Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Deutschland,
kein Wintermärchen
Auf
dem Campingplatz „Am Aggerstrand“ überwintert, wer keine Wohnung
mehr hat
Andreas Wenderoth,
Focus, 13.02.2010
Zehn Zentimeter
Neuschnee letzte Nacht und Detlef Kowalzik fühlt sich zu schwach
rüber zu den unbeheizten Duschräumen zu gehen. Nur vor einer Kabine
steht ein Stuhl, auf den man seine Sachen legen kann. Nimmt man seine
Kleidung mit rein, wird sie nass, lässt man sie draußen, wird sie
dreckig. Oder ist weg. Kowalzik bleibt lieber drin, hat ja heut frei.
Gestern Abend saß der Lagerarbeiter im Wohnwagen mit zwei Kollegen
vom christlichen Kreis und betete. Wollten grade rüber zum Griechen,
da musste er sich plötzlich übergeben. „Wahrscheinlich
Unterzucker“, vermutet Kowalzik, der Diabetiker ist. Vielleicht ein
bisschen nachlässig, dass er sich noch keine neuen Teststreifen
besorgt hatte. Aber heute morgen geht es ihm wieder gut. Er hat den
kleinen elektrischen Heizlüfter angeschaltet, der zwar kaum wärmt,
aber doch ein wenig die Kälte vertreibt. Das Gas ist ihm
ausgegangen, aber noch fehlt ihm die Energie, eine neue
11-Kilo-Propangas-Flasche vom Vorplatz zu holen. Normalerweise reicht
die Flasche eine ganze Woche, aber bei minus 6 Grad muss er fast alle
drei Tage wechseln. „Geht ganz schön ins Geld“, sagt Kowalzik.
Vor fünf Jahren hat
er seine Wohnung verloren: „Was genau jetzt der Grund war, weiß
ich auch nicht.“ Aber irgendwie hängt es wohl mit der Trennung von
seiner Exfrau zusammen. Jedenfalls lebt er seitdem auf dem Platz.
Jetzt sitzt er hinter verbogenen Lamellen der Jalousie im
Trainingsanzug am Laptop, schaut sich um in der Welt und landet in
Köln. Im Internet hat er „Engel 24“ kennen gelernt, die ihm
recht viel versprechend erscheint. „Sie 45, ich 43, passt doch!“
sagt Kowalzik. Dass er im Wohnwagen wohnt, hat er ihr vorsichtshalber
noch nicht mitgeteilt. Besser nicht gleich mit der Tür ins Haus
fallen. Er weiß, manchen Frauen geht es nur ums Geld. „Die werden
sofort gefiltert.“ Aber manchmal filtern sie auch ihn. Im Grunde
könnte er sich eine Wohnung leisten. Aber Kowalzik sagt, er will
noch sparen: „Musst ja auch was reinstellen in so´ne Wohnung!“
Über den Platz wirbeln dicke Schneeflocken, als Detlef Kowalzik an
jenem späten Morgen frohen Mutes den Satz in die Tasten tippt, der
seine Einsamkeit ein für alle mal beenden soll: „Hallo, wie geht´s
dir?“
Irgendwo zwischen
Köln und Bonn, gegenüber einer AGIP-Tankstelle, in einer Senke
neben der B 484, liegt eingeschneit der Campingplatz Lohmar. „Plätze
frei“ steht auf dem Schild vorn neben der Kneipe „Am
Aggerstrand.“ Die Wohnwagen, häufig noch aus den 70ern,
hochgebockt, damit sie nicht im Hochwasser der Agger versinken, das
hier bis zu viermal im Jahr eine Schlammwüste hinterlässt. Ein
halbes Dutzend Deutschlandfahnen weht müde im Wind. Ein grauer
Himmel, der seit Tagen die Sonne schluckt. Wolken wie schmutzige
Wattefetzen. Am Eingang ein mit Grünspan besetzter Briefkasten, ein
paar Meter weiter, neben dem Büro, eine Doppelreihe mit weiteren
Briefkästen. Von jenen, die hier schon länger wohnen. Solche, die
es auch im Winter in die Natur zieht. Und den Gestrandeten, die keine
Wohnung mehr haben.
Campingplatzbesitzer
Herbert Scheidt bietet hier, anders als die meisten seiner Kollegen,
nach dem Vorbild US-amerikanischer Trailerparks „Wohnen auf Zeit“
an. Keine Kaution, zwei Wochen Kündigungsfrist. Tagesmieten ab 15
Euro. Meldeadresse auf Wunsch. Wer länger bleibt, kriegt
Sonderkonditionen und wenn er es schafft, kauft er sich irgendwann
einen eigenen Wagen. Dann muss er nur noch den Quadratmeterpreis von
8,25 Euro zahlen, plus Strom und Gas. „Wir haben uns spezialisiert
auf Leute, die Wohnwagen mieten, um ein kurz- oder mittelfristiges
Wohnproblem zu lösen“, sagt Scheidt. Manche bleiben ein paar
Wochen, andere Jahre. Jeder dritte Camper, inzwischen 58, wohnen hier
dauerhaft. Monteure, Menschen mit kleinem Gehalt oder Mini-Rente,
Hartz IV-Empfänger. Seit der Wirtschaftskrise hat sich die Nachfrage
dramatisch erhöht. Allein 2009 gab es 50 Prozent mehr Dauerbewohner
als noch im Jahr zuvor. „Die meisten“, sagt Scheidt, „kommen
aus finanziellen Gründen.“
Thomas, der
pensionierte Bundeswehrunteroffizier, dessen Ehe in die Brüche ging,
und der sich, schuldenbelastet, von 128 Quadratmeter mit Pool
verkleinerte auf knapp 10, ohne. Friedhelm, ein Stadtrat der Linken,
dessen Gaststätte Pleite ging. Peter, Generalmusikmajor der
Troisdorfer Prinzengarde, der von 476 Euro Rente leben muss und
dennoch stets gutgelaunt an alten Orgeln herumlötet. Gabriel, der
ehemalige Buchhalter, der schon seit 20 Jahren hier wohnt und sich
inzwischen den dritten eigenen Wohnwagen zulegte. Klaudia, die
Immobilienkauffrau, die nur vorübergehend hier ist und sich nicht
besonders in der Zeitung gewürdigt sehen möchte, weil es bei den
Kunden schlecht ankommen könnte. Ralf mit dem Papagei, der nach
Spanien auswandern will und seine Heizung im Wagen so einstellt, dass
er immer 10 bis 15 Grad hat, weil ihm das reicht. Und Hinrich, der
eigentlich kam, weil er seinen Schäferhund nicht in der Wohnung
halten durfte, der dann aber innerhalb eines Jahres sowohl den Hund
als auch seine Frau verlor. Im Grunde ist es immer dieselbe
Geschichte, aber sie hat viele Varianten und fast immer ähnliche
Folgen.
Furnierte
Einbauschränke, dunkle Eiche, braune Gardinen. Eine Bettnische, die
ein Viertel des Raumes einnimmt, eine braun gemusterte Sitzecke, ein
Vorzelt, zur Küche umfunktioniert. Ein Leben auf 15 Quadratmetern.
Eine Wohnwagentoilette, die bei Minusgraden nicht funktioniert. Im
Sommer ein naturnahes Paradies mit Bademöglichkeit, aber im Winter
Feuchtigkeit, die durch die Ritzen dringt. Schlecht isolierte
Wohnwagenwände und Öfen mit Umluftgebläse, die bullige Wärme
erzeugen, aber gelegentlich ausfallen. Im Sommer kommen die
Freiheitsliebenden, die Romantiker und Stadtflüchter, die der
Anonymität ihrer Mietshäuser entfliehen wollen. Aber wer im Winter
auf dem Platz ist, hat oft keine andere Wahl.
Der Wagen von Dirk
Müller ist aufgeräumt und verströmt einen zitrusfrischen Duft.
Müller, 45, Glatze, wischt akribisch die Schränke, betrachtet die
Flächen gegen das Licht und nickt zufrieden. „Man muss auf sich
achten“, sagt Müller, der nicht trinkt und nicht raucht.
Kampfbereit bleiben. Falls es die Lage erfordert. Vor drei Tagen in
Siegburg wollten ihn drei Jungs abziehen. Haben sie den Falschen
erwischt. Müller lacht. Dem einen gleich den Daumen ins Auge
gedrückt, dann „noch in die Fresse rein getreten“, die beiden
anderen sind gleich weg. Keine Kampfmoral. Bei Schlägereien, sagt
Müller, lässt er sich auf gar nichts mehr ein. Erzählt, wie man
Handgelenke bricht und wie ein gezielter Schlag auf den Kehlkopf,
einen Kampf termingerecht beendet. Gelernt ist gelernt: Mit 19,
nachdem ihn seine Eltern rauswerfen, erzählt Müller, geht er als
Söldner nach Afrika, später nach Jugoslawien, „für Geld Leute
kalt machen“, wie er es nennt. „Devise: zuerst abdrücken. Das
ist im Endeffekt mein Leben, sozusagen.“ Müller spricht mit
angenehmer Stimme, sein Gesicht ist freundlich und offen, nur wenn er
lächelt, bleiben die Augen merkwürdig kalt.
Genaueres über
seine achtjährige Kampfzeit möchte er nicht erzählen, doch wie um
zu bestätigen, dass man ihn ernst nehmen kann und auch sollte, holt
er eine Schachtel mit Dokumenten heraus, die seine Wehrhaftigkeit
untermauern: Lehrgänge in professionellem Personenschutz und
Kickboxen, Kommandoausbildung in Holland, „hier, mit
schallgedämpfter Maschinenpistole beim Franzosen geschossen“, der
Waffenschein für die Glock 9 mm, Modell 17, „hat die GSG 9 auch,
mit dem Ding kannste auch unter Wasser jemand kalt machen.“ Wie
viele Menschen er getötet hat? „Bisschen war´s schon gewesen“,
sagt er und lächelt vieldeutig.
Früher hatte Müller
eine Eigentumswohnung in Hamburg. Verliert sie nach der Trennung von
seiner Frau. Lebt jahrelang in Hotels und Pensionen, weil er ohne
Ballast jederzeit aufbrechen können will. Doch irgendwann ist sein
Geld alle und Müller steht an der Schranke des Campingplatzes. Das
Arbeitsamt hat ihm einen Computerlehrgang vermittelt. Doch Müllers
Nahziel heißt London. Sobald er irgendwie 1000 Euro zusammen hat,
will er sich dort rekrutieren lassen. Wieder in den alten Job. Irak
oder Afghanistan. In beiden Ländern kann man gutes Geld machen.
Müller sagt: „Überlebenschance 50 zu 50.“ Aber wenn er
durchkommt, hätte er nach einem Jahr 100 000 Euro zusammen.
Am Abend liegt der
Platz im fahlen Licht der gegenüberliegenden Tankstelle. Das Wasser
in den Wohnwagen ist abgestellt. Der Frost hat sich an die Scheiben
gesetzt. Manni, in der Wolke seines Atems, kämpft sich durch den
dreckigen Schneematsch. Geht am verwaisten Grillplatz vorbei,
passiert den Ort, an dem Scheidt letztes Jahr das kleine Hanffeld
räumen ließ und grüßt rüber zu Jarek, dem mal jemand die Treppen
angezündet hat, weil er nachts oft laut Musik hört. Minus sieben
Grad, gefühlte Hartz 8, zu wenig Licht, zu viel schlechte Laune. Zum
Glück hat man drinnen seine Ruhe. Dank des Fernsehers, der
ununterbrochen läuft, muss man auch nicht ständig reden.
„Hauptsache es dudelt“, sagt Mannis Frau Sylvia, die in ihrer
pinkfarbenen Strickjacke stark hustend mit ihrer Grippe kämpft.
„Frauen haben immer irgendwas“, sagt Manni ungerührt unter
seinem Schnauzer, und wie zur Erklärung hinterher: „Das sind
Ritzenpisser.“ Sylvia: „Der erzählt wieder Scheiße.“ Sie
verstehen sich gut. 42 Jahre Ehe, zehn Jahre Campingplatz, ebenso
viele Jahre gemeinsame Arbeitslosigkeit – das schweißt zusammen.
„Lieber
über Nacht versumpfen, als im Sumpf übernachten“, steht auf einem
Schild am Wohnwagen von Manni und Silvia. Das heißt genau genommen,
ist es nicht nur ein Wohnwagen, sondern gleich vier, die Manni, der
gelernte Zimmermann, mit dem Vorzelt so zusammengebaut hat, dass es
ein bisschen wie eine große Wohnung wirkt. Genau dies ist jedoch
ein Teil ihres Problems, denn seit letztem Jahr haben sie die
Behörden am Hals. Angefangen hatte alles mit dem Feuer. Als Manni
vor gut einem Jahr die Explosion hörte, ist er gleich rüber
gerannt. Die Zeitungen haben geschrieben, die beiden im Wagen hätten
noch geschrieen, aber das stimmt nicht, sagt Manni: „Die ham
nichmal zip gemacht.“ Hatten Spraydosen zu nah an die Heizung
gestellt. Seitdem pocht das Bauamt auf allerlei Vorschriften, um die
sich früher niemand gekümmert hat. Brandschutz. Mindestabstand.
Rettungswege und all diese Sachen. Alle Dauercamper des Platzes
wurden aufgefordert, ihre Anbauten zurückzubauen. Auch Manni, der
jetzt 63 ist und den Platz, wie er sagt, jedenfalls nicht lebendig
verlassen wird, hat so einen Brief bekommen. „Wenn die räumen
wollen, dann geht’s hier ab!“
Natürlich würde
ihnen das Arbeitsamt auch eine Wohnung bezahlen, aber erstens wäre
sie kleiner, und zweitens würde Manni doch die Gemeinschaft eines
Platzes vermissen, auf dem sich die Menschen im Wesentlichen auf
Augenhöhe begegnen. Auf dem Amt haben sie ihm mal einen Ein-Euro-Job
angeboten. „Hast du sie nicht mehr alle?“, hat Manni seinen
Berater angefahren. Das nächste Mal ist er dann mit der Kettensäge
hin, „80er Schwert“, eine, die Eindruck macht. Schon im Flur hat
er sie angeworfen. „Was meinste, wie die gerannt sind!“ Seit der
Sache mit der Kettensäge braucht Manni jedenfalls nicht mehr zum
Amt.
Hundert Meter weiter
sitzt im dichten Dunst von Verschwörungstheorien und Zigarettenrauch
Helmut Moschini, 57, den sie „den Österreicher“ nennen, im
Wohnwagen und lässt sich von seinem Hund wärmen. Moschini, der als
Fernfahrer Schrott und Lehm bis nach Bagdad gefahren hat, ist
halbseitig gelähmt, seitdem er vor zehn Jahren einen Schlaganfall
hatte. Rausgeflogen aus der Wohnung, weil er die Miete nicht zahlte,
stand er im November 2008 auf der Straße, obdachlos. Fragt man ihn,
wer er ist, drückt er einem wortlos ein Pamphlet von Sitting Bull in
die Hand, in dem die alles zerstörende Gier des Menschen
angeprangert wird. „Da steh ich voll dahinter, das ist Fakt!“
Moschini sieht sich als reinkarnierter Hopi-Indianer, was er
äußerlich unterstreicht durch seine Lederweste, das Stirnband über
den langen grauen Haaren und die Knochenkette an seinem Hals. „Die
Hopis waren friedliche Menschen“, betont Moschini: „Haben nie
gehortet, nie gesammelt, nie gespart. Das ist mein Ding!“
Der Invalidenrentner
Moschini hat in seinem Leben so ziemlich alle Drogen genommen, die es
auf dieser Welt gibt. Er sagt, im „Vaterunser“ ist es falsch
formuliert: „Es müsste eigentlich heißen: Gott, führe mich in
der Versuchung!“ Helmut Moschini, der am Computer Indianerhoroskope
erstellt, und sich selbst als „androgyn“ bezeichnet, hat vorn in
der Kneipe Hausverbot, weil er sich einmal im Rüschenrock - „ich
trag gern Damensachen!“ - sehr breitbeinig hingesetzt hatte, was
allgemein als anstößig empfunden worden war. „Ich hab sie
überfordert“, sagt Moschini und preist das einfache Leben. Er
brauche nicht mehr ein Steak jeden Tag, kocht sich selbst, alles was
satt macht, irgendwas oder Nudeln, aber meist isst er nur „Brot mit
Margarine und ´ne Zwiebel drauf.“
Am Sonntagmorgen
beim Frühstück in der Kneipe, die Scheidts Frau mit Übersicht und
klaren Worten führt, sitzt der harte Kern des Platzes beisammen und
versucht dem Klammergriff des Frostes zu entfliehen. Buffet am
Billardtisch, Kaffee und Zigaretten und Bier für den Pegel. Der
Monat nähert sich seinem Ende, das Geld der Ämter ist verbraucht
und die Kundschaft wird langsam rar. Aus den Lautsprecherboxen klingt
Jimi Hendrix: „Hey Joe, where you gonna run to?“ Maggie redet mit
einer Stimme, mit der man auch Stahl sägen könnte und Manni,
irgendwo zwischen seinem Bierglas und dem tief sitzenden Basecup
versteckt, ist wie immer für die Witze zuständig. Aber er kann
auch ernsthaft werden. „Der Platz hier ist für viele wie ein
Luftballon“, sagt er dann. „Wenn da jemand ein Streichholz
dranhält, haben sie gar nichts mehr.“ Und die wirklich Einsamen
lassen sich auch in der Kneipe nicht mehr blicken. „An die kommste
nicht mehr ran. Kannste jeden Tag wecken, die stehn trotzdem nicht
auf!“ Irgendwann waschen sie sich nicht mehr, holen kein Gas und
auch kein Wasser. Und dann wird es ganz kalt und still um sie. Zurück |