Gewinner des Deutschen Reporterpreises 2010 in der Kategorie "Freier Reporter".
Herrn
Inces Lohn
Dursun
Ince ist einer, der sich treiben lässt. Und doch immer wieder
Anschluss sucht. Deshalb macht er als Lückenbüßer schwere,
schmutzige Jobs. Porträt eines Menschen, der sein Leben lang der
Arbeit nachläuft.
Mario Kaiser, brand
eins, 01.12.2009
In der Nacht, wenn
die Blackberrys schlafen, erinnert sein Wecker ihn daran, dass seine
Zeit gekommen ist. Es klingt wie ein Hämmern, metallisch, monoton
wie die Melodie seiner Tage. Er krümmt sich, er windet sich, aber er
fügt sich. Das ist sein Leben in einem Satz.
Er rollt sich aus
seinem Bett und schlüpft in eine blaue Arbeitshose und einen blauen
Strickpullover, dann zieht er eine blaue Strickmütze über seinen
Kopf. Er sieht aus wie ein Aral-Tankwart auf hoher See, Dursun Ince,
sein Name ist eine andere Geschichte. Er schnürt seine Schuhe, an
denen der Staub und der Schweiß der vorigen Baustelle haften, und
nimmt seine Arbeitshandschuhe, Modell "Work-On", genäht in
China. Er ist jetzt verfügbar, einsetzbar an jedem Ort, vielleicht
auch im Land seiner Handschuhe.
In der Nacht, wenn
die Tage des Lohns beginnen, verschiebt sich der Mittelpunkt seiner
Welt von einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg an das stille Ende
Neuköllns, in den Raum, in dem sich entscheidet, ob er gebraucht
wird. Das Glück entscheidet, und es kann kalt sein. Es kann Tage,
die Lohn versprechen, in Tage des Wartens verwandeln, verlorene Tage.
Die Hoffnung, gebraucht zu werden, lässt Männer wie ihn in der
Nacht durch die Stadt reisen, nicht wissend, was sie im Raum der
Entscheidung erwartet. Ein Verlangen treibt sie, sie wollen
dazugehören, wenn die anderen aufwachen und ihre Plätze einnehmen
in der Arbeitswelt. Sie suchen die Lücken in dieser Welt, sie wollen
sie füllen, für einen Tag, ein paar Stunden, ein paar Scheine.
Ince ist ein
Prototyp des modernen Tagelöhners, ein Mann, der sein Verhältnis
zur Arbeit nach seinen Vorstellungen definiert. Die Tagelöhner der
neuen Zeit sind anders als die Männer, die sich während der Großen
Depression Schilder umbanden, auf denen sie um "Arbeit jeder
Art" bettelten. Sie sind keine hohläugigen Gestalten, getrieben
von Angst. Sie müssen nicht jeden Tag arbeiten, sie müssen nicht
jeden Job annehmen. Sie leiden nicht an der Knappheit ihres Geldes,
sondern an der Armut ihrer Tage.
Wenn man Ince über
anderthalb Jahre begleitet durch die Phasen des Tagelöhnerlebens und
die Zeiten der Untätigkeit, fügt sich das Bild eines Mannes
zusammen, der sich eingerichtet hat in seinem dünnen Jetzt. Er wird
gehalten von einem Staat, der ihn nicht fallen lässt. Der Staat
nennt das "Grundsicherung für Arbeitsuchende", die
Gesellschaft nennt es "Hartz IV". Ince ist dankbar für
dieses Geld, es trägt ihn durch die lohnlosen Tage.
Das Loch in seinem
Leben ist die Unterversorgung mit Arbeit, das Fehlen einer Aufgabe.
Er bricht, wie die meisten Tagelöhner, das Klischee vom
Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Er wartet nicht auf Arbeit, er folgt
ihr. Aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, dann lässt er los. Das
ist das Tagelöhnersyndrom. Sie sind bindungsunfähig. Sie wollen
dazugehören, aber sie versuchen nicht, den Bruch zwischen sich und
der Arbeitswelt zu reparieren. Sie spezialisieren sich auf die Lücke.
Leise schließt Ince
in seiner Kreuzberger Wohnung die Tür hinter sich und lässt seine
Frau und vier Kinder zurück. Um 3.59 Uhr steigt er am Schlesischen
Tor in die erste U-Bahn des Tages, er muss sie erreichen, wenn er
nicht zu spät kommen will. Die Jobs werden um 4.30 Uhr ver geben,
nicht eine Minute später. Ince reist durch die Arbeitswelt wie mit
dieser U-Bahn: Er fährt ein Stück mit, dann steigt er wieder aus.
Er fing viel an und
brach viel ab, so verlaufen Tagelöhnerleben. Es ist schwierig, sie
auf ein Blatt zu schreiben und sich mit ihnen zu bewerben. Inces Name
klingt nach Migrationshintergrund und anderen hilflosen Begriffen für
das neue Deutschland, doch er ist nur eine türkische Chiffre für
eine deutsche Geschichte. Sie kamen nie wirklich zusammen, Ince und
die Arbeitswelt, das verbindet ihn mit den deutschen Tagelöhnern.
Sie sind Fremde in ihrem Land.
Der Raum der
Entscheidung liegt am Ende der Sonnenallee, in einer Gegend
Neuköllns, die aussieht wie ein aufgeblähtes Spielzeugland. Auf
seinem Weg geht Ince vorbei an der Spielhalle "Glücksoase",
der Kneipe "Koma" und dem Hotel Estrel, das wie ein
Kreuzfahrtschiff am Ufer des Neuköllner Schifffahrtskanals liegt.
Zwischen der Wurstbude Curry-Sonne und der Kleingartenkolonie
Steinreich bleibt er vor einem großen dunklen Klotz stehen, an
dessen Fassade in weißen Buchstaben das Wort schimmert, das ihn
lockt: Arbeit.
Die Agentur für
Arbeit Berlin-Süd ist die Kaaba der Tagelöhner, der Mittelpunkt
ihrer Welt. Sie pilgern aus allen Winkeln der Stadt zu dem Klotz und
stellen sich vor dem Hintereingang auf. Sie bilden keine Reihe, sie
positionieren sich nicht. Das Glück entscheidet. Sie nehmen die
Haltung der Tagelöhner ein. Sie stehen bereit und warten.
Das Gebäude, in dem
sie nach Arbeit suchen, hat die Architektur der Behörde, die sie
vermitteln soll, wuchtig, verschach telt, in den Korridoren verliert
man sich. In den ersten Stunden des Tages sind nur drei Fenster im
Erdgeschoss erleuchtet. Hinter einem sitzt Thomas Schröder. Er ist
der Mann, der die Tagelöhner zu den Lücken in der Arbeitswelt
führt.
Um halb vier, wenn
Ince seine Wohnung verlässt, fährt Schröder in seinem Büro die
Systeme hoch. Er schaltet den Computer ein, das Radio, die Kaffee
maschine. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, hört den
Anrufbeantworter ab und liest E-Mails. Die Lücken in der Arbeitswelt
öffnen sich oft außerhalb seiner Arbeitszeit. Wenn auf einer
Baustelle jemand fehlt, der die Wände einreißt. Wenn bei einem
Umzug jemand fehlt, der die Waschmaschine trägt. Wenn in einem
Schlachthof jemand fehlt, der die Klingen abwischt.
Tagelöhner sind
leicht zu orten, man findet sie in Räumen, in denen es sehr kalt ist
oder sehr heiß, sehr staubig oder sehr feucht. Und immer im Dreck.
Sie arbeiten mit ihren Händen, mit denen erledigen sie klar
definierte, nicht zu komplexe Aufgaben. Sie sind die Träger und
Bücker der Arbeitswelt, der wichtigste Teil ihrer Anatomie ist ihr
Rückgrat. Vielleicht sind deshalb so viele von ihnen Gebrochene.
An diesem Morgen
kann Schröder zwei Männern ein außergewöhnliches Angebot machen.
Eine Baufirma sucht zwei Helfer, die einen Nadelfilzboden
herausreißen sollen. Sie bietet zehn Euro für jede Stunde, drei
Tage lang. Ein Tagelöhnertraum. Die Firma beschreibt die Aufgabe als
"Arbeit in ungünstiger Körperhaltung". Schröder ahnt,
was die Männer erwartet. "Die werden irgendwann nicht mehr
hochkommen", sagt er. "Die müssen dann mit dem Filzboden
rausgerollt werden."
Die Firma hat einen
Wunsch. Sie bittet Schröder, nicht nur auf "Belastbarkeit"
zu achten, sondern auch auf eine "gepflegte Erscheinung".
Schröder versteht das, er kennt die Erscheinungen der Tagelöhner.
Er fährt mit einem gelben Textmarker über den Wunsch, dann geht er
zu der Tür, hinter der die Männer in Dunkelheit warten. "So",
sagt Schröder und rasselt mit seinem Schlüsselbund,
"Raubtierfütterung! "
Die Männer drücken
ihre Zigaretten aus und gehen ins Licht. Der Raum der Entscheidung
ist ein Rechteck mit sieben Reihen der auf Stangen montierten
hellblauen Schalensitze, die fast überall in den Arbeitsagenturen
stehen - das Corporate Design des reformierten Sozialstaats. Die
Männer blicken alle in dieselbe Richtung. Auf das Loch in der Wand.
Hinter dem Loch
sitzt Schröder. Wenn er eine Nachricht hat für die Männer auf der
anderen Seite, öffnet er eine Luke und zeigt kurz sein Gesicht. Ein
kleiner Karton steht vor der Luke, die Männer ziehen an ihm vorbei
und legen Karten hinein, auf denen ihre Namen stehen. Dann setzen sie
sich und warten auf den Moment.
Der Moment kommt
jeden Morgen um halb fünf, wenn Schröder im Loch erscheint. Er
greift nach dem Karton, nimmt die Karten heraus und mischt sie. Die
Männer verstummen und starren auf Schröders Hände, einige erheben
sich. Schröder mischt noch einmal, dann legt er die Karten wie ein
Patience-Spieler nebeneinander. In dieser Reihenfolge wird er die
Jobs vergeben. Wenn er Jobs hat.
Schröder verkündet
die Reihenfolge, und die Männer, die ihre Namen als letzte hören,
nehmen ihre Karten und gehen. Schröder hat noch nicht gesagt, wie
viele Jobs er anbieten kann, doch die Männer wissen, dass es selten
mehr sind als zwei oder drei. Vor Schröder liegen 17 Karten.
Er betrachtet die
Karten und überlegt, dann bittet er die Männer, die ihm belastbar
und gepflegt erscheinen, in sein Büro. Er muss jetzt vorsichtig
sein. Er überstimmt das Glück, und an der Stelle sind die Männer
empfindlich, besonders die mit ungepflegter Erscheinung. Herr
Zimmermann will keinen Nadelfilzboden herausreißen. Er sagt, er habe
das schon einmal gemacht und danach tagelang nicht aufrecht gehen
können. Der nächste Kandidat sagt, es sei zu viel Geld.
Das ist das Dilemma
der Tagelöhner, zu viel Geld. Sie sind in den Augen des Sozialstaats
Empfänger, und wenn Arbeits lose arbeiten, verwirrt das den Staat,
es macht ihn misstrauisch. Er befürchtet, sie könnten zu viel
empfangen. Der Staat kennt keine Tagelöhner, er kennt nur
Arbeitslosengeld I und II. Tagelöhner sind Empfänger der zweiten
Klasse, für ihre "bedarfsorientierte Grundversorgung"
errechnete der Staat 359 Euro im Monat. Wenn sie zu viel arbeiten und
mehr als 100 Euro im Monat verdienen, zieht der Staat einen großen
Teil ihres Lohns von ihrem Arbeitslosengeld ab.
Wenn Tagelöhner die
100-Euro-Grenze überschreiten, betreten sie das Land der Anrechnung.
Je mehr sie arbeiten, je mehr sie verdienen, desto mehr wird ihnen
angerechnet. Es ist ein trügerisches Wort: anrechnen. Es klingt nach
Anerkennung, doch für Tagelöhner ist es ein anderes Wort für
Verlust. Von jedem Euro, den sie jenseits der 100-Euro-Grenze
verdienen, bleiben ihnen 20 Cent. Und wenn sie die 800-Euro-Grenze
überschreiten, dürfen sie von jedem Euro nur 10 Cent behalten.
Das ist der Spagat
des Sozialstaats, der Versuch, Arbeitslosen das Arbeiten nicht zu
verbieten und gleichzeitig den Staat vor Ausbeutung zu schützen. Es
ist schwierig, Gerechtigkeit in Formeln zu pressen.
Die meisten
Tagelöhner verschwinden, wenn sie die 100-Euro-Grenze erreichen. Sie
ziehen sich in ihre Wohnungen zurück und warten auf das Ende des
Monats, wenn sie wieder zu Empfängern werden. Einige aber arbeiten
weiter. Weil sie das Geld sofort brauchen. Weil sie die Leere zu
Hause nicht aushalten.
Thomas Schröder
kann das System nicht ändern, er kann nur versuchen, es zu
vermitteln. Er kennt die Ungeduld der Tagelöhner, ihre
Kurzsichtigkeit im Umgang mit Geld. Das ist ihre schwache Stelle,
dort setzt er an bei dem Kandidaten, der sagt, es sei zu viel Geld.
"Sie wollen das
Geld doch bestimmt lieber am Ende des Tages bar auf die Hand
bekommen, als bis zum Monatsende zu warten", sagt Schröder.
"Will ick aber nich", sagt der Mann. "Tja", sagt
Schröder, "das ist die Problematik."
Die Problematik ist
Inces Chance. Er ist der dritte Mann auf Schröders Liste. Er hört
sich das Angebot an, dann stehen die beiden sich schweigend
gegenüber. "Und?", fragt Schröder nach einer Weile. Ince
versteht die Frage nicht, versteht nicht, dass er Nein sagen dürfte.
Er sieht Schröder an, als wollte er fragen: Bin ich mitten in der
Nacht auf gestanden, um Arbeit abzulehnen?
Dursun Ince,
Vermittlungsvorschlag 2071, Steuerklasse 3, hat jetzt drei Tage lang
Arbeit. In Schröders Akte steht eine unvollständige Liste der
Stationen auf Inces Weg durch die Arbeitswelt.
Kraftfahrzeugmechaniker, Verpacker, Verkäufer, Küchenhilfe,
Lagerverwalter, Berufskraftfahrer, Kunststoffverarbeiter.
Nadelfilzbodenherausreißer passt gut in die Reihe.
Schröder kümmert
sich nun um die Details, er ist der persönliche Referent der
Tagelöhner. Er kopiert Inces Lohnsteuerkarte und
Sozialversicherungsausweis und heftet sie an die "Bescheinigung
über Ne beneinkünfte nach Paragraf 313 des Dritten Buches SGB II".
Dann kopiert er einen Ausschnitt des Stadtplans, markiert den Ort, an
dem Arbeit auf Ince wartet, und erklärt ihm, welche U-Bahn er am
besten nimmt. Wenn das Dritte Buch des Sozialgesetzbuches II es
verlangte, würde Schröder ihm auch Pausenbrote schmieren.
Das ist der Reiz des
Tagelöhnerlebens. Die Männer müssen keine Stellenange bote lesen,
sie müssen sich nicht bewerben. Sie müssen nur in den Raum der
Entscheidung kommen und Glück haben.
Der andere
Nadelfilzbodenherausreißer ist Thomas Menzel. Er ist heute zum ers
ten Mal gekommen, und eine Stunde später geht er mit einer Adresse
und dem Versprechen von drei Tagen Arbeit. Er sieht nicht so aus, als
empfinde er das als Glück.
Um halb sieben
treffen sich Ince und Menzel in einer U-Bahnstation im Wedding. Sie
gehen in eine ehemalige Fabrikhalle, auf deren Dach weiße
Satellitenschüsseln leuchten, dann stehen sie im Foyer der Deutschen
Welle. An der Rezep tion erwartet sie Bernd Buchwalder, er ist der
Mann, für den sie den Filzboden herausreißen sollen. Sie tragen
sich in die Gästeliste ein und klemmen sich Besucher ausweise an die
Brust. "Wir haben uns hier sehr zurückhaltend zu verhalten",
sagt Buchwalder. "Aus dem Weg gehen. Sauber sein. Jeder Krümel
wird sofort nach oben getragen." Er meint die Chefetage.
Raum 125 ist 101,87
Quadratmeter groß und ausgelegt mit dem Fundament deutscher
Bürokultur, grauem Filzboden.
Ince und Menzel
zücken Teppichmesser und gehen auf die Knie. Sie schlitzen den Boden
auf, dann nehmen sie einen Hammer und rammen einen Meißel zwischen
Teppich und Boden, sie suchen einen Angriffspunkt. Sie ziehen am
Teppich, doch er rutscht ihnen aus den Händen, immer wieder. Sie
nehmen Zangen, doch der Teppich scheint untrennbar mit dem Boden
verbunden. "Alter Schwede! ", ruft Menzel und wirft seine
Zange weg. Er legt den Kopf in den Nacken und geht eine Runde im
Kreis. "Die anderen wussten, warum sie nicht wollten."
Ince schweigt. Sie
gehen zurück auf die Knie und ziehen den Filzboden in Zeitlupe ab,
Zentimeter um Zentimeter, als häuteten sie ein Tier. Sie klammern
sich an den Teppich, sie zerren, ihre Gesichter glühen. Sie stemmen
sich gegen den Widerstand, sie stehen schräg in ihren Schuhen. Und
dann reißt der Teppich, und sie fallen um wie Erschossene.
Ince ist besser
ausgerüstet als Menzel, er hat Arbeitshandschuhe und ein
Taschentuch, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn wischt.
Menzel hat nackte Hände und eine leicht entflammbare Wut. Wenn Ince
sieht, wie Menzels Gesicht sich rötet, wenn er hört, wie er
schnaubt, immer zorniger, reicht er ihm seine Wasserflasche und sagt:
"Mach mal 'ne Pause."
Der Filzboden in
Raum 125 ist wie eine Bühne, auf der Ince und Menzel ein Kammerspiel
der neuen alten Arbeitswelt aufführen. Lange bevor sie sich hier
krümmten, schraubten Arbeiter der Allgemeinen
Elektricitäts-Gesellschaft in diesen Hallen Lokomotiven zusammen. In
Raum 125 verbinden sich die Stränge verschiedener Epochen der
Arbeit, es ist ein passender Ort für eine Geschichte über moderne
Tagelöhner. Sie knien auf dem Boden der Redaktion "Deutschland
heute".
Sie sind ein
unpassendes Paar, Ince und Menzel. In der Frühstückspause, als sie
trocknen, tasten sie das Leben des anderen ab. Ince wurde vor 45
Jahren in der Nähe der Stadt Erzincan geboren. "Ich komme aus
Anatolien", sagt er. Es klingt wie eine Entschuldigung. Menzel
wurde vor 39 Jahren in Berlin geboren. "Ich komme aus Neukölln",
sagt er. Es klingt wie ein Vorwurf. Er sieht Ince an und überlegt
einen Moment. "Ich habe nichts gegen Ausländer", sagt er
dann, "aber die schmeißen ihren Müll aus dem Fenster."
Ince nippt an seinem Tee und schweigt. Er kann das sehr gut,
schweigen.
Auf dem Filzboden,
im Kampf mit der deutschen Wertarbeit, ergänzen sie sich gut, der
stille Türke und der zornige Deutsche. Es hilft, dass Menzel sieht,
wie Ince seine Brottüte in den Müllsack wirft.
Als Buchwalder das
Zeichen zur Mittagspause gibt, eilt Menzel zur Tür, als wolle er
flüchten. Ince geht ziellos die Straße entlang und bleibt zwischen
zwei Imbissläden stehen, einem türkischen und einem deutschen. Er
blickt durch die Scheiben, er zögert, dann betritt er den türkischen
Laden. Er bestellt einen Döner und nimmt den Tisch hinten links,
zwischen den Spielautomaten und dem Wandgemälde einer Moschee. Er
sitzt irgendwo zwischen Berlin und Anatolien.
Er bekommt einen
entfernten Blick, wenn er sich an seine Kindheit erinnert, an die
Jahre, in denen er mit seinem Vater Schafe hütete in den Bergen
Anatoliens. Er vermisst die Weite der Felder, ihre Stille. Er würde
gern zurückkehren in das Land seiner Sehnsucht, nach
Schleswig-Holstein. Ince war 14, als der Vater die Familie nach
Deutschland brachte, in das Land der Arbeit. Sie landeten in Talkau,
in der Nähe von Mölln, dort fand der Vater Arbeit auf einem
Bauernhof. Er war der Knecht, der alles machte.
Der Gutsherr starb
irgendwann in seinen Stiefeln, und Inces Familie zog weiter. Manchmal
schreibt die Witwe ihm Briefe und fragt, ob er nicht zurückkommen
wolle. Er würde morgen gehen, aber seine Frau will nicht. Sie
fürchtet die Einsamkeit der Provinz, und er widerspricht ihr nicht.
Er kann das nicht gut.
Wenn im Fenster die
ersten Lichter des Berufsverkehrs vorbeiziehen, beginnen die
Zurückgebliebenen im Raum der Entscheidung ihr
Beschäftigungsprogramm. Sie sitzen auf den Stangen und überlegen,
ob sie nach Norwegen auswandern. Sie fragen sich, was im Koran steht.
Sie hören den Klang der Absätze der Sachbearbeiterinnen auf dem
Gang und stellen sich vor, wie sie die Hüften dazu bewegen. Sie
rufen ihre Handys an und tanzen zu den Klingeltönen.
Einer der Männer
setzt sich nie hin. Er schlurft wie ein Schlafwandler durch den Raum
und untersucht die Scharniere der Türen, die Lichtschalter, die
Steckdosen, das Heizungsventil. Er rüttelt an allem, als suche er
etwas, das er reparieren könnte. Der Raum wirkt therapeutisch in
diesen Momenten.
In Raum 125, auf dem
Boden der Redaktion "Deutschland heute", legt Ince die
Hände auf seinen Bauch. Er hat den Döner nicht vertragen. Schweiß
rinnt an seinem Hals hinab, er ist ausgelaugt, doch er lässt nicht
los. Er zerrt an dem Filzboden, als wehre er sich gegen seinen
Vornamen. Wenn man ihn fragt, was Dursun bedeutet, lächelt er und
sagt: "Lass es liegen."
Alles ist rundlich
an ihm. Sein Körper passt zu einem Mann, der schwer greifbar ist. Er
bewegt sich unauffällig, bescheiden im Auftritt und immerzu zögernd,
entschlossen nur in seinem Willen, sich nicht zu sehr festzulegen.
Am nächsten Morgen,
als Ince das Foyer der Deutschen Welle betritt und sich in die
Besucherliste einträgt, steht Menzels Name schon dort. In die Spalte
für den Namen der Firma schrieb Menzel "Jobcenter". Ince
trägt den Namen von Buchwalders Firma ein. Er will dazugehören.
Sie sind heute
besser ausgerüstet. Menzel trägt Arbeitshandschuhe,
Baustellenschuhe und ein frisches weißes T-Shirt, und Buchwalder hat
Krallengriffe besorgt, mit denen ihnen der Filzboden nicht aus den
Händen rutscht. Doch das Buckeln des ersten Tages zehrt an ihnen,
ihre Bewegungen sind langsamer, steifer. Nach einer halben Stunde
blickt Menzel sich um, beugt sich zu Ince hinüber und fragt: "Machen
wir Pause?" "Mach ruhig", sagt Ince und arbeitet
weiter.
Menzel sieht ihn an,
als würde er ihm gern ins Gesicht spucken. Er stürzt sich
anfallartig auf den Filzboden, er reißt an ihm, als sei es ein
Kampf, den er in den ersten Sekunden gewinnen muss. Ince hat den
gelasseneren Blick und den gleichmäßigeren Rhythmus, und niemals
beklagt er sich. Er ist der bessere Deutsche.
Menzel blickt sich
jetzt häufiger um. Er wird stiller. Er lauert. Irgendwann nach der
Frühstückspause zieht er seine Jacke an und sagt: "Bin gleich
wieder da."
Es dauert eine
Weile, bis Ince begreift, dass Menzel abgehauen ist. Eine Zeit lang
macht er sich Sorgen um ihn, doch er arbeitet weiter, als wäre
nichts passiert. Buchwalder gefällt das. Er beobachtet, wie Ince den
Filzboden verschwinden lässt, leise und ohne Zorn. Am Ende des Tages
kniet er sich neben ihn und sagt: "Wir müssen mal über Ihre
Zukunft reden."
Ince sieht ihn an,
als mache ihm die ses Wort Angst. Zukunft. Es klingt nach etwas, das
zu groß für ihn sein könnte, ein endloser Nadelfilzboden. "Sie
haben ja Durchhaltevermögen bewiesen", sagt Buchwalder. "Können
Sie sich denn vorstellen, fest für mich zu arbeiten?" Ince
sieht auf seine Schuhe und schweigt. Und dann sagt er, was er oft
sagt in Momenten, in denen er sich entscheiden muss. Er sagt: "Na
ja."
Buchwalder baut ihm
eine Brücke und fragt, was er vor seinem Leben als Tagelöhner
gemacht hat. Ince erzählt, dass er eine Lehre zum Mechaniker bei
Mercedes-Benz begann, sie aber nicht abschloss. Buchwalder nickt und
wartet. Auf die Antwort auf seine erste Frage. Doch Ince steht nur
verloren in der Stille. Buchwalder gibt auf und drückt ihm einen
100-Euro-Schein in die Hand, den Lohn des Tages.
Tagelöhner leben in
einem Widerspruch. Sie stellen sich zur Verfügung, aber sie wollen
nicht verfügbar sein. Sie wollen zur arbeitenden Gesellschaft
gehören, aber sie wollen die Unverbindlichkeit ihres Lebens nicht
aufgeben. Die Freiheit, jeden Morgen zu entscheiden, ob sie arbeiten
oder nicht. Die Freiheit, den einen Job anzunehmen und den anderen
abzulehnen. Es geht ihnen nicht so schlecht, dass sie gezwungen
wären, mit ihrem Tagelöhnerleben zu brechen.
Es gibt einen
Konstruktionsfehler in der Welt der Tagelöhner. Sie machen die
schwerste, schmutzigste Arbeit, aber die Leistungsfähigsten,
Belastbarsten betreten diese Welt nicht. Die meisten Tagelöhner sind
über 40, viele über 50, manche über 60. Die Jüngeren, sagt
Schröder, haben keine Lust, nachts um drei aufzustehen. "Da
kommen die ja in der Regel erst nach Hause." Es ist das Glück
der Älteren, doch sie bezahlen dafür. Sie betreten den Raum jeden
Morgen ein bisschen erschöpfter. Schröder sieht es an ihrem Gang,
er hört es in ihren Stimmen. "Manche", sagt er, "sind
irgendwie verbraucht."
Arbeitslosigkeit ist
seit 1982 Schröders Arbeit, damals war die Agentur noch eine
Anstalt. Sein Titel verbindet die Sperrigkeit der alten Zeit mit dem
Sound der neuen, er nennt sich "Fachassistent in der
Jobvermittlung im Jobcenter". Das Neusprech der Agentur ist mehr
als eine Hülle. Es reflektiert den Wandel in der Arbeitswelt, die
Entkopplung der Arbeit vom Beruf, das Ende der "Stelle" als
permanenter Ort. Aus Arbeit, die der Duden als "körperliche
oder geistige Betätigung" definiert, wird ein Job, eine
"Gelegenheit zum Geldverdienen".
Schröder sitzt in
seinem Büro wie im Vorzimmer der neuen Arbeitswelt. Er ist ein
Leiharbeiter, er gehört eigentlich zur Agentur für Arbeit, die sich
um die schwierigen Fälle kümmert, die Empfän ger von
Arbeitslosengeld I. Aber seitdem der Staat nicht mehr unterscheidet
zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfebedürftigen, hilft Schröder im
Jobcenter aus, dem Sammelbecken für die hoffnungslosen Fälle, die
Empfänger von Arbeitslosengeld II. Es hat seinen Blick verändert,
sein Gefühl für das Machbare. "Ich bin froh", sagt
Schröder, "wenn ich mittags nach Hause gehen und sagen kann:
Heute habe ich einen glück lich gemacht."
Für die meisten
Tagelöhner ist Schröder ein Schwein, das Gesicht eines Staates, vor
dem sie den Respekt verloren haben. Sie sehen nicht, was der Staat
für sie tut. Sie sehen nur, dass der Staat Fragen stellt, dass er
Rechenschaft verlangt. Dass er dem Papier mehr glaubt als ihrem Wort.
Schröder, der Erfüllungsgehilfe des Glücks, ist für sie ein
Instrument. Sie benutzen ihn.
Um halb sechs
betritt ein Fremder den Raum. Er hat sein Resthaar sorgfältig nach
hinten gekämmt und im Nacken auf Linie geschnitten, unter dem Arm
hält er ein Klemmbrett. Er trägt sandfarbene Leinenschuhe mit
weißer Sohle und eine Brille mit schmalen Gläsern, die er mit der
Handbewegung des Belesenen auf die Stirn schiebt. Er sieht aus wie
ein Oberarzt auf dem Weg zur Visite.
"Die
Spätschicht!", ruft jemand. Der Fremde zuckt zusammen, dann
setzt er sich in eine der hinteren Reihen und schlägt ein kleines
Buch auf. Es trägt den Titel "Zeitmanagement". Er legt das
Klemmbrett auf seine Oberschenkel und zeichnet Tabellen und Kurven
auf kariertes Papier, vielleicht sucht er nach der verlorenen Zeit.
Manchmal hebt er den Kopf und betrachtet die Männer um sich herum
wie Figuren, die er zu entschlüsseln versucht. Er ist ein Architekt
ohne Arbeit. Er geht irgendwann und kommt nie wieder.
Am Morgen des
dritten Tages taucht Menzel wieder bei der Deutschen Welle auf. Er
will seinen Lohn. Er rechnet Buchwalder mit buchhalterischer Akribie
vor, dass er dreieinhalb Stunden arbeitete, bevor er verschwand. Dass
er Ince im Stich ließ und einem anderen Tagelöhner den Platz
wegnahm, fließt in seine Rechnung nicht ein. Buchwalder will keinen
Streit. Er gibt ihm 35 Euro und fragt, warum er abgehauen ist. "Weil
es ein Scheißjob ist", sagt Menzel. Dann äfft er Buchwalder
nach und geht zur Tür, dreht sich zu Ince und sagt: "Schönen
Tag noch."
Ince schweigt. Er
hat einen neuen Partner auf dem Filzboden. Neben ihm kniet Norbert
Linke, 39 Jahre alt, erweiterter Hauptschulabschluss, abgebrochene
Lehre bei Beiersdorf, Verträge bei Zeitarbeitsfirmen, Endkontrolle
am Fließband, Flugabfertiger in Tempelhof, eine Freundin mit Krebs
in der Zunge, die Prognose ist dunkel. "Ich muss raus",
sagt Linke, "ich werd' verrückt zu Hause."
Um viertel nach zehn
nähert sich Buchwalder, und Ince und Linke sehen ihn wissend an. Sie
sitzen auf einer Filzboden insel, auf der kaum noch Platz ist für
sie. "Ich hab' hier nichts mehr", sagt Buchwalder. Das ist
der Schlusssatz des Tagelöhners. Er bezahlt sie bis elf und fragt
Ince nach dessen Telefonnummer. Die von Linke interessiert ihn nicht.
Ince macht ein
Gesicht wie nach einer Niederlage. Er sah, wie der Filzboden unter
ihm verschwand, aber er dachte, es würde irgendwie weitergehen,
wenigstens noch bis zum Ende des Tages. So träumen Tagelöhner, auf
Sichtweite. Er reißt mit Linke das letzte Filzstück vom Boden, dann
fahren sie mit dem Aufzug hinunter zur Empfangsdame und geben ihre
Besucherausweise ab, zwei Gastarbeiter in Deutschland.
Sie gehen zurück
auf Los. Linke holt sich im Supermarkt das Pfand für die leeren
Flaschen, die er in den letzten Minuten auf der Baustelle
einsammelte. 1,25 Euro. Das ist seine Bonuszahlung, der Wert von
sieben Minuten und 30 Sekunden Arbeit in ungünstiger Körperhaltung.
Ince geht nach Hause. Dort sitzt er vor der Furnierschrankwand, in
der die Bilder seines Lebens stehen, und guckt mit seinen Kindern das
Nachmittagsprogramm von RTL 2. "Wenn ich Pause mache", sagt
er, "fehlt mir was."
Ince glaubt, dass
der deutsche Sozialstaat gut für ihn sorgt. Der Staat gibt ihm Geld
für ein Leben ohne Arbeit, für die Miete, für die Kinder, für den
Strom. Er versteht nicht, warum manche Familien mit dem Geld nicht
auskommen. "Geht doch", sagt er.
Ince wäre gern
Deutscher geworden. Vor ein paar Jahren bemühte er sich um die
Staatsbürgerschaft, doch ihm fehlte die Geduld für den Prozess. Er
trieb über die Flure der Bürokratie wie durch die Arbeitswelt.
Irgendwann ließ er los.
Einmal wollte er
Deutschland verlassen. Er las in der Zeitung eine Stellenanzeige, in
Kanada suchten sie Holzfäller. Ihm gefiel der Gedanke, in der Stille
des Waldes zu arbeiten. Er rief an, aber er ging nicht. Er hängt
fest im "Na ja".
In seinem Büro in
der Sonnenallee greift Schröder zum Telefon und ruft ein paar Firmen
an, die bei ihm regelmäßig Tagelöhner bestellen. Er fragt sie nach
ihren Erfahrungen, ihren Wünschen.
"Die wollen
auch mal gestreichelt werden", sagt Schröder. Dann ruft er
Firmen an, von denen er glaubt, sie könnten Interesse an seinen
Männern haben. Manche sind überrascht, dass es so etwas noch gibt,
Tagelöhner. Andere verstehen es als Einladung zur Ausbeutung. Sie
glauben, sie könnten die Männer mit drei Euro Stundenlohn
abspeisen. "Die denken, das sei hier das letzte Pack", sagt
Schröder. Manchmal klingt er wie der Anwalt der Tagelöhner.
Arbeit war für Ince
immer etwas, dem man nachläuft, von Anatolien nach
Schles-wig-Holstein, von Kreuzberg nach Neukölln. Der Gedanke, dass
Arbeit auf ihn warten könnte, ist ihm fremd. Er ist ein Mann der
vier Jahreszeiten, für jede sucht er sich den passenden Job.
Im vergangenen
Sommer arbeitet er für eine Baufirma. Er soll zwei Wochen bei
Abrissarbeiten helfen, eine Festanstellung in der Zeitrechnung der
Tagelöhner. Er fährt Schutt mit einer Schubkarre zum Container,
zuverlässig und still. Doch am dritten Tag macht er einen Fehler. An
dem Container löst sich eine Ladeklappe und schlägt auf seinen
Oberschenkel. Er arbeitet weiter, will den Job nicht verlieren, aber
er kann bald nicht mehr gehen. Ince entschuldigt sich und fährt ins
Krankenhaus.
Es dauert eine
Woche, bis er sein Bein wieder bewegen kann, und er beschließt,
nicht mehr auf Baustellen zu arbeiten. Ince hat Angst, dass er beim
nächsten Unfall weniger Glück haben könnte. Dass es ihn irgendwann
treffen könnte wie den Tagelöhner, den er in eine Starkstromleitung
greifen sah.
Im Herbst geht Ince
einen neuen Weg. Er legt sich fest, ein bisschen. Er nimmt einen
Mini-Job als Verkehrsschildreiniger an und bringt Ordnung in den
deutschen Schilderwald, zieht Aufkleber ab, entfernt Graffiti, 12,5
Stunden die Woche, 400 Euro im Monat. Es ist seine Reaktion auf die
Finanzkrise. Auf dem Arbeitsmarkt schließen sich die Lücken, es
wird eng für Tagelöhner in den Zeiten der Insolvenz. Das
Verkehrsschildreinigerleben ist Inces Versuch, systemrelevant zu
bleiben.
Im Winter erweitert
er sein Portfolio. Er wird Mitglied der schnellen Eingreiftruppe der
Berliner Stadtreinigung. Er fegt Laub, schippt Schnee, streut Salz,
wann immer das Wetter Lücken in die Personaldecke der Stadtreinigung
reißt. Er hat Glück, es ist ein langer, eisiger Winter.
Ince spürt, dass
sein Körper ein schwindendes Kapital ist, und er beginnt, wie ein
Unternehmer zu denken. Er stellt sich breiter auf. Mit einem
Gabelstaplerführerschein will er sich Zugang zu den Schnittstellen
der globalisierten Welt verschaffen. Er glaubt, es könnte ein Ausweg
aus der Bauschutt- und Filzbodenwelt sein.
Er fühlt sich
gefangen im Takt des Tagelöhnerlebens, in der Enge der Stadt, und
eines Morgens bricht er aus. Nach einer Nacht, in der er schwach
wurde und wieder auf einer Baustelle arbeitete, nimmt er seinen Lohn
und kauft eine Fahrkarte nach Schleswig-Holstein. Er steigt in den
Zug und fährt in seine Vergangenheit, zu dem Bauernhof, auf dem sein
Vater Knecht war. Die Briefe der einsamen Witwe lassen Ince nicht
los. Er will für sie arbeiten, doch er kommt zu spät. Die Witwe hat
andere Männer gefunden. Einen Tag lang ist er verschwunden,
abgetaucht in seinem Traum vom Leben. In der Nacht kommt er zurück
nach Berlin, desillusioniert, verloren in der Stadt. Ein Bauer ohne
Land.
Im Frühling
zerfällt Inces Leben. Er wird schmaler in der Krise, er isst wenig
und trinkt kein Bier, seine Leberwerte sind schlecht. Er war lange
nicht mehr bei Schröder. Er will das nicht mehr, das Aufstehen
mitten in der Nacht, das Karten legen im Raum der Entscheidung.
Am Tag der Arbeit
sitzt er in seinem Wohnzimmer, als hätte ihn dort jemand vergessen.
Es gibt nicht mehr viel in diesem Zimmer. Ein Sofa, einen Tisch,
einen Fernseher und ihn. Die Schrankwand, in der die Bilder seines
Lebens standen, ist verschwunden. "Hat meine Frau
weggeschmissen", sagt er und blickt auf die kahle Wand. Die Frau
ist noch bei ihm, aber er sitzt da wie in einem Bild von der Leere in
seinem Leben.
Er hat die Tapete
von den Wänden gerissen und den Teppich vom Boden gezogen, er wird
sein eigener Tagelöhner. Im Flur hat er einen neuen Laminatboden
verlegt, doch er muss ihn wieder herausreißen. Er bat den Vermieter
nicht um Erlaubnis. Ince sitzt vor dem Fernseher wie vor einem
Kaminfeuer, an dem er sich wärmt. Auf dem Tisch liegt ein
"Wacht-turm"-Heftchen der Zeugen Jehovas mit dem Titel "Die
christliche Wiedergeburt: Der Weg zur Rettung?" Es ist eine
merkwürdige Lektüre für einen Alewiten.
Er wird immer
schwerer erreichbar, er zieht sich immer weiter zurück, doch für
ihn sieht es so aus, als entfernten sich alle von ihm. Die Witwe
schreibt ihm nicht mehr. Ein Brief, den er ihr schickte, kam als
unzustellbar zurück. Er glaubt, dass sie tot ist. Auch Schröder ist
fort. Als Ince nach langer Zeit wieder den Raum der Entscheidung
betritt, mischt dort ein anderer Mann die Karten. Aber es ist
Zeitverschwendung, er hat keine Jobs.
Die anschwellende
Arbeitslosigkeit in Deutschland folgt der Krise wie ein Nachbeben,
und die Kurzarbeitsorgie dichtet die letzten Lücken in der
Arbeitswelt ab. Es verändert alles im Raum, die Zahlen, die
Gesichter, die Atmosphäre. Schröder ist nicht fort, er war nur
verreist. Er sitzt hinter dem Loch wie ein Urlauber, braun gebrannt,
und beugt sich über die Bilanz der vergangenen Monate. Vor der Krise
konnte er in guten Monaten mehr als 200 Jobs vermitteln, jetzt sind
es knapp über 100. Die Ziehung der Tagelöhner wiederholt sich jeden
Morgen in einer Endlosschleife der Enttäuschung.
Während im
Kanzleramt Banken gerettet und Verschrottungsblasen gebildet werden,
verhandeln Schröder und die Tagelöhner über das Kaffeeabkommen.
Die Männer können sich den Kaffee an der Tankstelle gegenüber
nicht mehr leisten, und sie einigen sich mit Schröder darauf, dass
sie den Kaffee bei Aldi kaufen und er ihn für sie kocht. Es hilft
Schröder, die Stille nach der Ziehung der Tagelöhner zu
überbrücken. Er fragt dann schnell: "Kaffee?"
Im Raum steht jetzt
eine Sitzreihe weniger, vielleicht brauchten sie die Sitze auf der
anderen Seite der Straße, im Jobcenter, wo die Schlange der
Arbeitslosen vor der Tür immer länger wird. Sie stehen jetzt 70
Meter die Straße herunter, bis zur Einfahrt von McDrive.
Vor Schröders Tür
ist die Gruppe kleiner geworden. Herr Bogen, der Schiffsbauer, ist
noch da, er sitzt am Fenster und liest ein Buch mit dem Titel
"Erneuerbare Energien". Herr Müßig ist immer noch
fleißig. Menzel, der Ince im Stich ließ, haut immer noch ab, wenn
er auf einer Baustelle die Lust verliert. Aber Linke, der ihn
ersetzte, und Herr Zimmermann, der keinen Filzboden herausreißen
wollte, sind verschwunden, auch der Mann, der sich nie setzte.
In der ersten Reihe
sitzen drei neue Lohnsuchende, doch sie passen nicht in den Raum. Sie
haben die glatten Gesichter von Jungen, und es erzählt etwas über
den Druck auf den Arbeitsmarkt, dass sie nicht auf der anderen
Straßenseite stehen, um ein paar Papiere zu bewegen. Die beiden
Türken und der Libanese beeindru cken Schröder, weil sie mit ihren
gefrästen Frisuren und tief hängenden Hosen aus sehen, als würden
sie morgens um vier lieber ein paar Handys abziehen. Aber sie sind
hier. Sie lehnen keinen Job ab, sie hauen von keiner Baustelle ab,
und sie spielen auf ihren Handys immer wieder ein Lied des Rappers
Sido, es ist die Hintergrundmusik ihrer Tage.
Steh auf, geh raus /
Und mach's einfach /
Heute wird Dein Tag
/
Beweg einfach Dein
Arsch.
Ince kommt nicht
zurück in den Raum. Er ist jetzt sein eigener Arbeitsvermittler.
Manchmal hilft er
dem Obstverkäufer auf der Straße vor seinem Haus, manchmal arbeitet
er für die Reinigungsfirma eines Nachbarn und pflückt in Parks den
Müll aus den Büschen. Er verdient etwas Geld, aber er vermisst den
Lohn der Arbeit. Das Gefühl, mehr als ein paar Stunden gebraucht zu
werden, mehr als ein paar Stunden dazuzugehören.
Eines Nachts steht
Ince in einer Damentoilette und schlägt die Wände ein. Er schwingt
einen schweren Hammer, und mit jedem Schlag verschwindet er tiefer in
einer Wolke aus weißem Staub. Der Anruf kam unerwartet, Buchwalder
brauchte ihn, und Ince fuhr los. Er füllt Schubkarren mit Schutt und
rollt sie durch Gänge, an deren Wänden Dienstpläne hängen und
Gewerkschaftspamphlete über gebrochene Tarifverträge. Ince sieht es
nicht. Er trägt eine Schutzbrille, einen Mundschutz und Ohrstöpsel.
Er ist ein Wesen aus einer anderen Welt.
Irgendwann in dieser
Nacht steht Ince in schweißgetränktem Unterhemd draußen vor der
Tür und friert, seine Augen sind durchschossen von Blut. "Ich
glaube", sagt er, "ich halte bis morgen nicht durch."
Er trinkt einen Espresso aus dem Automaten, den fünften in dieser
Nacht, dann hört er einen der Arbeiter rufen: "Wo ist denn mein
türkischer Handlanger?" Er geht zurück in die Damentoilette.
Am nächsten Morgen
schleift er die Müllsäcke in den Hof und fegt um den Container
herum, sein Kopf ist bedeckt von Staub, als wäre er über Nacht
ergraut. Er nimmt seinen Lohn und geht über die Straße, durch die
er kam, er bewegt sich rückwärts. Er setzt sich in eine Bäckerei
und isst ein Stück Bienenstich, dann geht er die Treppe zur U-Bahn
hinunter. Auf halbem Weg bleibt er stehen und sieht den Menschen
nach, die an ihm vorbeiströmen, in die andere Richtung. "Die
gehen zur Arbeit", sagt Ince, "und ich gehe nach Hause."
Er sieht aus, als
sei ihm das unangenehm. Zurück |