Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Damit
muss er jetzt leben
Detlef
Halfa muss berühmt werden. Um jeden Preis. Wenn es sein muss, erst
nach seinem Tod
Eva Simon, Freitag,
05.11.2009
Bei der Geschichte
mit der Leiter ist sie hellhörig geworden, hat aber in die falsche
Richtung gehorcht. „Willst du mich verlassen?“ hat sie gefragt,
nachdem Detlef sie genötigt hatte, auf die neue Leiter zu steigen.
Detlef war Bauleiter, und natürlich gab es eine große Malerleiter
zu Hause. Zwar hat Christiane sich nicht getraut, auf das wackelige
Ding zu steigen, aber das war nie ein Problem gewesen, fürs
Fensterputzen war sowieso ihr Mann zuständig. Deshalb fand sie es
seltsam, dass er wochenlang durch die Stadt rannte, auf der Suche
nach einer Leiter, die bis an die Decke der gemeinsamen Altbauwohnung
am Mehringdamm reichte, und so stabil stand, dass auch Christiane sie
benutzen würde. Als er diese Leiter gefunden hatte, durfte sie nicht
einmal den Mantel ausziehen, er hat sie gleich hoch gescheucht,
seltsam stolz und euphorisiert. „Ich möchte sehen, ob du dich
sicher fühlst“, hat er gesagt. Wenn man weiß, wie die Geschichte
weitergeht, ist das ein ziemlich perfider Satz. Und Christiane, schon
fast oben, dreht sich auf der Leiter um und sagt: „Es ist alles so
komisch. Wozu brauch ich diese Leiter. Du bist doch da, oder willst
du mich verlassen?“
Irgendwie hat die
Richtung natürlich doch gestimmt. Denn verlassen hat er sie ein paar
Wochen danach, und sie war wirklich auf sich gestellt beim
Fensterputzen. Nur, dass das Verlassen viel absoluter war als sie
sich das vorgestellt hatte, oben auf der Leiter. Am 12. März 2006
hat Detlef Halfa, Bauleiter und Künstler, sich umgebracht.
Die Busfahrt muss
schrecklich gewesen sein. Draußen hat es immer noch geschneit, und
der Bus wird überheizt gewesen sein wie immer im Winter. Auf dem
Boden standen Pfützen von geschmolzenem Schnee und stanken nach
nassem Hund. Christiane ahnte, dass etwas Furchtbares passiert war.
Am Vorabend hatten sie gestritten. „Autistisch“ verhalte er sich,
hat sie ihm vorgeworfen. Und warum er eigentlich nicht mehr ins
Atelier gehe? Was sei da los? Am nächsten Morgen ist er dann ja ins
Atelier, früher als sonst. Es war noch dunkel, als Christiane das
Klappen der Tür hörte. Es folgte ein Sonntag mit scheußlichem
Wetter, sehr kalt für März, dazu der Schnee. Zum Kaffeetrinken war
Detlef nicht zurück, das war ungewöhnlich, aber Christiane war
immer noch verärgert wegen gestern abend. Erst um sieben rief sie
an. Als niemand abhob, sprang sie in den Bus und fuhr ins Atelier, in
dem seltsamen Bewusstsein, ihren Mann erhängt zu finden. Es war dann
aber Gift. Neben seinem Kopf die Abschiedsbriefe, darauf ein
vertrockneter Rosenzweig. Es hat lange gedauert bis die Polizei kam.
In jener Nacht muss viel los gewesen sein. Offenbar gab es fast
gleichzeitig mehrere Suizide in Berlin, das haben die Polizisten
durchblicken lassen, aufgrund der seltsamen Wetterlage, haben sie
gesagt.
„Vernichte
mein Werk“, stand im Abschiedsbrief, „oder finde jemanden, der es
betreut“, aber die zweite Möglichkeit war durchgestrichen.
Vielleicht, weil Detlef das Vernichten dann doch konsequenter fand,
vielleicht, weil ihm eingefallen ist, dass das nicht so einfach ist,
„jemanden finden“. Als würde sich posthum jemand für ein Werk
interessieren, das zu Lebzeiten niemand sehen wollte. Aber wenn er es
ernst gemeint hätte mit dem Vernichten, warum hat er die
Drecksarbeit dann nicht selbst erledigt? Anfangen hätte er
wenigstens können, findet Christiane, wenigstens ein paar Werke
symbolisch zerstören, aber alles außer ihm war unversehrt. So ernst
kann die Aufforderung also nicht gemeint gewesen sein. Christiane
steht vor einem Konvolut von sechs- bis 10.000 Werken. Viele davon
riesig, torwandgroße Leinwände, Skulpturen, wo soll das alles hin?
Den Sperrmüll rufen wäre das Einfachste, ist aber das Schwerste.
Christiane entscheidet sich dafür, das Werk weder zu entsorgen noch
wegzuschließen, sondern das Atelier weiter zu mieten.
Christiane will das
erreichen, was Detlef in 35 Jahren nicht erreicht hat. Sie will das
Werk bekannt machen. Aber bevor es mit Christiane weitergeht, müssen
wir über Detlefs Kompromisslosigkeit sprechen.
Noch als
Kunststudent darf er gemeinsam mit ein paar Kommilitonen eine
Ausstellung im Künstlerhaus Hamburg machen. Das ist keine schlechte
Adresse, aber Detlef gefällt der Raum nicht, den er zugeteilt
bekommt. Als Kunstwerk liefert er ein Schriftstück ab, auf dem
steht, dass er in diesem Raum kein Kunstwerk zeigen kann. Ein anderes
Mal sagt er eine Ausstellung ab, weil ihn Steckdosen an der Wand
stören. Wie es junge Künstler eben so machen, die davon ausgehen,
dass der Durchbruch nur eine Frage der Zeit ist.
Christiane glaubt,
dass er weiter gekommen wäre, wenn er kleinere Brötchen gebacken
hätte. Sich nicht auf die großen, renommierten Galerien fixiert
hätte, die ihn nun mal nicht angenommen haben. Nicht diese ständige
Angst gehabt hätte, seine Kunst zu „beschädigen“. Christiane
hat immer gesagt: Deine Kunst hält das aus. Aber zu Kompromissen war
Detlef nicht fähig.
Es gibt da diese
Geschichte ganz vom Anfang ihrer Beziehung. Christiane und Detlef
waren nicht mehr blutjung, beide um die dreißig, Christiane hatte
schon eine fünfjährige Tochter, Mareike, die sie alleine aufzog.
Sie hatten sich auf der Mensa-Party an der Uni kennengelernt. Die
Mensa-Party, sagt Christiane, war damals das, was heute Speed-Dating
heißt. Eines Abends sollte Detlef bei Christiane übernachten. Sie
hatte das Bett frisch bezogen, mit orange-lila-weiß-gestreiftem
Bettzeug, das ihre Mutter ausrangiert hatte. Detlef sagte: „In
dieses Bettzeug lege ich mich nicht.“ Christiane erinnerte ihn
daran, dass man im Bett die Augen schließt, dass sie gleich das
Licht löschen werde, und Detlef nichts mehr sehen müsse von den
scheußlichen Streifen. Detlef zog Schuhe und Jacke wieder an und
sagte: „Wenn du das Bett nicht anders beziehst, gehe ich jetzt
durch diese Tür und du siehst mich nie wieder.“ Etwas in seinem
Blick sagte Christiane, dass er das ernst meinte. Sie erhob sich und
bezog das Bett neu.
Es fällt nicht
schwer, sich vorzustellen, was Detlef von den Orten gehalten hätte,
an denen Christiane seit seinem Tod Ausstellungen organisiert hat.
Das wären einmal: Der sogenannte „Jahreszeitensalon“ des
Bestatters, der Detlef beerdigt hat; dann das Verwaltungsgebäude der
Allianz-Versicherung in Treptow; und ein Krankenhausflur in der
Charité, wo Christiane in der Personalabteilung arbeitet. Doch ihr
Ziel ist die „Kunstwelt“. „Eine Retrospektive im Hamburger
Bahnhof wäre schön“, sagt Christiane, aber sie schiebt gleich
hinterher, dass sie sich keine Ziele setzen will.
Im Prinzip weiß sie
ja auch, dass Detlef in einer Sache recht hatte: In der Kunst gibt es
nur sehr selten einen langsamen, stufenweisen Aufstieg. Wer sich für
bestimmte Sachen hergibt, bleibt für immer unten verfangen, in den
Sphären des Kunsthandwerks; wird vielleicht von Amateuren hofiert,
von „Kunstliebhabern“; von Galeristen, Kuratoren, Sammlern und
Kritikern aber nicht wahrgenommen. Der Weg in den Hamburger Bahnhof
führt genauso wenig über den Salon eines Bestattungsinstituts, wie
der Weg ans Berliner Ensemble über GZSZ führt.
Wenn Christiane all
das weiß – warum tut sie es dann trotzdem? Sie wird oft gefragt,
ob es Schuldgefühle seien, die sie dazu verleiten, sich in Detlefs
Atelier die Nächte um die Ohren zu schlagen, bei der Sisyphusarbeit,
das Riesenwerk zu archivieren („Ein Werk, das nicht archiviert ist,
wird von keinem Galeristen auch nur angefasst“). Aber liegt ein
anderer Gedanke nicht näher? Nämlich der, dass es eine unbewusste
Form von Rache sein könnte? Dass sie Detlefs Werke in diesem Rahmen
präsentiert, eben weil sie weiß, dass er ihn verachtet hätte?
Nein, sagt sie,
keinesfalls. Und dann wiederholt sie, was sie oft sagt: Mit seinem
Tod habe er die Verantwortung in ihre Hände gelegt, er habe sein
Werk selber nicht vernichtet, und sie gehe eben den Weg, den sie für
richtig halte. „Damit muss er jetzt leben.“ Dann fällt ihr
selbst auf, dass das ein absurder Satz ist, sie lächelt ein bisschen
und schiebt schnoddrig hinterher: „Da oben irgendwo auf Wolke
sieben.“
Vielleicht möchte
man gern an die Rache-Hypothese glauben, weil man die Inszenierung
mit der verwelkten Rose auf den Abschiedsbriefen so unerträglich
findet. Und auch, dass in den Abschiedsbriefen nur vom Scheitern des
eigenen Künstlertums die Rede ist und und die Frau, mit der er die
letzten 24 Jahre seines Lebens verbracht hat, mit keinem Wort erwähnt
wird. Über ein Foto sagt Christiane: „Da sehen wir fast aus wie
eine Familie.“ Christiane, Detlef und die kleine Mareike stehen
neben dem geschmückten Weihnachtsbaum, auf den Köpfen
achtziger-Jahre-Frisuren. Warum nur fast, wart ihr denn keine? „Doch,
schon“, sagt Christiane. Geheiratet haben die beiden erst vor ein
paar Jahren. Damit Detlef im Falle ihres Todes abgesichert gewesen
wäre. Es kam dann ja andersherum.
Christiane sieht
müde aus. Auch auf die letzte Ausstellung, die in der Charité, gab
es keine Resonanz. Die Kunstwelt schweigt. Vor ein paar Monaten hat
sie noch gesagt: „Wenn ich nicht bald ein Bild verkaufe, kann ich
die Ateliermiete nicht mehr lange zahlen.“ Heute sagt sie: „Lange
kann ich die Ateliermiete nicht mehr zahlen.“ Sie weiß, dass sich
etwas ergeben wird. Es hat sich noch immer etwas ergeben, wenn es
auch nicht immer das war, wovon sie geträumt hat. Eigentlich wollte
sie in die Erwachsenenbildung. Als sie nach dem Pädagogikstudium zum
Arbeitsamt gegangen ist, hat der Sachbearbeiter gemeint, das Klügste
wäre, schnell zu heiraten. In dem Metier kriege sie eh nichts. Er
war selber studierter Pädagoge. Christiane hat dann als Telefonistin
angefangen und ist ins Personalwesen gerutscht. Bei der Charité ist
sie für den undankbaren Teil zuständig: Nicht für Einstellungs-,
sondern für Trennungsgespräche. Und geheiratet hat sie nicht, um
sich versorgen zu lassen, sondern um jemanden zu versorgen. So kann
es gehen.
Es stimmt schon,
dass es Künstler gibt, die erst posthum entdeckt werden. Es stimmt
aber eben auch, dass allein in Deutschland jedes Jahr weit über
1.000 Studenten ihren Abschluss an einer Kunsthochschule machen.
Einem Großteil von ihnen geht es wie Detlef Halfa. Sie werden hier
und da vielleicht an einer Gruppenausstellung teilnehmen, hier und da
womöglich ein Stipendium ergattern. Sie werden nicht vom Verkauf
ihrer Werke leben können. Die Welt war nicht gemeiner zu Detlef
Halfa als zu tausend anderen Künstlern. Warum glaubt Christiane,
dass ausgerechnet Detlef mehr Ruhm verdient haben soll?
Sie sei keine
Kunsthistorikerin, sagt sie, fachlich könne sie die Qualität der
Werke nicht einschätzen. „Für mich haben sie die unbestrittene
Qualität, dass sie Detlefs Leben waren.“ Und wenn die Fachwelt das
Werk zur Kenntnis nehmen und verwerfen würde? Wenn sie sich im
Atelier einfände und übereinstimmend zu dem Ergebnis käme: Wir
haben es hier mit künstlerischem Mittelmaß zu tun, mit ziemlich
epigonalen Stücken, die in erster Linie dekorativ wirken und wenig
komplexe Bedeutungsschichten aufweisen? Nur theoretisch, was wäre
dann? „Dann hätte sein Leben für ihn keinen Sinn gemacht.“
Vielleicht hat
Christiane etwas Ungesundes von Detlef geerbt, etwas, das ihr früher
fern lag: sich auf ein unerreichbares Ziel zu fixieren. Es ist, als
wäre sie in denselben Zug gestiegen, der doch schon einen Menschen
in den Tod gefahren hat. Der Zug heißt: „Detlef Halfa muss berühmt
werden.“
Aber zum Abschied
sagt Christiane etwas, das Hoffnung macht. Sie sagt: „Bis an mein
Lebensende will ich das hier nicht weiter machen.“ Zurück |