Wo
soll ich hin?
Ex-Bischöfin
Margot Käßmann, 52, über ihre Fahrt mit Alkohol am Steuer, das
Leben nach dem Rücktritt und ihr kompliziertes Verhältnis zur
Öffentlichkeit
Von Frank Hornig und
Peter Wensierski, Spiegel, 21.06.2010
SPIEGEL: Frau
Käßmann, Sie hatten in Ihrem Beruf alles erreicht: Ratsvorsitzende
der Evangelischen Kirche in Deutschland, die erste Frau in diesem
Amt. Mehr geht eigentlich nicht. Dann das abrupte Ende: Wie lebt es
sich nach so einem Absturz?
Käßmann: Das sind
alles sehr große Worte. In dem Moment habe ich nur empfunden, ich
muss eine Konsequenz ziehen, um hier Klarheit zu schaffen durch den
Rücktritt. Ich denke, das war die einzige Art und Weise, mit
erhobenem Haupt aus einer solchen Situation herauszugehen und sich
nicht treiben zu lassen. Das war mein Hauptmotiv: Ich lasse mich
nicht behandeln, dann handele ich lieber selbst.
SPIEGEL:
Samstagabends betrunken nach Hause zu fahren, das machen eher
Heranwachsende. Was haben Ihre Töchter dazu gesagt?
Käßmann: Die haben
mir natürlich Vorwürfe gemacht, weil ich ihnen immer gesagt habe:
"Auf keinen Fall, niemals, mit Alkohol fahren, sondern immer ein
Taxi rufen. Mama bezahlt garantiert." Und ich habe mich selbst
oft gefragt: "Wie konnte mir das passieren?" Übrigens
finde ich nett, dass Sie "samstagabends" sagen, weil ich es
merkwürdig fand, in der Berichterstattung immer etwas über die
"Alkohol-Nacht der Bischöfin" zu lesen. Es war 22.50 Uhr.
Man muss auch die Kirche im Dorf lassen.
SPIEGEL: Was geschah
um 22.50 Uhr?
Käßmann: Beim
Einparken in meine Garage kam ein Polizeiauto angefahren.
SPIEGEL: Sie waren
schon zu Hause?
Käßmann: Ja,
sicher, ich bin ausgestiegen, habe das Garagentor aufgemacht und
wollte mein Auto einparken. Dann kam ein junger Polizist und sagte,
er wolle meine Fahrzeugpapiere sehen. Das ist mir übrigens im ganzen
Leben noch nicht passiert, seitdem ich 1976 meinen Führerschein
gemacht habe.
SPIEGEL:
Beschäftigen Sie die Abläufe dieses Abends jetzt immer wieder? Wie
war das im Kino, im Restaurant, später auf der Wache?
Käßmann: Ich weiß
ganz genau, was passiert ist, ich muss das nicht dauernd
reflektieren. Ich habe einen Riesenfehler gemacht. Und für Fehler
muss der Mensch die Verantwortung übernehmen. Vom Gericht wurde es
am Ende als "Fahrlässigkeit" bezeichnet. Für eine
Fahrlässigkeit hat die ganze Angelegenheit allerdings eine große
Dimension bekommen, das muss ich schon sagen. Nicht nur für mich,
sondern auch für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die
Kirche. Das tut mir leid.
SPIEGEL: Wie ist es
denn strafrechtlich ausgegangen?
Käßmann: Es gab
ein schriftliches Verfahren. Ich habe einen Brief erhalten, 3600 Euro
Strafe, und den Führerschein bekomme ich am 22. Dezember wieder,
wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Dazu musste ich noch einen
Erste-Hilfe-Kurs und einen Sehtest machen.
SPIEGEL: Haben Sie
schon bestanden?
Käßmann: Ja. Mein
Team wollte den Erste-Hilfe-Kurs übrigens gleich mitmachen, zur
Auffrischung. Der Arbeiter-Samariter-Bund hat deshalb, auf meine
Kosten, den Kurs hier in der Bischofskanzlei angeboten. Und das war
durchaus ein interessanter Tag. Ich weiß jetzt wieder, wie eine
Herzmassage geht, dass ich dabei weniger beatmen muss, als das Herz
in Gang halten. Und alle in der Kanzlei haben mitgemacht, der Fahrer,
der Büroleiter, die Referentin, die Sekretärin.
SPIEGEL: Oft bleiben
solche Verkehrsdelikte geheim. Schmerzt es Sie, dass Ihr Fall
öffentlich wurde?
Käßmann: Schmerzt?
Ich finde es schwierig, dass er öffentlich gemacht wurde. Eigentlich
unterliegt ein solcher Vorgang dem Datenschutz, und eigentlich darf -
das habe ich inzwischen auch gelernt - eine Person nicht im
Zusammenhang mit einer Promillezahl genannt werden. Dem war ich dann
hilflos ausgeliefert. Ich habe meine Promillezahl zuerst aus der
Zeitung erfahren.
SPIEGEL: Wann genau
haben Sie sich zum Rücktritt entschieden?
Käßmann: Ich habe
vier Tage nach dem Vorfall und einen Tag nachdem er publik wurde, am
24. Februar morgens um sechs mit meiner jüngsten Tochter in der
Küche gestanden. Sie hat die Zeitungen hochgeholt, hat eine davon
sofort verschwinden lassen.
SPIEGEL: Die
"Bild"-Zeitung?
Käßmann: Kein
Kommentar. Dann haben wir beide dagestanden, und ich habe gesagt:
"Esther, ich glaube, es hat keinen Sinn mehr zu sagen, ich
kämpfe um dieses Amt, und ich werde dann ständig damit konfrontiert
werden. Ich hätte nicht mehr die gleiche Autorität." Sie hat
dann gesagt: "Mama, das musst du entscheiden. Für mich ist das
okay. Ich habe nur noch ein Jahr bis zum Abi." Sie hat das ganz
pragmatisch gesehen.
SPIEGEL: Einen
anderen Rat haben Sie gar nicht mehr eingeholt?
Käßmann: Die
Entscheidung zum Rücktritt habe ich am Ende allein gefällt. Die
Bibel zeigt in ihren Wüstenerzählungen: Solche Entscheidungen
werden oft allein getroffen. Da kann Ihnen niemand helfen. Sie können
die Stimmen wohl hören - hier haben mir alle gesagt, Sie könnten
doch dies, Sie könnten doch das tun. Aber wenn ich in der ganzen
Situation über etwas froh bin, dann darüber, dass ich am Ende alle
aus meinem Büro verbannt und gesagt habe: "Jetzt raus! Ich habe
entschieden, ich trete zurück, ich schreibe jetzt meine
Rücktrittserklärung, und ihr beruft eine Pressekonferenz ein."
In dem Moment habe ich gedacht: Du wirst hier nicht jammern, und du
wirst hier nicht heulen, sondern du hast eine Entscheidung getroffen,
und diese teilst du mit und nichts anderes. Ich habe auch meinen
Töchtern gesagt: "Wir werden nicht weinen!" Das haben sie
auch nicht; da sind sie Töchter ihrer Mutter.
SPIEGEL: Keine
einzige Träne?
Käßmann: Na ja,
geweint habe ich natürlich, aber das war vorher. Da haben wir alle
geheult, alle, durch die Bank.
SPIEGEL: Wären Sie
auch zurückgetreten, wenn es nicht publik geworden wäre?
Käßmann: Das ist
eine interessante Frage. Was ist denn Ihre Antwort?
SPIEGEL: Streng
moralisch könnte man sagen: Fehler ist Fehler …
Käßmann: … gut,
dann müssten wir jetzt jeden Menschen in Deutschland fragen, der je
nach Alkoholkonsum mit dem Auto gefahren ist, ob er das sofort
öffentlich machen würde und an seinem Arbeitsplatz Konsequenzen
ziehen würde.
SPIEGEL:
Wahrscheinlich nicht.
Käßmann: Ja,
wahrscheinlich nicht. Also das Bewusstsein eines Fehlers wäre da
gewesen, aber nicht diese Dimension seiner Auswirkung.
SPIEGEL: Wie haben
Sie die Wochen danach erlebt?
Käßmann: Ich will
doch kein Befindlichkeitsinterview machen.
SPIEGEL: Ein solcher
Absturz ist schließlich eine besondere Erfahrung.
Käßmann: Ich
glaube, das ist wie ein Trauerprozess. Das lernt man in der
Seelsorge. Das Erste ist eine Schocksituation, die zu bewältigen
ist. Danach fangen die Trauer und das Abschiednehmen an. Und ich
musste natürlich von einem Tag auf den anderen Abschied nehmen, von
meinem Amt, von meiner Lebenssituation hier, wo ich wohne. An meinem
52. Geburtstag bin ich aufgewacht und habe gedacht, das ist so ein
bisschen wie Monopoly: "Gehe zurück auf Los!" Ich habe
keinen Arbeitsplatz, ich habe keine Wohnung, jetzt ist auch meine
jüngste Tochter ausgezogen, ich werde ohne Familie irgendwo neu
anfangen. Und das ist neu.
SPIEGEL: Haben Sie
das als eine Strafe Gottes empfunden?
Käßmann: Nein, das
wäre absurd. Der liebe Gott hat mich sicher nicht dazu verleitet, an
diesem Abend zu viel Alkohol zu trinken und mit dem Auto zu fahren.
Ich finde es merkwürdig, wenn Menschen Gott etwas in die Schuhe
schieben, was sie selbst zu verantworten haben.
SPIEGEL: Wenn es nur
ein Ausrutscher für Sie war, warum sind Sie dann zurückgetreten?
Käßmann: Ich wäre
immer mit Fragen konfrontiert gewesen: Ist sie noch glaubwürdig,
wenn sie beispielsweise nach dem Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger
fragt? Es wäre immer ein Vorbehalt geblieben. Das kann die
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland mit ihrem Amt
schwer vereinbaren.
SPIEGEL: Sie haben
für Ihren schnellen Rückzug viel Lob erhalten, auch vom SPIEGEL.
Sind Sie im Rückblick zu unbarmherzig mit sich gewesen?
Käßmann: Nein. Es
war die richtige Konsequenz. Ich sehe doch, wie die Berichterstattung
läuft: "Käßmann, die zurückgetreten ist, weil sie am 20.
Februar 2010 Alkohol getrunken hat." Das wäre über Jahre
hinweg gekommen. Das kenne ich schon aus anderen Lebensstationen:
"Käßmann, die an Krebs erkrankt ist, die geschieden ist"
- und dann kommt noch ein Komma und der Zusatz "die Alkohol
getrunken hat". Irgendwann ist dann auch gut.
SPIEGEL: Welche
Rolle spielt Ihr Glaube in einer solchen Situation für Sie?
Käßmann: Für mich
spielt der eine große Rolle. Das ist ganz anders, als wenn Sie
sagen: "Wie kann Gott das zulassen?" Ich meine, du kannst
nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Diese Angriffe und diese Häme
und diesen Spott, denke ich, kann ein Mensch besser ertragen, wenn er
den christlichen Glauben hat, dass die Würde des Menschen wahrhaftig
unantastbar ist. Weil Gott dir Würde gibt und nicht jemand, der die
Kamera auf dich hält.
SPIEGEL: Können Sie
über die ganze Geschichte inzwischen wieder lachen?
Käßmann: Ich kann
Ihnen genau sagen, wann ich wieder angefangen habe, ein bisschen
Humor zu entwickeln. An einem Mittwoch bin ich zurückgetreten, das
Haus war belagert. Auf den Garagendächern waren permanent
Fotografen, selbst in der Wohnung gegenüber. Am Montagmorgen war ich
dann leicht entnervt, als ich mit dem Hund durch den Maschpark ging
und wieder ein Fotograf da war. Dem habe ich gesagt: "Wissen Sie
was? Wenn Sie jeden Morgen hinter mir hergehen, können Sie doch
gleich selbst den Hund ausführen." Er sagte: "Ja, Frau
Käßmann, ich bin zwar ein Paparazzo, aber ein ganz lieber." Da
habe ich wieder gelacht und dachte: Liebe Leute, wo ist denn die
Verhältnismäßigkeit? Da war ein Erdbeben in Haiti! An diesem Tag
habe ich mein Tagebuch begonnen.
SPIEGEL: Haben Sie
Ihre Gedanken nur aufgeschrieben, oder haben Sie auch Zwiesprache mit
Ihrem Gott gehalten?
Käßmann: Mit Gott
habe ich eine ganze Menge gesprochen. Mein Vater ist gestorben, als
er 52 Jahre alt war. Und mir geht es mit 52, trotz allem, gut. Ich
falle auch ohne Amt nicht auf Hartz IV zurück. Ich habe viele
Privilegien in meinem Leben, kann mich jetzt ganz in Ruhe umschauen,
wie es weitergeht. Zwischendurch dachte ich darum schon, eigentlich
muss ich ja ganz still sein. Vielleicht macht es auch irgendeinen
Sinn in meinem Leben.
SPIEGEL: Welcher
könnte das sein?
Käßmann: Ich wäre
sonst noch sechs Jahre Bischöfin und Ratsvorsitzende gewesen. Dann
zu sagen: Stopp! Einfach mal drei Schritte zurücktreten. Vielleicht
muss dein Leben noch mal eine neue Richtung nehmen - das kann ich
auch als Chance sehen. Es ist in der Bibel übrigens oft so, dass es
ganz starke Brüche gibt und dann plötzlich Abraham neu aufbricht
oder Mose oder ein ganzes Volk durch den Sinai.
SPIEGEL: Neben viel
öffentlicher Häme haben Sie auch reichlich Post bekommen …
Käßmann: … die
kriege ich immer noch. Ich habe 2630 Briefe gelesen, und dann kamen
bis jetzt über 12 000 E-Mails.
SPIEGEL: Mit welchem
Tenor?
Käßmann: Was mich
berührt hat, war die liebevolle Reaktion von sehr vielen Menschen.
Wir haben für die Briefe extra verschiedene Kisten aufgestellt: Die
Positivkisten wurden immer voller, und die Negativkisten blieben sehr
leer. Ein älterer Herr schrieb mir, er sei schon mehrfach unter
Alkoholeinfluss Auto gefahren, aber nie erwischt worden. Das sei
ungerecht von Gott, deshalb wolle er meine Punkte in Flensburg
übernehmen. Es gab auch manche, die gesagt haben: "Die rote
Ampel war vielleicht ein Zeichen des lieben Gottes, dass Sie mal
langsamer treten sollen." Keine Frage, das alles war natürlich
auch ein bisschen Balsam für die geschundene Seele.
SPIEGEL: Kritik an
Ihnen gab es schon vor Jahren, als Sie sich scheiden ließen. Eine
geschiedene Bischöfin könne kein Vorbild sein. Damals sind Sie
geblieben. Aber wegen einer Fahrlässigkeit im Straßenverkehr traten
Sie zurück. Können Sie uns den Unterschied erklären?
Käßmann: Er
besteht darin, dass ich bei dem Thema Scheidung erstens persönlich
kein Schuldgefühl hatte. Zweitens habe ich damals auch nicht
gewusst, was medial auf mich zukommt.
SPIEGEL: Auch Ihre
damalige Krebserkrankung hatten Sie vor Jahren publik gemacht. Warum
bringen Sie Persönliches überhaupt in die Medien?
Käßmann: Eine
Bischöfin kann nicht drei Monate wegen einer Krebserkrankung
verschwinden. Die Zeitungsleute waren ja sogar im Krankenhaus, gleich
als ich eingeliefert war. Bei der Scheidung war es genauso. Als
Pastorin und auch als Bischöfin müssen Sie Ihren Dienstgeber
darüber informieren, insofern können Sie das nicht verheimlichen.
Deshalb habe ich gedacht: Klar, gleich öffentlich raus damit.
SPIEGEL: Und damit
ist es dann abgehakt?
Käßmann: Dachte
ich. Und dann wurde ich schon nach der Scheidung immer weiter
gefragt: Warum? Das wollen wir jetzt aber genau wissen. Was ist
vorgefallen? Das ging ja nach dem 20. Februar auch so. Es muss aber
eine Grenze geben, an der man sagen kann: Nein, das ist jetzt
wirklich genug.
SPIEGEL: Man hat den
Eindruck, Sie sind geradezu süchtig nach Öffentlichkeit.
Käßmann: Moment
mal, Sie haben mich um dieses Interview gebeten. Ich habe mein
Privatleben nicht öffentlich gemacht. Gucken Sie mal, wie viel Sie
darüber eigentlich wissen. Sie wissen, dass ich Brustkrebs hatte und
geschieden bin und dass ich vier Töchter habe. Viele Details habe
ich nie preisgegeben. Aber diese ja. Ich habe nie große Home-Storys
mit meinen Kindern gemacht. Ich habe zwei, drei öffentliche Bilder
machen lassen und zweimal ein NDR-Porträt in zehn Jahren, gleich am
Anfang bei der Wahl und ganz am Ende.
SPIEGEL: Sie nehmen
doch bis heute in Predigten und Auftritten immer wieder auf Ihr
Privatleben Bezug. Neulich beim Kirchentag in München ging's mal um
Ihre "rote Ampel", mal um die Tankstelle Ihres Vaters. Wo
ziehen Sie die Grenze?
Käßmann: Dass ich
in einer Tankstelle groß geworden bin und als Jugendliche Mofas
betanken durfte, das hat mich als Person sehr geprägt. Aber ich
würde Ihnen nicht im Detail mein Verhältnis zu meinem Vater
auseinandersetzen. Ich habe auch nie Gründe für meine Scheidung
angegeben. Das geht auch keinen etwas an, da finde ich, ist eine
Grenze zwischen Privat und Persönlich.
SPIEGEL: Was sagt es
über die Gesellschaft, wenn Sie nach Ihrem Fehler und Ihrem
Rücktritt zum Beispiel auf dem Kirchentag wie ein Popstar gefeiert
wurden?
Käßmann: Alle
Menschen haben Brüche, haben selbst schon mal einen Fehler gemacht,
hoffen, dass keiner den an die Öffentlichkeit zerrt. Viele haben
selbst erfahren, dass eine Beziehung scheitern kann. Das bringt,
glaube ich, für manche eine Seelsorgesituation von Vertrauen
zustande. Ich unterzeichne Bücher, und eine Frau vor mir bricht in
Tränen aus, weil sie ganz viel auf dem Herzen hat, das sie loswerden
möchte.
SPIEGEL: Mit den
eigenen Brüchen zum Sinnstifter für ein großes Publikum zu werden
- weckt das nicht zu hohe Erwartungen?
Käßmann: Die
Gefahr besteht in der Tat. Die vielen Briefe und Reaktionen zeigen
mir nur: Es gibt ein großes Bedürfnis nach Seelsorge. Ganz viele
Menschen in Deutschland leben eben nicht auf der Erfolgsschiene oder
haben alles glorreich im Griff. Sondern sie haben Sehnsüchte, sind
einsam, wissen nicht, wie sie mit Krankheit, Leid, Tod,
Arbeitsplatzverlust, Ehespannungen umgehen sollen. Da gibt es eine
tiefe Sehnsucht, sich auszusprechen, einfach gehört zu werden.
SPIEGEL: Warum so
nachsichtig? Die Kirche predigt doch sonst viel lieber Moral.
Käßmann:
Christentum ist nicht zuallererst eine Frage von Moral, sondern von
Verantwortung. Mit Brüchen verantwortlich umzugehen ist viel
wichtiger, als über richtiges oder falsches Leben zu richten.
SPIEGEL: Sie haben
schon 2008 in einem Vortrag die "ungeheure Macht" der
Medien kritisiert. Diese könnten eine Person aufbauen und genauso
gut auch wieder zerstören: "Das ist es, was Angst macht."
Man könnte meinen, Sie waren vorgewarnt.
Käßmann:
Öffentlichkeit ist schwierig. Auf der einen Seite finde ich es
wichtig, dass Kirche in der Öffentlichkeit vorkommt. Das Evangelium
will kommuniziert werden. Luther hat das neue Medium des Buchdrucks
seinerzeit sofort benutzt, um seine Ideen und Inhalte zu vermitteln.
Andererseits ist es nicht leicht, diese Grenze zu ziehen zwischen der
Botschaft und der Person, die sie überbringt. Du bist dann
verletzbar, hast nicht genug Distanz, um zu sagen: "Das ist
meine Botschaft und mein Beruf, aber hier bin ich." Dieses
Dauerbeobachtetsein, etwa von Stars wie Britney Spears, tut mir
unendlich leid.
SPIEGEL: Wie kommen
Sie denn auf die?
Käßmann: Neulich
gab es ein Riesenbild ihrer Fingernägel. Da wurde sofort gesagt:
"Wie schlampig, die lackiert nicht mal ihre Fingernägel genug."
Warum kann das arme Mädchen nicht mal ungeschminkt auf die Straße
gehen? Ich möchte nicht jeden Tag von Medien abgelichtet werden,
auch wenn ich jetzt ein Medien-Interview gebe. Das ist für mich eine
Frage von Freiheit.
SPIEGEL: Haben Sie,
mit der Distanz von heute, überhaupt kein Verständnis für das
Interesse, wenn eine Bischöfin, die Verzicht anmahnt und
Verantwortung predigt, selbst mal über die Stränge schlägt?
Käßmann: Ich fand
es unverhältnismäßig. Ich fand Ursache und Berichterstattung im
Verhältnis zu anderem, was in der Zeit in der Welt passiert ist,
unverhältnismäßig.
SPIEGEL: Dann haben
Sie über die Schlagzeile "Lalleluja" auch nicht gelacht?
Käßmann: Na ja.
Als dann noch einer wie Dieter Bohlen Witze über mich riss, habe ich
nur gedacht: Es war genau richtig, dass du zurückgetreten bist, denn
das kann ich meiner Kirche nicht zumuten, als oberste Repräsentantin
so lächerlich gemacht zu werden.
SPIEGEL: Was hat
Bohlen gesagt?
Käßmann: "Du
singst so schlecht wie Margot Käßmann, wenn sie betrunken Auto
fährt." So ähnlich hat er es zu einer Kandidatin von
"Deutschland sucht den Superstar" gesagt.
SPIEGEL: In einer
Bibelstunde sagten Sie kürzlich, Christen kennten keinen Gott, der
nur das Perfekte gelten lässt. Manchmal scheine es, als habe ihr
Gott eine besondere Liebe zu gebrochenen Gestalten.
Käßmann: Ich
möchte nicht, dass jetzt jeder Satz einer Predigt oder einer
Bibelarbeit von mir sofort tief biografisch auf mich bezogen wird. In
der Bibel ist deutlich zu erkennen, dass Gott eine große Zuneigung
gerade zu denen hat, bei denen nicht alles glänzt, zu Sündern, mit
Schuld Beladenen. Mose hat erst mal jemanden ermordet und wurde dann
der Führer des Volkes in die Freiheit. Petrus hat Jesus dreimal
verleugnet, und trotzdem heißt es, er sei der Fels, auf dem die
Kirche aufbauen soll.
SPIEGEL: Schuld,
Buße, Vergebung - finden Sie solche Begriffe in der modernen
Gesellschaft nicht ziemlich antiquiert?
Käßmann:
Vielleicht in den Medien. Ich denke aber, dass Menschen durchaus
Schuldgefühle haben. Christliche Freiheit sagt, es gibt Schuld im
Leben, aber es gibt auch Lebenswege danach. Versöhnung ist möglich,
wenn Täter bekennen und Opfer gehört werden. Es sind mühselige
Prozesse, das haben wir dramatisch in Südafrika gesehen. Aber es
kann gelingen. Vergeben und um Vergebung bitten - so steht es ja
schon im Vaterunser.
SPIEGEL: Gibt es in
Deutschland für Menschen, die sich versündigen, eine zweite Chance?
Käßmann: Die Frage
ist, ob wir in der Gesellschaft noch ein Bewusstsein dafür haben,
dass Strafe und Sühne möglich sind, Neuanfang bedeuten. Für viele,
die zum Beispiel eine Straftat begangen haben, ist es ganz schwer,
einen Neuanfang zu finden. Ich habe als Bischöfin viele Häftlinge
im Gefängnis besucht. Eine ganz große Angst ist: Was passiert, wenn
ich rauskomme? Wo soll ich hin? Wo kann ich neu anfangen?
SPIEGEL: Wie steht
es denn mit Ihrer eigenen "Sünde" vom Februar, was wäre
für eine Protestantin die angemessene Buße?
Käßmann: Ich
möchte jetzt nicht pathetisch werden. Aber ich habe ein
Verkehrsdelikt begangen. Ich bin die zwei Kilometer nach Hause sehr
langsam gefahren, niemand ist zu Schaden gekommen. Ich will das nicht
runterspielen, nur gilt es, auch mal die Verhältnismäßigkeit zu
sehen. Ich habe einen Fehler begangen und dafür die Verantwortung
übernommen. Das, finde ich, ist eine protestantische Haltung.
SPIEGEL: Hat Ihr
Rücktritt Maßstäbe für die politische Kultur gesetzt?
Käßmann: Ein
Mensch darf sich nicht selbst zum Vorbild stilisieren; das fände ich
ganz absurd. Ich wollte auch als Bischöfin nie jemand anderes sein
als Margot Käßmann. So bin ich immer noch Margot Käßmann, ohne
Bischöfin zu sein. Ich habe mich ja nicht verändert, weil ich keine
Ämter mehr habe oder weil ich kein Bischofskreuz mehr trage. Ich
glaube, es ist wichtig, sich selbst treu zu bleiben.
SPIEGEL: Der
Synodenpräsident Jürgen Schneider hat Sie schon als Bischöfin der
Herzen ausgerufen.
Käßmann: Ich halte
das für einen sehr liebevollen Begriff.
SPIEGEL: Er
vergleicht Sie mit der Prinzessin der Herzen, Diana, die auch ohne
ihren alten Titel die Menschen eroberte.
Käßmann: Na ja,
also ganz so ist es wohl nicht.
SPIEGEL: In der
evangelischen Kirche wird jetzt der Ruf nach einer Person laut, die
nicht so sehr wie Sie im Rampenlicht steht.
Käßmann: Die
Kirche braucht viele öffentliche Gesichter, sie braucht Menschen,
die für diesen Glauben einstehen. Einen Rückzug der evangelischen
Kirche aus der Öffentlichkeit hielte ich für falsch. Wir wollen in
der Gesellschaft ja etwas vermitteln.
SPIEGEL: Und zwar
aktuell was?
Käßmann: Die
Kirche ist vor allem für die Menschen am Rande da. Das ist heute
wichtiger als zuvor. Es ist wirklich ein schrecklicher Gedanke, dass
das Elterngeld jetzt gerade Hartz-IV-Empfängern entzogen werden
soll. Sie wissen, wie schwer es ist, im ersten Jahr mit einem Kind
einen Arbeitsplatz zu finden, von der Krippenbetreuung ganz zu
schweigen. Und dann fällt auch noch das Elterngeld weg. Ich finde,
da hat die Kirche eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen.
SPIEGEL: Die
Bundeskanzlerin hat gesagt, das Sparpaket sei sozial ausgewogen,
jeder müsse seinen Beitrag leisten.
Käßmann: Jedes
sechste Kind wächst in Armut heran. Das führt zu Bildungsarmut,
weil da kein Hauptschulabschluss zustande kommt, und dann steht eine
neue Hartz-IV-Karriere an. Ich halte es für eine falsche
Konzentration, 30 Milliarden ausgerechnet bei den Armen einzukürzen.
Wo Kinder eine Bildungschance bekommen, nehmen sie diese bewusst
wahr. Wo Arbeitslose eine Chance zur Wiedereingliederung bekommen,
nutzen sie diese auch. Hier zu investieren - das wäre
gesellschaftlich viel sinnvoller.
SPIEGEL: Die
Regierung hat die Wohlhabenden bislang verschont. Zu Recht?
Käßmann: Das kann
ich nicht nachvollziehen. Wer mehr leisten kann, sollte auch mehr zur
Solidargemeinschaft beitragen als andere. Geiz gehört schon in der
Bibel zu den Lasterkatalogen und ist überhaupt nicht "geil".
Wir müssen wachsam sein, dass der soziale Friede nicht gefährdet
wird.
SPIEGEL: Frau Merkel
ist in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen. Erkennen Sie in
der Bundeskanzlerin diese Prägung?
Käßmann: In der
Bibel heißt es, Gerechtigkeit im Land misst sich daran, wie es den
Schwächsten im Land geht. Und da hat sie im Pfarrhaus schon etwas
mitgekriegt, dass du dich verantwortest nicht nur vor der Partei,
sondern vor Gott. Andererseits ist sie natürlich auch Politikerin,
die mit der Macht umgehen muss; das ist eine ganz klare Sache.
SPIEGEL: Wie ergeht
es aus Ihrer Sicht denn den Schwächsten im Land?
Käßmann: Die
Entsolidarisierung der Gesellschaft, das Auseinanderdriften von Arm
und Reich, ist ein großes Problem. Das erleben Sie zum Beispiel bei
den Alten: Wie kann es sein, dass dieser wahnsinnige Druck in der
Pflege entsteht? Ich bin mal einen Tag mit einer ambulanten
Pflegekraft zusammen gewesen. Da gibt es 23 Minuten für die große
Morgenwäsche mit Toilettengang. Und dann fängt der alte Mann an zu
weinen und sagt: "Ach, wenn Sie jetzt weggehen, bin ich für den
Rest des Tages allein." Ich war fix und fertig, obwohl ich gar
nichts gemacht, sondern nur beobachtet hatte. Ich beklage, dass
niemand sich verantwortlich fühlt für den nebenan, dass Nachbars
Kinder endlos schreien, und keiner klopft an und fragt, ob er helfen
kann.
SPIEGEL: In wessen
Autorität und Namen sprechen Sie jetzt eigentlich?
Käßmann: Diese
Frage stellt sich mir in der Tat. Ich kann jetzt im Grunde genommen
nur für mich selbst sprechen. Da die richtige Balance zu finden, das
ist nicht so einfach. Ich kann ja auch nicht so tun, als wäre ich
eine Autorität in der evangelischen Kirche. Ich bin im Moment nicht
mehr und nicht weniger als eine Pastorin der hannoverschen
Landeskirche.
SPIEGEL: Und was ist
bei Ihren Auftritten jetzt anders als vorher?
Käßmann: In meinen
vier Monaten als Ratsvorsitzende musste ich ständig reagieren,
erklären, was ich meinte - etwa nachdem ich gesagt hatte, nichts sei
gut in Afghanistan. Dabei habe ich auch an der Spitze der EKD nicht
anders gesprochen als zuvor. Aber es hat andere Reaktionen
hervorgebracht.
SPIEGEL: Horst
Köhler wurde ebenfalls scharf wegen seiner Afghanistan-Äußerungen
kritisiert. Wieso gab es in beiden Fällen so große Entrüstung -
obwohl Sie beide völlig entgegengesetzte Positionen vertreten?
Käßmann: Es ist
ein heikles Thema. Wahrscheinlich hat der Tanklaster-Angriff von
Kunduz den Deutschen das erste Mal klargemacht, dass Menschen
aufgrund einer Anweisung eines deutschen Soldaten sterben. Ich denke,
das ist für die Gesamtgesellschaft ein Schock. Auf einmal ist klar:
Wir laden als Nation wahrschein-
lich Schuld auf uns.
Das ist viel zu lange tabuisiert worden.
SPIEGEL: Wieso?
Afghanistan wird in Politik und Medien seit langem diskutiert.
Käßmann: Es hatte
aber kein Gesicht. Auf dem Kirchentag habe ich die Namen der sieben
deutschen Soldaten vorgelesen, die bei den letzten beiden Angriffen
gefallen sind. Und die von sieben jungen Afghanen, die bei diesen
Tanklastern verbrannt sind. Das darf man nicht kleinreden; das sind
Opfer mit Namen, mit einer Biografie. Für Deutschland ist es immer
noch schwer zu erkennen: Wir sind im Krieg.
SPIEGEL: Wie sollte
das Land, wie sollte die Politik damit umgehen?
Käßmann: Ich
wünschte, es gäbe mehr Ruhe, langfristige Konzepte zu entwickeln.
In der Politik muss heute alles immer wahnsinnig schnell passieren.
Da werden Milliarden-Bankenschirme und Rettungspakete unter massivem
Zeitdruck aufgestellt. Wo sind denn die Räume, in die sich
beispielsweise ein Verteidigungsminister zurückziehen kann, um
nachzudenken: Was machen wir dort, mit welchen Zielen, was ist die
Rückzugsstrategie? Allerdings darf man die Politiker nicht für
alles verantwortlich machen. Wir müssen auch fragen: Was hat die
Gesellschaft der Politik angetan?
SPIEGEL: Und?
Käßmann: Der Druck
ist gnadenlos. Möglichst noch bis heute Abend zur "Tagesschau"
müssen sie ein neues Statement bringen, dazwischen gibt es noch
Blogs, Twitter und so weiter. Die ständige Beschleunigung führt zu
einem Verlust an Substanz und Orientierung. Ein falsches Wort, und du
wirst niedergemacht! Wer hat denn noch Lust, unter solchem Druck
Politiker zu werden?
SPIEGEL: Fast
klingen Sie schon wie eine energische Bundespräsidentin. Hätte Sie
das Amt gereizt?
Käßmann: Nein.
SPIEGEL: Aber Sie
wurden gefragt?
Käßmann: Ich sage
dazu nichts. Aber ich würde nicht Bundespräsidentin werden wollen,
weil das ein Amt ist, bei dem Sie noch mehr auf Ihr Wort aufpassen
müssen. Ich schätze die Freiheit, die ich jetzt habe.
SPIEGEL: Wer ist Ihr
Favorit, Christian Wulff oder Joachim Gauck?
Käßmann: Ich habe
keinerlei Amt und Mandat, mich dazu zu äußern.
SPIEGEL: Gauck ist
ja ein ehemaliger Berufskollege.
Käßmann: Bei Gauck
ist interessant, dass er diese Ostbiografie hat. Ich habe ihn schon
zu DDR-Zeiten kennengelernt. Er bringt eine besondere Prägung mit.
Aber ich werde jetzt hier nicht diejenige sein, die Kandidaten für
das Bundespräsidentenamt bewertet.
SPIEGEL: Dann
befragen wir Sie eben als Rücktritts-Expertin. Wie haben Sie den
Schritt von Horst Köhler erlebt?
Käßmann:
Menschlich konnte ich daran etwas nachvollziehen, dieses
Verletztsein. Als Bundespräsident, denke ich, wäre es sehr wichtig
gewesen, nicht einfach eine einsame Entscheidung zu treffen. Das war
bei mir eine andere Situation, weil ich glasklar persönlich einen
Fehler begangen hatte. Ich hätte mir jedenfalls gewünscht, dass er
mit den Spitzen der Parteien ein Gespräch darüber geführt hätte.
Er hätte sich mehr Zeit nehmen sollen.
SPIEGEL: Aber Sie
können wahrscheinlich relativ gut nachempfinden, wie er sich an
diesem Wochenende gefühlt hat.
Käßmann: Ja, das
kann ich nachvollziehen, dass er sich einsam und verletzt gefühlt
hat und dann gesagt hat: "So mache ich nicht weiter." Man
sollte jetzt Köhler auch nicht so schlechtreden, wie es zum Teil
getan wird. Ich habe ihn erlebt und weiß, dass er im Volk beliebt
war. Das ist auch ein Zeichen dafür, wie sehr eine solch
authentische Person - auch mit den Brüchen - wertgeschätzt wurde.
Vielleicht hätte die Politik sehen müssen, dass er stärker
mitgetragen werden sollte.
SPIEGEL: Nach
welchen Maßstäben sollte man den eigenen Rücktritt entscheiden?
Käßmann: Nach
Bibelstudium und Gebet stand Luther im Reichstag zu Worms mit der
Haltung: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir.
Amen." So, würde ich auch sagen, muss ein Protestant in
Verantwortung vor Gott und den Menschen seine Entscheidung treffen.
Ein Mensch, der mit sich im Reinen ist und sagt, er bleibe im Amt
oder er bleibe nicht im Amt aus diesen oder jenen Gründen, der kann
dann da auch aufrecht stehen.
SPIEGEL: Politik und
Medien - auch der SPIEGEL - haben größtenteils anders reagiert. Sie
hielten Köhler für zu empfindlich.
Käßmann: Also das
finde ich, offen gestanden, Köhler gegenüber nicht fair. Der Mann
hat eine Entscheidung für sein Leben getroffen, die sicherlich
schwer war. Dann muss man ihn nicht nachher noch mit Häme und Spott
übergießen.
SPIEGEL: Ein anderer
Rücktritt, der Schlagzeilen machte, war der erzwungene Abtritt des
Augsburger Bischofs Walter Mixa, der zunächst leugnete, dass er
einst Kinder geschlagen hatte. Warum hat sich die katholische Kirche
lange so schwer getan, Verantwortung für Gewalt und Missbrauch zu
übernehmen?
Käßmann: Es ist
natürlich ein anderes Verständnis von Kirche und Amt. Sie können
als katholischer Bischof nicht einfach wie ich zurücktreten. Das
steht bei uns in der Verfassung. Die Landesbischöfin oder der
Landesbischof kann jederzeit, sogar ohne Angabe von Gründen,
zurücktreten. Das geht in der katholischen Kirche nicht.
SPIEGEL: Was ist da
los - Sie treten wegen einer Fahrt mit Alkohol am Steuer zurück, und
nach teils jahrelangem Vertuschen von Gewalt und Missbrauch sind Ihre
katholischen Kollegen …
Käßmann: … ich
möchte nicht, dass das parallel gesehen wird. Sie können das auch
schon ganz leicht daran erkennen, dass es in der evangelischen Kirche
- anders als bei den Katholiken - keine Steigerung von
Kirchenaustritten wegen meines Rücktritts gibt.
SPIEGEL : Können
wir uns darauf einigen, dass beide Kirchen ein großes Problem mit
der moralischen Autorität haben?
Käßmann: Kirche
ist keine Institution, die besser wäre als die Welt. Sie besteht aus
verführbaren Menschen. Aber sie hat den Anspruch, dass sie eine
Kontrastgesellschaft abbildet. Und dass vor allem die Würde des
Kindes wichtiger ist als der Schutz der Institution. Dass dies nicht
galt, ist für alle, insbesondere aber die Katholiken, eine bittere
Erkenntnis.
SPIEGEL : Mittel-
und langfristig laufen beiden Konfessionen die Mitglieder davon, mal
trifft es mehr die einen, mal die anderen. Ist Ihr Angebot womöglich
einfach zu verstaubt? Anderswo auf der Welt, in den USA, Brasilien
oder Südkorea, feiern Großkirchen mit einer lebensnahen Haltung
große Erfolge.
Käßmann: Schauen
Sie sich mal an, wie aggressiv dort Geld eingetrieben und Moral
gepredigt wird! Damit habe ich große Probleme: Je lauter und
ohrenbetäubender ich bete und je mehr Geld ich gebe, desto größer
ist mein Seelenheil? Das kann es ja wohl nicht sein. Bloß weil viele
Menschen dort sind, ist es nicht automatisch gut. Ich finde, eine
Kirche kann auch gut sein, wenn nur 15 kommen, aber die sind gestärkt
für ihr Leben wieder gegangen. Eine Theologie des Erfolgs würde dem
Christentum zudem radikal widersprechen. Wir glauben an einen Gott,
der sich gerade nicht durch Größe, Erfolg, Geldeinnahmen
dargestellt hat. Ich kann auch mit dem Kleinen und dem Zerbrechlichen
leben.
SPIEGEL : Dennoch
ist es merkwürdig, dass Sie mit einem Besinnungsbuch auf Platz eins
der Bestsellerliste landen - und die Gottesdienste werden immer
leerer.
Käßmann : Ende Mai
waren 1500 Menschen bei mir im Gottesdienst, und das war eine ganz
traditionelle Veranstaltung, Psalm, Predigt, Fürbitte, Segen.
Trotzdem haben Sie recht: Viele Menschen spüren die Antwort auf ihre
spirituellen Sehnsüchte nicht mehr beim klassischen Kirchgang. Es
ist eine große Frage, wie wir darauf reagieren. Wie schaffen wir es,
dass die Menschen am nächsten Sonntag wieder zu uns kommen und
sagen: "Das brauche ich, damit ich wieder Kraft schöpfen kann
für meinen Alltag, mein Leben"?
SPIEGEL : Gegen Ende
haben wir noch eine Frage, die viele endlich beantwortet haben
wollen. Welcher Mann …
Käßmann : … das
wollen Sie jetzt nicht wirklich fragen!
SPIEGEL : … saß
am 20. Februar neben Ihnen im Auto?
Käßmann : Ich muss
sagen, ich finde das absurd. Was hat das mit meinem Leben und allem
zu tun? Und welchen Anspruch von Öffentlichkeit gibt es da? Ich
verstehe nicht, was das jemanden angeht.
SPIEGEL : Wie lange
sind Sie schon Single?
Käßmann : Am 30.
Mai 2007 bin ich geschieden worden. Ich glaube, wir beenden jetzt
dieses Gespräch. Vielen Dank.
SPIEGEL : Sagen Sie
uns noch, wie es beruflich weitergeht.
Käßmann : Auf dem
Kirchentag fragte mich eine Frau, ob ich Ohnmacht empfinde, weil ich
Macht verloren habe. Da habe ich aus dem Bauch heraus gesagt, das
kann auch Freiheit bedeuten. Natürlich bin ich traurig, nicht mehr
Bischöfin zu sein. Alles andere wäre merkwürdig. Eine Frau an der
Spitze, das sind Bilder, die ich auch wichtig fand. Aber als Person
bin ich freier, obwohl ich jetzt gar nicht weiß, wohin diese
Freiheit führt.
SPIEGEL : Viele
Protestanten hätten Sie gern als Bischöfin zurück.
Käßmann : Ich war
sehr gern Bischöfin, gerade in einer so ländlich geprägten Kirche;
das können Sie sich gar nicht vorstellen. Das Schönste daran waren
die Sonntagsgottesdienste: Die Menschen freuen sich, wenn Sie kommen,
die Kirche ist immer voll. Das habe ich sehr, sehr gern gemacht. Aber
Sie können nicht zurücktreten und drei Monate später sagen: Jetzt
lasse ich mich wieder wählen.
SPIEGEL : Einen
Rücktritt vom Rücktritt gibt es also nicht.
Käßmann : Nein.
SPIEGEL : Wie wollen
Sie denn in Zukunft Ihr Geld verdienen?
Käßmann : Ich habe
noch nichts Konkretes. Das Jobprofil ist für die Kirche ja auch
durchaus schwierig: Wo findet sie für eine 52-Jährige, die
Bischöfin sowie Ratsvorsitzende war, jetzt einen neuen Ort? Ich
möchte ja auch keinen Sonderposten zur Versorgung Käßmanns, keinen
Dissidentenstatus. Ab August bin ich erst mal vier Monate als
Gastdozentin an der Emory University von Atlanta. Mit dem Abstand
hoffe ich dann, dass zum 1. Januar irgendeine Aufgabe da ist.
SPIEGEL : Könnten
Sie sich auch etwas außerhalb der Kirche vorstellen?
Käßmann : Nur
schwer, denn an ihr hängt mein Herz. Und ins Ausland würde ich
ungern gehen, weil ich hier die vier Töchter habe und beheimatet
bin. Das wäre auch so, als müsste ich flüchten.
SPIEGEL : Oder
bleiben Sie lieber, weil Sie ohne die deutsche Öffentlichkeit nicht
auskommen?
Käßmann : Ich
würde gern viel zurückgezogener leben, als Sie sich das vorstellen
können. Ja, ich genieße es im Moment auch, dass ich nicht ständig
irgendwelche Termine habe. Es ist schön, sich mal zurückziehen,
lesen, nachdenken zu können und nicht ständig nur agieren und auf
andere reagieren zu müssen.
SPIEGEL : Frau
Käßmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Margot
Käßmann war Deutschlands bekannteste Protestantin, als sie vor vier
Monaten wegen Trunkenheit am Steuer in die Schlagzeilen geriet. Ihre
Wahl zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD) im Oktober 2009 wurde als Zeichen des gesellschaftlichen und
kirchlichen Wandels in Deutschland verstanden: Käßmann, Jahrgang
1958, seit 2007 geschiedene Mutter von vier Töchtern, war die erste
Frau in diesem Amt. Als Tochter eines Kfz-Schlossers mit eigener
Tankstelle und einer Krankenschwester wuchs sie in Marburg auf. Nach
einem Theologie-studium in Tübingen, Edinburgh, Göttingen und
Marburg machte sie in der evangelischen Kirche Karriere. Ab 1985
betreute sie gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann, ebenfalls einem
Pfarrer, mehrere hessische Kirchengemeinden. 1999 wurde sie von der
hannoverschen Landeskirche zur Bischöfin auf Lebenszeit gewählt. In
diesem Amt pflegte Käßmann einen ebenso eigenwilligen wie
umstrittenen Stil, immer wieder thematisierte sie persönliche
Erfahrungen in ihren Predigten und Schriften, zum Beispiel ihre
Scheidung nach 26 Ehejahren oder eine Brustkrebserkrankung im Jahr
2006. Ihr politisches Amtsverständnis wurde berühmt, darunter ihre
Äußerungen zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Nach einem Kino-
und Restaurantbesuch in Hannover überfuhr Käßmann am 20. Februar
mit ihrem Dienstwagen eine rote Ampel. Die Polizei stellte
anschließend einen Alkoholwert von 1,54 Promille fest. Vier Tage
später kam der Vorfall, auf bislang ungeklärtem Weg, in die
Öffentlichkeit. Nach einem verheerenden Presseecho ("Wasser
predigen, Wein trinken, Gas geben") trat sie am 24. Februar von
ihren Ämtern als EKD-Ratsvorsitzende und Bischöfin zurück. Zurück |