Was kann ich
tun?", fragt er schließlich. "Wenn Sie nur präzise
sprechen, kriegen die Leute den Eindruck: Das ist ein Irrer. Sprechen
Sie aber frei, wie ich jetzt, ist das nicht klug, Sie öffnen
gefährliche Flanken."
Schweigen.
"Die Zitate
stimmen wir ab, nicht wahr?"
So spricht Christian
Lindner, einer der besten Redner der deutschen Politik. Es ist nicht
nur die Politik, die ihre Talente verbiegt, es sind auch die
Halbsatztrüffelschweine in den Redaktionen.
In Kiel gibt es ein
Wohnzimmer, in dessen Regalen stehen 123 Kaffeekannen, und auf dem
Boden liegen Stofffetzen, überall, auf dem Parkett, auf dem Berber,
vor dem Sofa, kreuz und quer, in allen Farben, kleine Quadrate. Es
ist das Wohnzimmer einer Frau, die vor vier Jahrzehnten in die
Politik gegangen ist, einer Frau, die heute Bilanz zieht und sagt:
"Ich wollte die Welt verändern und hab am Ende nur noch
versucht, mich nicht zu verändern. Es war sinnlos." Diese Frau
heißt Heide Simonis. Sie ist 67 Jahre alt.
"Wir müssen
uns an den Esstisch setzen", sagt sie. "Ich nähe einen
Quilt." Darum die Stoffquadrate. Simonis nimmt auch
Gesangsunterricht. Und sie brütet über einem Kriminalroman. Und die
Kaffeekannen, die sieht man ja. Im Treppenhaus stehen auch welche.
"Eigentlich",
beginnt sie das Gespräch, "wollte ich nie in die Politik. Oder
nur kurz." Damals in den 60er-Jahren kam sie aus Afrika zurück,
in Sambia hatte sie mit ihrem Mann Entwicklungshilfe geleistet. Sie
wollte weiter etwas tun für diese Menschen. Und für die
Emanzipation der Frau kämpfen. Sie ging in die SPD. Heide Simonis
wurde Deutschlands jüngste Abgeordnete. Deutschlands erste
Ministerpräsidentin.
Von Anfang an ging
sie rein in die Männerzonen, Haushalt und Finanzen wurden ihr
Fachgebiet. Und sie zeigte den Männern, wie hart sie sein konnte.
"Wenn ich mich geärgert habe, habe ich nicht gesagt: 'Mach das
bitte nie wieder.` Ich habe gesagt: 'Wenn du das noch mal machst,
schneid ich dir die Eier ab.`"
Sie war eine, die
austeilte. Und eine, die ertragen konnte. Als sie Ministerpräsidentin
war, erkrankte sie an Krebs. Am Tag nach der Operation quälte sie
sich zu einer Ehrung, den Tropf unter einer Stola versteckt. "Wenn
Sie da sitzen, mit blutleeren Lippen und die Hände zittern, dann
scharren die Nachfolger mit den Füßen. Also schminkt man sich und
beruhigt die zitternden Hände."
Sie wollte keine
Schwäche zeigen. Wollte sich ihren vielen Feinden nicht ausliefern,
ihnen die Macht nicht überlassen. Simonis war in die Macht verliebt,
sie war ihr verfallen.
Sie ist da so
reingeraten. "Sie sind eine kleine Abgeordnete, sie stürzen
sich in die Arbeit und vergessen die Zeit. Schwups, wieder eine
Legislaturperiode vorbei. Sie steigen auf. Und gewöhnen sich daran.
An immer höhere Gaben. Und irgendwann brettern Sie durchs Leben. Sie
haben einen Fahrer. Eine Büroleiterin. Eine Reisestelle. Am Freitag
gibt man Ihnen einen Plan für die nächste Woche, einen
'Kinderlandverschickungsplan`. Sie müssen nie überlegen. Sie werden
zu einem netten, klugen Menschen gemacht. Vor dem Termin kriegen Sie
einen Zettel, da steht drauf, was Sie wissen müssen. Und nach dem
Termin holt Sie jemand ab. Sie vergessen keinen Geburtstag. Sie
kommen nie zu spät. Sie müssen sich nie um einen Parkplatz kümmern.
So war mein Leben. Und irgendwann sagen Sie sich etwas, das als
unfein gilt: 'Ich will das mein Leben lang machen.`"
Aber Roland Koch
sagt das doch nicht. "Ha! Da lach ich. Fromme Lügen. Da
schwillt mir der Hals. Der geht nicht einfach so."
Heide Simonis kann
sich nicht vorstellen, dass man einfach so geht. Sie ist der Typ
Politiker, wie ihn unser Land kennt. "Pattex-Heide" wurde
sie genannt, wurde verlacht, als sie in einem Interview sagte: "Wenn
mich auf fünf Schritten keiner erkennt, werde ich depressiv."
Sie kann die Häme heute noch nicht verstehen. Raus aus der Politik?
"Wo sollte ich denn hingehen? Wo kriegen Sie solch eine
Aufmerksamkeit? Solche Möglichkeiten? Gerade als Frau? Ich bin ein
Machtmensch, ich bin doch nicht Mutter Theresa."
Und dann kam der
Tag, als sie alles verlor, der 17. März 2005. Sie wollte sich zur
Ministerpräsidentin wählen lassen. In ihrem Büro stand der Sekt.
Doch einer stimmte gegen sie, aus ihrer Partei. Erster Wahlgang,
zweiter, dritter, vierter. Und sie saß da, fahl, mit offenem Mund.
"Ich habe mir nur noch gesagt: 'Du heulst nicht.`"
Seitdem ist sie
nicht mehr in der Fraktion gewesen. Sie wollte nicht dem Menschen
gegenüberstehen, der sie so gedemütigt hat. Wie gern wüsste sie,
wer der Verräter war: der Heide-Mörder. "Ich bedaure das so,
dass ich ihm nicht sagen kann: 'Was bist du doch für ein
Arschloch.`"
Er hat sie in ein
Dasein katapultiert, mit dem sie nicht klarkommt. "Wenn einer
nach 30 Jahren Politik sagt: So, jetzt gehe ich zurück in mein altes
Leben, dann ist das Quatsch."
Sie konnte nicht in
ihr Leben zurück. Sie musste es neu lernen. Sie fährt zum Flughafen
- und, oh, sie braucht ja ein Ticket, was nun? Und dieses Autofahren!
Jede Parklücke ist ein Abenteuer. Und ständig kriegt sie Knöllchen,
sie weiß gar nicht, warum. Und die Geburtstage, die sie vergisst.
Und Morgen für Morgen muss sie sich in der Zeitung zurechtfinden -
"dieses Blättern und Suchen!", früher hat man ihr das
Wichtige ausgeschnitten. Und überhaupt: Was tun mit der Zeit? Am
Montag, wenn sie nach Berlin fuhr? Am Dienstag, wenn sie die Fraktion
traf? Sie tanzte in der Fernsehshow "Let's dance".
"Hoppel-Heide" spottete die "Bild-Zeitung".
"Es war doch
für einen guten Zweck", sagt Simonis. "Und ich bin nicht
die Einzige, die gern vor der Kamera steht." Es sei doch ihr
Recht. "Wäre das nicht passiert, ich wäre ja noch drin. Jetzt
gerade wäre Wahlkampf."
Pause.
"Na ja, aber
ich wäre nicht so berühmt geworden", sagt sie und lächelt
schief. "Man kann nicht alles haben."
Sie muss zu einem
Termin. Sie schlurft das Trottoir hinauf, gebeugt, den Blick gesenkt,
die Kopfhaut schimmert weiß durchs rötliche Haar. Ein Passant
schaut ihr eine Weile hinterher, der berühmten Heide. "Wer ist
das noch mal?", fragt er.
In Frankfurt,
versteckt hinter Hecken und einer Gittertür, liegt ein verwunschener
Garten mit Wegen, Rosen, Efeugeranke und einem Teich, der vor sich
hin plätschert. Es ist der Garten eines Mannes, der in der Politik
alt geworden ist, ohne unglücklich zu werden. Heinz Riesenhuber,
CDU, erst Topmanager, dann Forschungsminister und heute, mit 74
Jahren, Alterspräsident im Bundestag. Er trägt im Garten Fliege und
goldene Knöpfe und ein wissendes Gesicht zur Schau, eines, das
Hoffnung macht.
Weiß er, wie es
gehen kann? Was los ist in diesem Land, das seinen Eliten Profil und
Kraft raubt? Wo auf einmal so viele keine Lust mehr haben?
Es ist doch einfach,
sagt Riesenhuber. Früher kamen die Ministerpräsidenten später an
die Macht. Und wenn sie aus dem Amt schieden, waren sie eben alt.
Nein, es sind nicht Hinwerfer, die ihm Sorge bereiten. Es sind die
Jungen, die ihn zum Grübeln bringen. Irgendwas ist anders geworden.
Sie sind so schrecklich vernünftig.
"Bei den jungen
Politikern sehe ich weniger Ideologie. Sie sind pragmatisch."
Und das sei ein Verlust. Es erinnert Riesenhuber an die Politiker in
den Vereinigten Staaten. Die ihren Wahlkampf an Umfragen
entlangführen. Gefällt eine Aussage nicht, führt sie zu einem
schlechten Ergebnis, so wird sie angepasst. Tag für Tag. Reine
Tagespolitik also.
"Aber",
sagt Riesenhuber: "Was sind die Grundsätze? Die
Unverwechselbarkeit der Parteien hat sich reduziert. Das hat bei uns
zur Folge, dass das Engagement der Bürger abflaut."
Er wünscht sich
Idealisten zurück. Menschen, an denen sich alle reiben. Sie erst
treiben die Leute in die Wahllokale, in die Jugendorganisationen und
Ortsverbände. Sie erst lassen eine Demokratie leben.
Eine solche
Idealistin ist gerade rausgegangen aus der Politik. Sie sitzt in
Berlin, am Ufer der Spree, liest Zeitung und hat endlich wieder Zeit
im Leben: Franziska Drohsel, 30 Jahre alt. Sie macht nun ihr
Referendariat, wird Anwältin, "linke Anwältin", wie sie
sagt.
Ihr Rücktritt in
diesem Frühjahr war noch erstaunlicher, als der von Koch oder Beust.
Drohsel hat ihre Karriere nicht auf dem Höhepunkt beendet, Drohsel
hat sie gestoppt, als sie gerade Tempo aufnahm.
Alles stand ihr
offen. Sie war Juso-Chefin, mit dem besten Wahlergebnis seit vier
Jahrzehnten. Sie war Liebling der Talkshows: Maybrit Illner, Anne
Will, Harald Schmidt - alle luden sie ein, denn ihr Gesicht ist
schön, und ihre Gedanken passen in diese Zeit, ihr Kampf gegen den
Kapitalismus, ihre Wut auf die Banken.
Schon in ihren
jungen Jahren hatte Drohsel großen Einfluss gewonnen. Im vergangenen
November, auf dem Parteitag, der den Sozialdemokraten die Angst
nehmen sollte nach ihren Wahlniederlagen, der aller Welt zeigen
sollte, wie einig der linke und der rechte Flügel zusammenstehen, an
diesem verordneten Jubel-Parteitag also ging auf einmal die
Juso-Chefin ans Rednerpult - und sie stellte sich der Führung
entgegen. Mit zittriger Stimme und klaren Worten forderte sie, gegen
die Empfehlung der Parteispitze, die Vermögensteuer ins Programm
aufzunehmen.
Ein Affront. Was
hatten ängstliche Genossen sie zuvor bequatscht: "Das kannste
nicht machen."
Sie hat nicht
hingehört, und so wurde aus dem verordneten Jubel ein ehrlicher, und
die Vermögensteuer kam ins Programm, und Drohsel hatte sich wieder
einmal in ihrer Meinung bestätigt: Du darfst dich nicht verstecken.
Da ist sie anders als viele Politiker in ihrem Alter, quer durch die
Parteien hindurch. "Ich weiß auch nicht, warum meine Generation
keine Ideale hat", sagt sie. "Vielleicht, weil es Stress
bedeutet. Die haben Schiss. Dass die Partei nicht folgt. Dass die
Bevölkerung nicht folgt. Dass man als Spinner dasteht." Dass
sie einstecken müssen wie eben die Drohsel, deren Thesen viele Leute
ablehnen und deren Idealismus viele misstrauen.
Bewahren Sie sich
Ihren Idealismus", ätzte Harald Schmidt. "Aber vergessen
Sie uns nicht, wenn Sie Ministerin sind.“
Drohsels Gedanken
erinnern an die 70er-Jahre der SPD, als Gerhard Schröder und Oskar
Lafontaine noch den Rebellen gaben, doch sie sind anders, sie folgen
keinem Machtkalkül. Drohsel hat ja die Macht hergegeben, freiwillig.
Sie ging auch zu
ihrem eigenen Schutz. Groß werden Drohsels Augen, als sie davon
hört, wie Heide Simonis Bilanz zieht. "Die arme Frau",
sagt Drohsel leise. Sie weiß selbst, wie man in diesen Sog gerät:
Das Fernsehen, die Aufmerksamkeit, die Macht, das bringt ja Spaß -
auch ihr. So sehr, dass Drohsel sich vor dem Entzug ein wenig
fürchtete. Sie musste die Angst vertreiben. "Man darf sich
nicht sagen: Ich werde jetzt ein unglücklicher Mensch." Man
muss sich das Gegenteil sagen.
Oft hat Drohsel mit
Freunden debattiert: Was kann man tun, um nicht zu werden wie die
vielen Leute, die ihre Ziele, ihre Ideale verloren haben. "Es
gibt nur eine Möglichkeit: unabhängig bleiben."
Und genau das hat
sie getan. Es fühlt sich gut an. Sie kann an der Spree sitzen, mit
Freunden über Ballack quatschen. Sie fühlt sich frei. Zwei "total
unspektakuläre" Jahre liegen vor ihr: in der Bibliothek hocken,
Klausuren schreiben und sich von Richtern den Stoff erklären lassen.
Sie ist nun wieder Lernende, eine, der etwas gesagt wird.
"Das ist
irgendwie gesund für eine 30-Jährige."
Wer weiß?
Vielleicht strebt sie doch zurück an die Macht, wie der Zyniker
Harald Schmidt ihr unterstellt hat. Ihr Rücktritt hat Drohsel sicher
nicht geschadet. Und die Demokratie könnte sich dann über ein paar
klare Thesen freuen und ein wenig Zoff.
Franziska Drohsel
gegen Dominic Stoiber, das wär doch was. "Streiten macht Spaß",
sagt der, "es gibt nichts Schlimmeres, als wenn einem alles
wurscht ist." Und sie kriegt schon ein Blitzen in die Augen,
wenn sie nur seinen Namen hört. Zurück |