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Beate Lakotta „Ein Leben wie im Fegefeuer

Dieser Text wurde ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis 2011 in der Kategorie Interview

Ein Leben wie im Fegefeuer“


Der an Alzheimer erkrankte Psychologieprofessor Richard Taylor über seinen langen Weg ins Vergessen



Beate Lakotta, Spiegel, 01.03.2010



Ein Vorort von Houston, Texas, eine typische Einfamilienhausgegend, Mittelschicht. Hier lebt Richard Taylor, der prominenteste Alzheimer-Aktivist der USA. Er war Psychologieprofessor und 58 Jahre alt, als er 2001 seine Diagnose bekam. Bald darauf begann er, täglich zu schreiben, um besser zu verstehen, was mit ihm vorging. Aus diesen Dokumenten entstand sein Buch: "Alzheimer und Ich".

Dem Verlag zufolge schreitet Taylors Krankheit sehr langsam fort, er sei immer noch ein gefragter Redner bei Fachkonferenzen. Alle Antworten auf E-Mails, um dieses Gespräch zu verabreden, kamen jedoch von Taylors Frau Linda. Wie würde Taylors aktuelle Verfassung beim SPIEGEL-Gespräch sein? Vorsichtshalber war es auf zwei Tage angesetzt.

Zehn Uhr morgens, Dr. Taylor selbst öffnet die Tür. Er ist fast zwei Meter groß, graue Haare, Bart, Brille. Er trägt ein blau-weiß gestreiftes Hemd, Jackett, Stoffhose und Wollsocken. Er sieht so aus, wie man sich einen Universitätsprofessor vorstellt.


SPIEGEL: Guten Morgen, Dr. Taylor. Schön, Sie zu sehen.

Taylor: Hallo, guten Morgen. Kommen Sie rein. Danke, dass Sie von so weit her gekommen sind. Gibt es denn bei Ihnen in Deutschland keine Alzheimer-Kranken, die Sie interviewen könnten?

SPIEGEL: Es gibt ungefähr 1,3 Millionen. Aber noch keiner von ihnen hat so anschaulich über sein Leben mit Alzheimer geschrieben wie Sie.


Im Haus ist alles penibel aufgeräumt. Keine gelben Post-it-Zettel an den Schranktüren, keine Wegweiser zur Toilette oder zum Schlafzimmer, wie man sie in der Wohnung von Menschen mit schwerer Demenz manchmal findet. Taylor bittet an den Tisch im Esszimmer mit offener Küche. Am Herd fehlen die Knöpfe. Er stellt einen abgepackten Kuchen auf den Tisch, dazu ein Messer und zwei Servietten.


Taylor: Man kann jedem, der Demenz hat, nur raten zu schreiben. Ich habe damit angefangen, weil ich unglaubliche Angst hatte, dass ich eines Morgens aufwache, und eine Art von Vorhang trennt mich vom Rest der Welt. Ich dachte, wenn ich jeden Tag lese, was ich am Tag zuvor geschrieben habe, wüsste ich immer, ob mit mir noch alles okay ist.

SPIEGEL: Sie waren sich dessen nicht sicher?

Taylor: Nein. Weil man seine Erinnerungen verliert. Man verwandelt sich nach und nach in einen Menschen, den man noch nicht kennt. Und der, den man kannte, verschwindet.

SPIEGEL: Ist Ihnen das ständig präsent?

Taylor: Ja. Demenz kann man nicht einfach verdrängen. Sie können nicht ignorieren, dass Sie durcheinander sind oder andauernd Sachen vergessen. Das sind ja Sie!

SPIEGEL: Haben Sie selbst gemerkt, dass etwas nicht mit Ihnen stimmte?

Taylor: Linda hat es gemerkt. Sie hat mir gesagt, dass ich mich verfahre, dass ich mein Jackett liegengelassen hatte, dass ich auf einmal unpünktlich wurde. Das hat mich beunruhigt, und ich wollte wissen, was los war. Es hat ein Jahr gedauert, bis ich die Diagnose bekam. Die nehmen sich Zeit für die vielen Untersuchungen. Aber die Ungewissheit war wie leben im Fegefeuer. Danach kam die Hölle.

SPIEGEL: Sie meinen, nach der Diagnose?

Taylor: Ja. Als es hieß: "Demenz, wahrscheinlich vom Alzheimer-Typ", war ich so geschockt. Ich bin in den Garten gelaufen und habe geweint. So laut, dass Linda gesagt hat: "Komm rein, alle Nachbarn hören dich." Ich habe drei Wochen lang geweint. Der smarte Dr. Taylor verstand nicht mehr, was los war! Ich wurde depressiv. Ich habe aufgehört zu arbeiten und Auto zu fahren. Ich hing nur noch zu Hause rum. Ich hatte das Gefühl, ich würde sehr bald sterben. Ich hatte gelesen, dass die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Diagnose rein statistisch noch zehn Jahre beträgt.

SPIEGEL: Tatsächlich verläuft bei Ihnen die Krankheit erstaunlich langsam. Wie erklären Sie sich das?

Taylor: Ich habe meine Diagnose in einem extrem frühen Stadium bekommen. Damals hatten sie noch nicht einmal die-ses … Sie haben es erst danach erfunden, sie nennen es Leichte Kognitive …

SPIEGEL: … Beeinträchtigung?

Taylor: Beeinträchtigung! Genau. Das zeigt mal wieder, dass eine Sache erst dann anfängt zu existieren, wenn man ein Wort dafür hat. Im Rückblick glaube ich, auch mein Vater hatte Demenz. Aber ich habe es damals nicht so genannt. Er war einfach alt und senil.

SPIEGEL: Selbst wenn Sie damals erst eine Vorstufe der Demenz hatten - fast zehn Jahre später bemerkt man bei Ihnen erst mal verblüffend wenig Symptome.

Taylor: Ja, wahrscheinlich weil ich eine ziemlich große kognitive Reserve habe. Weil ich ein riesiges Vokabular hatte und schon immer ein sehr guter Redner war. Ich bin neugierig, ich denke mehr über das Denken nach als die meisten. Das hilft mir, gegen die Symptome zu kämpfen. Und ich kann damit auch eine Menge vertuschen. Aber selbst jetzt, während wir sprechen, bemerke ich, dass ich Fragen anders beantworte, als ich es tun würde, wenn ich nur könnte.


Taylor spricht langsam und etwas schleppend, aber druckreif. Er hat den Butterkuchen ausgepackt, für sich selbst ein Stück abgeschnitten und beginnt zu essen. Ist das unhöflich? Eine Folge der Demenz? Oder in Texas normal? Seine Frau schlafe noch, sagt Taylor, weil sie Nachtdienst im Krankenhaus hatte, sie ist Hebamme. Mit dem Kaffee müsse man leider warten, bis sie wach sei, da er selbst nie die Kaffeemaschine bediene.


SPIEGEL: Es ist wirklich erstaunlich: Sie haben ein Buch geschrieben, Sie reisen als Alzheimer-Aktivist durch die Gegend und halten Vorträge, Sie reden ganz normal - wo ist eigentlich das Problem?

Taylor: Ich habe schon erlebt, dass Ärzte sagen: "Ich habe eben Ihren Vortrag gehört. Sie können kein Alzheimer haben." Für die geht es schon damit los, dass ich nicht aussehe wie jemand aus einem Heim. Ich sage dann: "Haben Sie mich vor zwölf Jahren schon mal reden gehört? Wenn Sie mit mir leben würden, wüssten Sie, dass ich die Fernbedienung ins Eisfach lege und vergesse, die Haustür hinter mir zuzumachen, wenn ich gehe." Ich habe schon ein paarmal fast das Haus abgebrannt. Ich habe mir gesagt: Ich koche einfach nicht mehr. Aber dann habe ich trotzdem gekocht. Deswegen hat der Herd keine Knöpfe mehr.

SPIEGEL: Weil Sie vergessen hatten, dass Sie es nicht mehr tun wollten?

Taylor: Vergessen ist das falsche Wort. Es impliziert: Etwas ist verschwunden. Tatsächlich ist es noch da, aber man kommt nicht ran. Es ist ein Fehlen von Aufmerksamkeit und Bewusstheit.


In der Zwischenzeit ist Linda Taylor aufgestanden. Sie hat die Kaffeemaschine in Gang gesetzt und den Kuchen in Stücke geschnitten. Sie hat ein bisschen Zeit und setzt sich dazu. Sie weiß, dass Fremde oft nicht glauben können, dass ihr Mann krank ist.


Linda: Hat er Ihnen schon erzählt, was an Weihnachten los war?

SPIEGEL: Nein, was denn?

Linda: (zu Richard) Erzähl das mal!

Taylor: Ich brauchte ein Teil für meinen Computer. Mein Sohn hatte versprochen, es zu besorgen, und mich dann immer wieder vertröstet … Deshalb bin ich einfach losgelaufen. In irgendeine Richtung.

Linda: Es war Heiligabend! Es war schon dunkel. Alles war zu. Es fror. Auf einmal war er weg. Wir sind alle ausgeschwärmt. Wir haben nach ihm gerufen, haben an alle Türen geklopft, ob er sich irgendwo festgeplaudert hat. Am Ende hat die halbe Nachbarschaft nach ihm gesucht.

Taylor: Irgendwann hielt mein Sohn mit seinem Auto neben mir und sagte: "Los Dad, steig ein, ich bringe dich heim." Als wir ankamen, standen die Nachbarn hier rum. Ich hab gar nichts kapiert. Ich kam in die Küche, und meine Frau fragte mich, wo ich gewesen war. Ich habe ihr gesagt, dass ich nur ein Teil für den Computer kaufen wollte. Da fing sie an zu weinen. Sie schnitt gerade Zwiebeln. Und ich habe gesagt: "Wow, das sind ja wohl die schärfsten Zwiebeln, die ich je gesehen habe." Aber da weinte sie nur noch mehr.

SPIEGEL: Immerhin können Sie heute noch darüber reden.

Taylor: Ja. Weil ich mir von Linda immer wieder habe erzählen lassen, was passiert war. Trotzdem bin ich schon jetzt nicht mehr der Partner, der ich mal war. Linda kümmert sich um mich, aber ich kann mich nicht um sie kümmern. Das macht mich traurig. Aber ich fühle mich noch immer getröstet und unterstützt und geliebt.

SPIEGEL: Wie verändert Alzheimer Beziehungen?

Linda: Es verändert alles: die Intimität, das Vertrauen, die Verantwortlichkeit.

Taylor: Natürlich hatten wir die romantische Vorstellung, im Alter zusammen zu reisen. Wir tun manchmal immer noch so, als ob wir uns auf die gleiche Reise begeben hätten. Tatsächlich geht aber jeder seinen Weg. Meiner ist eine Sackgasse.


Die beiden sind gewohnt, offen miteinander zu reden. Linda sagt, seine Krankheit habe ihren Mann ungeduldig und ichbezogen gemacht. Im ganzen Haus verteile er seine Listen mit Aufträgen. Es sei hart, das Gedächtnis für zwei zu sein. Ständig gebe es Streit um Geld, weil er keine Grenzen mehr kenne. Und sosehr sie sich bemühe, nie habe sie das Gefühl, genug für ihn zu tun. Während sie erzählt, ist ihr Mann ohne erkennbaren Anlass aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen.


SPIEGEL: Wo ist er eigentlich? Er kommt gar nicht wieder.

Linda: Er ist definitiv nicht nach draußen gegangen. (Von nebenan sind Schritte zu hören, jemand raschelt mit Papier)

Linda: Was machst du da, Honey?

Taylor: Ich laufe rum und schaue, wo die Journalistin ist.

Linda: Sie ist hier. Sie wartet auf dich, damit ihr weitermachen könnt.

Taylor: Oh! Ach so. Was wollen Sie denn sehen: meine Pillen? Hier! (Schüttet eine Pillenschachtel aus) Das ist für morgens, das für den Abend. Das ist Fisch-Öl, Vitamin B …

SPIEGEL: Und die rote da?

Taylor: Weiß ich nicht. Es muss wohl was Wichtiges sein, sonst wäre sie nicht rot. Ich nehme ein Antidepressivum, aber in geringer Dosis. Ginkgo habe ich nie probiert. Ich habe eine Zeitlang unglaubli-che Mengen Vitamin E genommen. Das schadet nie. Und einen Cholesterinsenker nehme ich noch, obwohl ich eigentlich nicht weiß, warum. Seit kurzem verschreiben sie hier auch ein Parkinson-Medikament gegen Demenz. Ich habe es probiert, aber nicht vertragen. (Schüttet alle Pillen wieder durcheinander in die Schachtel)

SPIEGEL: Müssen Sie die nicht in der richtigen Reihenfolge nehmen?

Taylor: Nein. Ich nehme einfach eine Handvoll. Ehrlich gesagt, halte ich nicht viel davon.

SPIEGEL: Weil man Ihre Krankheit nicht heilen und auch kaum behandeln kann?

Taylor: Es ist gar keine Krankheit. Ich bezeichne es als Zustand. Unser Begriff von Krankheit passt einfach nicht auf die Demenz. Aber die Demenz ist medikalisiert worden. Die Ärzte verschreiben Pillen dagegen. Sie besitzen die Krankheit, und die Leute lassen das zu. Ich aber sage immer: Wir brauchen keine Pharma-Zeutika, sondern Sozio-Zeutika. Eigentlich müsste der Arzt auf das Rezept die Telefonnummer von jemandem schreiben, der in einer vergleichbaren Situation ist: "Ruf ihn an, verabredet euch. Damit du siehst: Leute mit Demenz sind normal. Sie sind wie du."

SPIEGEL: Was tun Sie gegen die Symptome?

Taylor: Ich versuche, mich vernünftig zu ernähren. Ich bewege mich. Aber das Wichtigste ist, in Kontakt zu bleiben. Meine Enkelin kommt mich jeden Tag besuchen. Wir malen oder spielen Wii zusammen. Wenn ich mit ihr Karten spiele, rege ich mich manchmal fürchterlich auf, wenn ich die Regeln vergesse. Aber sie nimmt das sehr gut! Kleine Kinder akzeptieren so vieles selbstverständlich. Das war auch das Schöne, als wir noch unsere Hündin hatten, Annie. Sie ist gestorben. An Altersschwäche.

Linda: Der Hund ist unser größtes Streitthema. Ich verstehe, dass Richard unbedingt einen neuen will: Annie liebte ihn und ist ihm überallhin gefolgt. Aber mir wird das zu viel. Als sie alt wurde, hat sie überall hingemacht. Sie hätte rausgemusst, aber er hat es nicht mitgekriegt. Es fing hier drin an zu riechen. Ehrlich gesagt, ich glaube, Richard hat ein bisschen sich selbst in Annie gesehen.

Taylor: Wuff, wuff! Hahaha! - - - Meine Frau hat mir Frösche und Fische als Ersatz genehmigt. Aber das ist nicht dasselbe. Wollen Sie sie mal sehen?


Von der Küche führt eine Tür in den kleinen Garten. Richard ist ein begeisterter Gärtner, aber er habe längst den Überblick verloren, sagt er. In einer Ecke steht das Terrarium mit Fröschen und Echsen. Auf dem Rasen davor liegen ein paar tote, vertrocknete Aquariumfische herum.


SPIEGEL: Wir sprachen ja eigentlich gerade über Ihre Beziehungen. Warum wollen Sie unbedingt wieder einen Hund?

Taylor: Ich bin so allein. Meine Enkel gehen zur Schule, Linda geht zur Arbeit, und ich bin ans Haus gefesselt. Dem Hund ist es egal, ob du Alzheimer hast. Er liebt dich bedingungslos. Ich wünsche mir so sehr ein Wesen, das mich auch dann noch akzeptiert, wenn ich nicht mehr weiß, wie ich heiße. Wenn ich Windeln trage und nur noch stammele.

SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass die Menschen um Sie herum Sie verlassen?

Taylor: Das Versprechen, das Linda und ich uns einmal gegeben haben, beruht darauf, dass wir uns lieben. Aber weil ich die Verbindung zu meiner Vergangenheit verliere, kann ich auch die Gefühle nicht mehr hervorbringen, die auf dieser Vergangenheit basieren. Eines Tages werde ich nicht mehr wissen, wie man Liebe ausdrückt. Nach und nach wird alles verschwinden, was uns verbindet. Und ich vermute, dass ich es nicht einmal vermissen werde. Aber Linda.

SPIEGEL: Werden Sie den Punkt erkennen, an dem es kippt?

Taylor: Ich höre oft, dass es ein Wendepunkt ist, wenn Sie den Namen desjenigen vergessen, mit dem Sie verheiratet sind. Ich glaube aber, Sie haben nur den Namen vergessen, nicht den Menschen. Ich werde auch dann noch das Bedürfnis haben, geliebt zu werden. Ich werde nur die Fähigkeit verlieren, das auszudrücken.

SPIEGEL: Wie hat sich das Verhältnis zu Ihren Kindern verändert?

Taylor: Sie nehmen einem einfach Sachen aus der Hand und sagen: "Lass mich das machen!" Sie tun das in guter Absicht. Aber da ist kein "Danke" und "Bitte" mehr. Kein "Darf ich" oder "Möchtest du". Immer dieses: "Lass mich das machen."

SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, um Hilfe zu bitten?

Taylor: Ach, die anderen sind immer sooo beschäftigt. Nachdem ich nicht mehr Auto fahren konnte, habe ich angefangen, Listen zu schreiben mit den Dingen, die sie mir besorgen sollten oder wo ich bitte hingefahren werden möchte. Irgendwann habe ich Daten dazugeschrieben, weil ich nicht wusste, ob ich Linda glauben sollte, wenn sie sagte, dass ich sie zum ersten Mal um etwas so Wichtiges bat wie Ketchup oder Cracker. Ohne Auto und Portemonnaie kann ich nicht mal mehr ein Stück Butter allein kaufen.

SPIEGEL: Vermissen Sie das Einkaufen?

Taylor: Und wie! Neulich hat sie mich zum ersten Mal seit Monaten wieder mit in den Supermarkt genommen. Ich erinnere mich, wie großartig sich das anfühlte: die Freiheit, einfach herumzulaufen und alles in den Korb zu tun, was ich haben wollte. Es war ein unglaubliches Glücksgefühl.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich bevormundet?

Taylor: Klar. Stellen Sie sich vor, jemand sagt: "Gib mir deinen Autoschlüssel, dein Geld, einfach alles." Ich habe protestiert, als Linda Türschlösser einbauen ließ, die man nicht automatisch von innen aufkriegt. Ich will nicht eingesperrt sein. Aber wahrscheinlich hat sie recht. Alle behandeln mich wie ein Kind. Irgendwann werde ich wohl der Sohn meiner Frau sein. Davor habe ich unglaubliche Angst. Ich versuche immer zu warten, bis sie abends von der Arbeit kommt …

Linda: … und wenn ich komme, brennen alle Lichter, der Fernseher läuft in voller Lautstärke, die Haustür steht offen. Und er liegt im Bett und hat die Brille noch auf.

Taylor: Dann schaut sie unter die Decke, um zu sehen, ob ich noch alle Klamotten anhabe. Hahaha!

Linda: Das hab ich heute Nacht gemacht. Kommst du deshalb jetzt darauf?

Taylor: Ich weiß nicht. - - - Hast du das gemacht?

Linda: Ja.

Taylor: Oh.

SPIEGEL: Erschreckt Sie das?

Taylor: Sehr. Man fragt sich ja andauernd, wie viel Zeit einem noch bleibt. Deswegen habe ich anfangs auch bei einer Alzheimer-Studie an der Uni mitgemacht. Ein Test besteht zum Beispiel darin, dass man Karten auf Stapel sortieren muss. Nach welchen Regeln, muss man selbst herausfinden. Aber mitten im Test ändern sie die Regeln, ohne es dir zu sagen. Plötzlich heißt es: "Falsch! Falsch! Falsch!" Als Gesunder kapiert man irgendwann die neue Regel, aber ich konnte nicht umschalten. Ich habe angefangen zu weinen, weil ich so oft "falsch" bekommen habe.

Linda: Und dann hat er geübt.

SPIEGEL: Die Tests geübt?

Linda: Den Uhrentest.

Taylor: Es ist ein blödsinniger Test.

Linda: Sie machen ihn jedes Mal: Man muss immer zehn vor oder zehn nach der vollen Stunde zeichnen. Also hat er geübt: zehn vor, zehn nach.

Taylor: Ich brauche diese Tests nicht. Ich weiß auch so, dass ich Probleme habe.

Linda: Für mich war es wichtig, weil ich es nicht glauben konnte, dass er Alzheimer hat. Erst als mir der Arzt seine Testergebnisse erklärt hat, habe ich es begriffen.

SPIEGEL: Welche Rolle spielt Intelligenz?

Taylor: Die meisten Leute kennen ihren IQ gar nicht. Aber für mich war das etwas Wichtiges. Es war Teil meiner Identität.

SPIEGEL: In Ihrem Buch haben Sie beschrieben, wie Sie nach einem Test das Gefühl hatten, ins Bodenlose zu stürzen: "Mein IQ ist von 148 auf 114 gefallen. Meine Verarbeitungsgeschwindigkeit ist kaum schneller als die eines Backsteins, und das Bewusstsein meiner selbst ist nahe an dem einer Eidechse." Man hört die Demütigung heraus.

Taylor: Wenn man als Psychologe auf Testergebnisse schaut, sieht man nicht nur Zahlen. Ich bin diese Zahlen. Man sieht, wie es abwärtsgeht. Das traf mich tief, obwohl es ja kein so extremer Abfall war.

SPIEGEL: Von 148 auf 114? Hm.

Taylor: Außerdem greift Alzheimer die Intelligenz nicht wirklich an. Es greift nur die Fähigkeit an, Intelligenz auszudrücken.

SPIEGEL: Für Ihre Umwelt macht das keinen Unterschied, oder?

Taylor: Ich bin immer noch engagiert, witzig und charmant. Auch wenn ich nicht mehr all die Fakten ausspucke, wie ich es früher konnte. Aber von dem Moment an, wo die Leute wissen, dass man Alzheimer hat, trauen sie einem nicht mehr zu, dass man etwas zu sagen hat.

SPIEGEL: Wie drückt sich das aus?

Taylor: Einmal habe ich mit meiner Schwiegertochter meine Frau ins Krankenhaus begleitet. Sie hatte eine Rücken-OP. Die Ärzte kannten uns und wussten, dass ich Alzheimer habe. Als bei Linda die Betäubung anfing zu wirken, haben sie automatisch alle Fragen an meine Schwiegertochter gerichtet. Ich war für sie praktisch nicht vorhanden. Dann musste meine Schwiegertochter kurz raus, und ein neuer Arzt kam rein, der mich nicht kannte. Er hat mich alles Mögliche gefragt, wir haben ganz normal geredet. Keine verstohlenen Blicke hinüber zu jemand anderem, um sich zu vergewissern, ob es stimmt, was ich sage. Als mir das bewusst wurde, war es überwältigend. Es fühlte sich so gut an, wie ein vollwertiger Mensch behandelt zu werden.

SPIEGEL: Spüren Sie diesen Kontrast oft?

Taylor: Ständig. Ich war mal beim Friseur, mein Bruder war mit dabei. Wir plauderten, und die Friseurin erzählte, bei ihrem Vater sei kürzlich Alzheimer diagnostiziert worden. Ich sagte: "Ich habe auch Alzheimer." Da drehte sie sich zu meinem Bruder und fragte ihn: "Was für einen Schnitt will er denn eigentlich haben?"

SPIEGEL: Wie haben Ihre Kollegen an der Uni reagiert, als sie von Ihrer Diagnose erfuhren?

Taylor: Hilflos. Sie rufen nicht mehr an. Sie wollen mich nicht in peinliche Situationen bringen. Sagen sie. Vielleicht haben sie Angst, dass ich auf einem Empfang meine Hose runterlasse und auf den Boden pinkle.

SPIEGEL: Und Ihre Freunde?

Taylor: Melden sich auch nicht mehr. Ich habe sie angerufen und gefragt, wie es sein kann, dass wir uns seit zwei Monaten nicht gesehen haben. Sie haben gesagt, sie wüssten nicht, was sie zu mir sagen sollen. Ich hab gesagt: "Sag doch einfach hallo!" - "Aber worüber sollen wir reden?" - "Warum reden wir nicht über George W. Bush? Über den Weltfrieden, die Klimaerwärmung oder deine Eheprobleme wie sonst immer?"

SPIEGEL: Was haben sie geantwortet?

Taylor: "Ich wusste nicht, dass du dich dafür noch interessieren würdest." Sie sehen mich schon als jemanden im Verschwinden. Sie erwarten, dass ich vor ihren Augen verdampfe. Dabei bin ich noch immer ein ganzer Ozean.


Zwischendurch erkundigt sich Taylor, ob er die Fragen eigentlich gut beantworte. Als er davon spricht, wie ihn alle fallengelassen haben, ringt er um Fassung. Seine Sprache ist während der letzten Stunde immer verwaschener geworden. Es reicht für heute. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen. Als Taylor diesmal die Tür öffnet, trägt er statt des Professoren-Outfits Freizeitkleidung.


SPIEGEL: Guten Morgen, wie geht's?

Taylor: Danke, ich bin ein bisschen müde, Ich habe noch bis um drei Uhr morgens gearbeitet, an einem neuen Buch. Es soll "75 Fragen zu Alzheimer" heißen. Mein Bruder organisiert das. Er schickt mir jeden Tag drei Fragen und kontrolliert, dass ich etwas schreibe. Ich fürchte sowieso, ich werde das nicht mehr lange können.

SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?

Taylor: Die Qualität meines Ausdrucksvermögens lässt nach. Ich kämpfe mit diesen Gedächtnisproblemen. Meine Gedanken sind so desorganisiert, dass ich schnell abgeschnitten bin von meinem eigentlichen Ziel. Auch das Telefonieren fällt mir schwer. Ich sehe die Ziffern, aber ich kann sie auf dem Telefon nicht mehr in der richtigen Reihenfolge drücken.

SPIEGEL: Aber schreiben können Sie noch?

Taylor: Das geht besser. Ohne Diktier- und Rechtschreibprogramme wäre ich aber schon lange verloren.

SPIEGEL: Mit welcher der 75 Fragen haben Sie sich gestern befasst?

Taylor: Das weiß ich nicht mehr. Aber ich könnte nachsehen …


Taylor geht hinüber in sein kleines Büro, das vollgestopft ist mit Computerzubehör, Büchern, Fotos und Auszeichnungen, sowohl aus der Vor- als auch aus der Nach-Alzheimer-Periode, und kommt nicht wieder. Etwa eine Viertelstunde vergeht. Hat er das Gespräch vergessen?


SPIEGEL: Richard? Wo sind Sie?

Taylor: Oh, habe ich Sie warten lassen? Ich habe noch mal nachgesehen. Gestern ging es um Einsamkeit.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich oft einsam?

Taylor: Dauernd. Ich spüre Trauer in mir, und ich glaube nicht, dass sie noch mal weggeht. Ich spüre, wie die Kluft zwischen mir und den anderen täglich größer wird.

SPIEGEL: In welchen Momenten sind Sie sich dessen besonders bewusst?

Taylor: Ich spüre es jetzt in meiner Magengrube, während wir darüber sprechen. Oder wenn ich unter Leuten bin, alle reden, die Stimmung ist toll, aber ich kann dem Gespräch nicht folgen. Meine Gedanken schweifen ab. Ich vergesse, was ich gerade sagen oder kommentieren wollte. Minuten später, wenn die anderen schon bei etwas ganz anderem sind, fällt es mir dann ein. Ich platze damit heraus, und alle starren mich an. Es ist, als hielten sie ein Schild hoch: DU HAST ALZHEIMER!

SPIEGEL: Passiert Ihnen so was häufig?

Taylor: Ja, ich falle jetzt öfter aus der Rolle. Meine Tochter brachte mich zum Beispiel einmal zum Gate am Flughafen. Beim Einchecken gab es eine lange Schlange. Nur beim First-Class-Schalter stand niemand. Ich habe ziemlich laut gesagt: "Hey, Leute, es sind ja gerade keine Reichen da. Könnt ihr so lange vielleicht bitte uns bedienen?" Erst fanden die Leute das lustig. Aber ich redete einfach weiter: "Keine Sorge, wenn noch reiche Pinkel kommen, verdrücken wir uns, schließlich wissen wir, wo unser Platz ist", so in dem Stil. Auf einmal sagte meine Tochter in einem sehr ruppigen Ton zu mir: "Dad, kannst du BITTE die Klappe halten?" Sie hatte noch nie im Leben so mit mir geredet. Und ich habe ganz erwachsen reagiert: Ich habe geschmollt. Erst eine halbe Stunde später habe ich sie gefragt: "Shannon, warum hast du das gesagt?" Und sie sagte: "Du hast einfach nicht mehr aufgehört. Das habe ich an dir noch nie erlebt."

SPIEGEL: Haben Sie sich geschämt?

Taylor: Sehr. Es war mir peinlich, und ich hatte Angst. Weil ich erkannte, dass ich meine Gefühle nicht mehr kontrollieren kann. Man selbst denkt immer, man verhalte sich ganz normal. Aber der Vorfall hat mir gezeigt, dass ich mir meiner selbst kein bisschen bewusst war.

SPIEGEL: Wenn ich Sie jetzt fragen würde: Wie ging es Ihnen gestern?

Taylor: Na ja, ich würde irgendetwas antworten. Aber verlassen Sie sich nicht allzu sehr darauf, dass es stimmt. Hahaha!

SPIEGEL: Sie finden das nicht wirklich lustig, oder? Unser Ich-Gefühl ist davon abhängig, dass wir uns als Kontinuum verstehen. Wir sind unsere Erinnerungen.

Taylor: Klar, das berührt lauter existentielle Fragen. Die wichtigste ist: Wer bin ich?

SPIEGEL: Sind Sie noch der alte Richard Taylor?

Taylor: Nein. Ich bin der Richard, der ich jetzt gerade bin. Wir alle verändern uns ja ständig und leben nur in der Illusion, immer die Gleichen zu sein. Diese Illusion wird allerdings ziemlich erschüttert, wenn man Alzheimer hat.

Für mich gibt es jetzt vier Dinge, die mir wichtig sind. Erstens: Du musst deine ganze Aufmerksamkeit auf das Heute richten. Zweitens: Du musst … hm … ich weiß jetzt nicht mehr genau, welches die vier Sachen sind. Sie ändern sich auch von Tag zu Tag. Aber die Leute wollen immer gern die gleichen Geschichten hören. Zum Beispiel die mit dem Spitzenvorhang. Habe ich die schon erzählt?

SPIEGEL: Nein.

Taylor: Wenn Leute mich fragen, wie es ist, mit Alzheimer zu leben, dann sage ich immer: Es ist ein Gefühl, als säße ich im Wohnzimmer meiner Großmutter. Ich betrachte die Straße draußen durch ihre Spitzenvorhänge. Die Vorhänge haben Muster mit dicken Knoten, die mir die Sicht versperren. Manchmal bewegen sich die Vorhänge im Luftzug, und ich sehe etwas wieder, und dann schwingt die Gardine zurück, und ich bin wieder abgetrennt von meinen Erinnerungen.

SPIEGEL: Ein schönes Bild.

Taylor: Ich habe übrigens Lust auf Leberwurst, Sie auch? Irgendwo muss doch noch dieser tolle deutsche Senf sein … (Steht auf und sucht im Schrank)

SPIEGEL: Eines Tages werden Sie vielleicht nicht mehr schlucken können, wie viele Alzheimer-Kranke…

Taylor: Dann werde ich wohl verhungern. Ich will keine Magensonde, niemals.

SPIEGEL: Haben Sie je an Suizid gedacht?

Taylor: Nur theoretisch. In der Praxis verlieren Menschen mit Demenz irgendwann die Fähigkeit, das zu tun. Und ich würde das Recht, mich zu töten, an niemand anders delegieren wollen.

SPIEGEL: Sie gehen oft in Pflegeheime. Warum tun Sie sich das an?

Taylor: Weil sie mich einladen, dort zu sprechen. Einmal sagte eine Frau danach zu mir: "Ich gehe jetzt nach Hause und nehme meinen Mann in den Arm. Das habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Ich bin seine Pflegerin, Krankenschwester, Haushälterin geworden."

Aber wissen Sie, ich gehe dort auch hin, um eine Bestätigung für meine Hoffnung zu finden, dass es immer noch Menschen sind, die dort drinnen leben.

SPIEGEL: Und, finden Sie sie?

Taylor: Ja. Selbst im letzten Stadium misst man mit dem EEG noch Hirnströme. Wenn Sie zum Beispiel meine Schulter streicheln, dann gibt es eine Antwort. Ob das Bewusstsein ist? Keine Ahnung. Aber ich glaube, dass da etwas ist. Ich muss das glauben, sonst wären wir lebende Tote.

SPIEGEL: Linda sagte gestern, sie werde Sie niemals in ein Heim geben. Aber wenn Sie desorientiert herumlaufen und zur Gefahr für sich selbst werden?

Taylor: Dann wird nur eine solche Institution bleiben. Ich weiß das. Linda hat einen starken Willen. Sie denkt, sie schafft alles. Aber ich bin Realist. Sie ist jünger als ich. Wenn sie mich in ein Heim gibt, dann kann sie ein anderes Leben anpacken, ohne mich. Sie kann mich ja besuchen.

SPIEGEL: Wie stellen Sie sich Ihr Leben dort vor?

Taylor: Die Experten sagen: Bingo spielen, kleine Bastelarbeiten machen, Lieder singen – das ist es, was Richard glücklich machen wird. Statt einem zu helfen, noch das Beste aus dem eigenen Leben herauszuholen. Aber dafür müssten sie einen kennen. Menschen mit Demenz haben ja noch enorme Ressourcen, wenn man sie anregt: Es gibt phantastische Alzheimer-Chöre und Rhythmusgruppen. Die einen lernen "Bam, bam, bam", die anderen "Babam, babam", und sie haben einen Riesenspaß …

SPIEGEL: Wäre das was für Sie?

Taylor: Okay. Heute kann ich mir das schwer vorstellen. Heute höre ich Mozart, ab und zu spiele ich noch auf meinem Banjo. Aber wenn die Alternative wäre, in meinem Rollstuhl vor dem Fernseher geparkt zu werden? Das ist doch das Problem: Wir brauchen Leute, die unsere Kreativität fördern. Aber was wir kriegen, sind Reinigungsfachkräfte.

SPIEGEL: Wie geht es Ihnen bei der Vorstellung, dass man Sie eines Tages womöglich ans Bett fesseln und alleinlassen wird?

Taylor: Es macht mir eine Scheißangst. Aber vielleicht werde ich als derjenige, der ich dann sein werde, diese Angst nicht mehr haben?


Linda Taylor sagt hallo. Sie stellt etwas zum Essen hin, bevor sie zum Dienst geht. Sie sagt, sie habe Angst, Richard werde bald gar nicht mehr allein fliegen können, selbst wenn man ihn bis zum Gate bringe. Dann werde er auch nicht mehr zu Vorträgen reisen können. Die Auftritte, hatte Taylor gesagt, seien die Quelle seines Lebensmuts. Sie knüpfen da an, wo an der Uni Schluss war.


SPIEGEL: Was ist an der Uni passiert, als bekannt wurde, dass Sie Demenz haben?

Taylor: Ich habe es ein paar Jahre geheim gehalten. Ich habe zwei Studenten gebeten, ein Kärtchen hochzuheben, wenn ich abschweife. Ich hatte ihnen erklärt, es sei ein Experiment. Aber dann hatte ich solche Schwierigkeiten mit dem komplizierten Punktesystem. Ich habe alle Noten durcheinandergebracht. Irgendwann habe ich entschieden, es wäre besser aufzuhören. Ich habe den Dekanen gesagt …

Linda: Sie haben dich dazu gezwungen.

Taylor: Was sagst du?

Linda: Du wolltest, dass sie dir eine Hilfskraft geben. Aber das wollten sie nicht. Deshalb musstest du gehen.

Taylor: O Gott. Ich glaube, du hast recht. Ich habe die Geschichte lange Zeit anders erzählt. Aber du hast recht, verdammt. So sind sie mit mir umgesprungen. Sie haben mich gefeuert. Oh, verdammt!

SPIEGEL: Sie hatten nicht damit gerechnet?

Taylor: Ich war ein hervorragender Lehrer. Ich war gerade zum zweiten Mal zum Lehrer des Jahres gewählt worden. Aber das bedeutete plötzlich nichts mehr. Bumm! Das war's. Kein Geld mehr, kein Unterrichten. Kein Job. Einfach so.

SPIEGEL: Das verletzt Sie bis heute.

Taylor: Ach, ich habe jetzt einen neuen Lebenssinn gefunden: Alzheimer. Ich habe 13 000 Leute auf meinem E-Mail-Verteiler. Sie schreiben mir von überall her.

SPIEGEL: Wofür setzen Sie sich ein?

Taylor: Ich stelle simple Fragen. Warum zum Beispiel gibt meine Regierung doppelt so viel für die Aidsforschung aus wie für Alzheimer? Weil die Aidskranken irgendwann auf den Tisch gestiegen sind und Rabatz gemacht haben. Das sollten alle mit Demenz auch tun.

SPIEGEL: Sie wären ohne Alzheimer nicht so prominent geworden.

Taylor: Stimmt. Ich bin eine der frühen Stimmen der Bewegung geworden. So gesehen hat das Ganze auch Vorteile. Trotzdem würde ich lieber ohne Alzheimer leben. Jedes Mal, wenn ich ein Wort nicht finde, habe ich wahnsinnige Angst. Was werde ich fühlen, wenn ich keine Worte mehr habe? Manchmal, vor allem wenn ich müde bin, klingen meine Sätze für mich, als würde ich im Dunkeln würfeln. Ich weiß, ich habe gewürfelt, ich höre es auf dem Tisch klacken, aber ich weiß nicht, was ich gewürfelt habe, weil ich im Dunkeln stehe.

SPIEGEL: Werden Sie sich morgen an unser Gespräch erinnern?

Taylor: An nichts Spezielles. Ich werde wissen, dass wir geredet haben.

SPIEGEL: Alles Gute, Richard. Dr. Taylor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 

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Beate Lakotta


Beate Lakotta, geboren 1965 in Kassel, studierte Germanistik- und Politik in Heidelberg. Nach einem TV-Volontariat und einigen Jahren als Freie ging sie 1997 zu SPIEGEL special und von dort zum SPIEGEL. Als Redakteurin im Wissenschaftsressort schrieb sie vor allem über Themen aus der Psychologie und Medizin. Mit ihrem Mann, dem Fotografen Walter Schels, realisierte sie ein freies Buch- und Ausstellungs-Projekt: „Noch mal leben vor dem Tod“ für das sie über anderthalb Jahre Menschen im Hospiz begleitete. Seit Oktober 2010 arbeitet Lakotta als Gerichtsreporterin des SPIEGEL.
Dokumente
Ein Leben wie im Fegefeuer

erschienen in:
Der Spiegel,
am 01.03.2010

 

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