Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Die
Drecksarbeit
In
Kairo wird gegen Schweinegrippe nicht geimpft, sondern geschlachtet.
Im Frühjahr ließ die Stadt alle Borstentiere töten. Jetzt erstickt
sie deswegen im Müll. Wie der Zusammenbruch des Schweinesystems zu
einer Riesensauerei führte.
Martin Wittmann,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2009
Vom Flugzeug aus ist
die Größe Kairos schon nicht zu fassen gewesen, vom Boden aus aber
ist sie nicht mehr zu begreifen. In der flimmernden Hitze verliert
die Stadt die Konturen. Autos schieben sich in endlosen Reihen über
den kaputten Asphalt und vergiften die sechzehn Millionen Einwohner
mit Smog, ihr Klappern wird nur vom eigenen Hupen übertönt. In der
Mitte dieses stabilen Chaos liegt das Viertel Dokki. Es gehört nicht
zu den schlechtesten, die Häuser sind gepflegt, die Zäune
gestrichen, in den Straßen aber türmt sich der Müll bis an die
Kotflügel der Autos. Es stinkt nach Tomaten, die in Plastiktüten
schwitzen. Als wir den Müll fotografieren, schreit ein Mann: "Was
macht ihr da?" Gleich kommen mehrere Nachbarn zusammen. Neben
uns springt eine Katze aus einem Karton voller schwarzer, dürrer
Bananenschalen und huscht unter einen Wagen. Von dort sieht sie die
Männer die Fäuste ballen und uns durch die Straßen treiben. Weg
von dem Ort, an dem der Zusammenbruch eines auf Schweinen gebauten
Systems zu einer Riesensauerei geführt hat.
Zwanzig Autominuten
östlich von Dokki sitzt Izzat Mikhail in einem mintgrün
gestrichenen Büro. Er ist Chef der Müllsammlervereinigung von
Manshiet Nasser, einem Slum, in dem hunderttausend Christen leben,
wie auch er einer ist. Auf sein Handgelenk hat er sich ein kleines
Kreuz tätowieren lassen, er trägt ein ordentliches, schwarz und
weiß gestreiftes Hemd, das nur vom Handy in der Brusttasche aus der
Form gezerrt wird. Auf dem Schreibtisch liegen eine dicke Mappe mit
ausschließlich handgeschriebenen Papieren und eine halbvolle
Plastiktüte, die unter Mikhails Händen vielversprechend raschelt.
Wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er direkt in den Slum. Er sieht
Lastwagen und jede Menge Ziegen. Er sieht Frauen in unverputzten
Häusern und Kinder, die vor einer bunt bemalten Schule toben. Vor
allem aber sieht er Müll, Müll, überall Müll. Was er nicht sieht,
sind Schweine.
Die Geschichte
begann Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als in den Oasen östlich
der Stadt die Quellen versiegten und die dort lebenden Wahi nach
Kairo zogen. Mittellos, wie sie waren, blieb ihnen nur die Arbeit als
Müllsammler, geschäftstüchtig, wie sie waren, verkauften sie den
Abfall aus den Straßen an die Bäder der Stadt, die ihn dann unter
den Wasserbecken verheizten. Der Müllverbrennungsmarkt
funktionierte, bis die Badehäuser vor etwa neunzig Jahren den Abfall
durch Öl ersetzten, und Abfall bloß noch Abfall war. Zu dieser Zeit
zogen koptisch-orthodoxe Christen aus Mittelägypten in die Vorstädte
Kairos. Sie konnten oft weder lesen noch schreiben, alles, was sie
besaßen, waren ihre Schweine. Schweine, die mit dem Abfall einer
Stadt wie Kairo nicht nur gefüttert werden, sondern gemästet werden
konnten. Gegen eine Gebühr waren die Wahi bereit, ihr schmutziges
Geschäft an die Kopten weiterzugeben, die so ihr Vieh mit fressbarem
Müll versorgten. Das informelle Schweinesystem entstand.
Kairos Hausbesitzer
versteigerten das Recht zur Müllabfuhr an die Wahi, welche die
monatlichen Gebühren von den Privathaushalten einzogen. Die Kopten,
Zabbalin genannt, kauften den Wahis dann die Nutzungsrechte für
bestimmte Wohngebiete ab, um dort den Abfall einsammeln zu dürfen.
Wie Bauern, die ein gepachtetes Feld bestellen, oder Goldgräber, die
einen abgesteckten Claim bearbeiten, gruben die Zabbalin in dem, was
außen ihnen keiner mehr gebrauchen konnte. Al-Cheir, das Wertvolle,
nennen Zabbalin den Müll. Je schwerer, um so besser.
Die Säcke, die
Mustafa jeden Abend vor seinen Salon stellt, sind leicht. Haare
wiegen selbst in Unmengen nicht viel. Seit vierzig Jahren steht
Mustafas Friseursalon in Dokki. Der Mann mit dem lilafarbenen Kamm
ist ein gewissenhafter Friseur, und sein akkurater Haarschnitt zeigt,
dass es in Kairo noch mindestens einen zweiten seiner Art geben muss.
Der Salon ist leer und gepflegt, einladend für jeden, der zuvor von
einem Mob durch die ungesäuberten Straßen getrieben wurde. An die
Wand ist ein großes Bild von Präsident Mubarak genagelt, daneben
schießt in einem aufgehängten Fernseher Bruce Willis um sich.
Mustafa legt dem Kunden den Umhang an und schlägt vor, bei der Rasur
einen Schnauzer stehen zu lassen.
Jeden Abend kehrt er
die abgeschnittenen Haare zusammen und schüttet sie in einen
Müllsack, den er dann vor die Tür stellt und der am Morgen stets
verschwunden sei. Nicht ein einziges Mal hat Mustafa gesehen, wie die
Zabbalin den Abfall abholen und selbstverständlich hat er auch ihre
Tiere nie zu Gesicht bekommen. Er ist Muslim, und alles was mit
Schweinen zu tun hat, ist für ihn unrein. "Wie kann man bloß
Tiere essen, die zuvor den eigenen Müll gefressen haben?", sagt
er und ein breites Lächeln lässt die Lücke zwischen den
Schneidezähnen erkennen. Dann fällt ihm ein, dass er doch einmal
Schweine in Kairo gesehen hat, im Frühjahr, im Fernsehen, es müssen
Tausende gewesen sein.
Im Mai kam das
ägyptische Parlament zusammen, um über Maßnahmen gegen die
aufkommende Schweinegrippe zu beraten. Damals gab es noch keinen
einzigen Infizierten im Land, aber die Menschen hatten Angst. Die
Mediziner hielten sich mit Expertisen zurück, aber die Medien
machten Druck, und auf einmal hieß es, dass an der Schweinegrippe
die Schweine schuld seien. Daraufhin beschloss die Regierung, dass
alle Schweine des Landes so schnell wie möglich getötet werden
sollten. Es gab nur eine Gegenstimme, sie kam von Siyada Greiss,
einer Koptin. "Bis auf den Namen gab es keinerlei Zusammenhang
zwischen der Krankheit und den Tieren", sagt sie. Aber darum
ging es offenbar auch gar nicht.
Als wenige Tage
später die Wagen von Polizei und Gesundheitsministerium anrollten,
wurden sie von den Bewohnern von Manshiet Nasser schon erwartet. Die
hielten jedoch keine Ferkel in den Händen, sondern Flaschen, Steine
und Gewehre. Der Kampf um die Ressourcen endete mit zwölf verletzten
Zabbalin, sieben verletzten Polizisten und vierundzwanzig Festnahmen.
Erst als sich die mächtige Kirche, die über dem Viertel auf den
Muquattam-Felsen thront, in die Verhandlungen einmischte, gaben die
Kopten ihre sechzigtausend Schweine her. Als Abfindung bekamen sie
für ein Ferkel fünfzig Pfund, das sind sechs Euro, für eine Sau
einhundert und für einen Eber zweihundert. Die Polizei errichtete
Straßensperren, damit die Zabbalin ihre Herden nicht in Sicherheit
schmuggelten, und schickte Männer in weißen Schutzanzügen in den
Slum. Die Männer trieben die Schweine aus den Hinterhöfen auf die
Straßen, packten sie an den Läufen und warfen sie auf
Traktorschaufeln. Die Tiere zappelten und schrieen so wild wie
vergeblich. Die Traktoren hievten sie in die Höhe und schütteten
sie in Container, in denen schon andere Schweine zappelten und
schrieen. Ein kleiner Teil der Container wurde in die Schlachthöfe
gefahren, wo die Tiere im Akkord abgestochen wurden und das Fleisch
eingefroren wurde. Der Großteil der Container aber wurde in die
Wüste gebracht, und es heißt, dort seien die Schweine mit
Chemikalien besprüht worden und langsam und qualvoll verreckt.
Ägyptische Schweine gibt es heute nur noch in Kühltruhen oder unter
meterhohem Wüstensand.
In dem Büro, in dem
Izzat Mikhail sitzt und das Schweinesystem erklärt, öffnet er nun
die Plastiktüte, mit der er die ganze Zeit über geraschelt hat. Aus
ihr holt er weitere kleine Tüten, jede mit einem Granulat gefüllt
und nach Farben geordnet. Bald sieht der Schreibtisch des Chefs der
Müllsammlervereinigung von Manshiet Nasser aus wie der Schreibtisch
eines Drogendealers. Das Granulat ist der Rest jenes Mülls, den die
Zabbalin nicht an die Schweine verfüttern, aber dennoch sammeln. Er
macht heute sechzig Prozent des gesamten Abfalls der Stadt aus und
ist der Grund, warum nicht alle Zabbalin arbeitslos wurden, nachdem
man ihnen ihre Tiere genommen hat. Das Granulat geht nach China, wo
sie aus ägyptischem Müll schöne Fleece-Jacken produzieren. Von den
zwei Pfund, die den Zabbalin für jedes Kilo Plastik gezahlt werden,
können die meisten aber nicht leben. Ihnen fehlt das Geld, das der
Metzger ihnen sonst für die Schweine gab, deren Fleisch dann an
große Hotels, an Ausländer und an Kopten verkauft wurde, die
immerhin zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung ausmachen. In
Wahrheit, sagt Izzat Mikhail, sei die ganze Aktion nichts anderes als
eine Diskriminierung der Kopten. Die Schweine seien den Muslimen
schon aus religiösen Gründen ein Dorn im Auge gewesen, mit der
Grippe sahen sie auf einmal die Chance, sie auf einen Schlag
loszuwerden. Die Schwere der Erkenntnis ruht eine Weile im Raum. Dann
fragt einer der Gäste, ob er rauchen dürfe. Selbstverständlich,
antwortet Izzat Mikhail, und kurz darauf sucht man gemeinsam in
seinem penibel aufgeräumten Büro einen Aschenbecher, während vor
dem offenen Fenster die Welt in Müll erstickt.
Noch vor dem
Morgengrauen strömen die Zabbalin aus und klappern die Häuser ab.
Je feiner die Adresse, desto besser der Abfall. Sack um Sack landet
in den Körben, die sich die Zabbalin auf die Rücken geschnallt
haben. Die Körbe werden später auf Lastwagen geworfen, die
Lastwagen in die Slums gesteuert, auf denen stets ein säuerlichen
Gestank lastet. Die Marienbilder sind so hoch über den Straßen
gespannt, dass selbst die am dreistesten beladenen Laster locker
unten durchpassen. So bringen die Zabbalin die Ware heim. Nicht auf
die Straßen oder Halden schütten sie den Müll, sie kippen ihn
direkt vor ihre Häuser, wo ihn nun die Frauen sortieren: Plastik,
Kartonagen, Glas, Aluminium, Kupfer, Papier, Stoffe.
Ganze Erdgeschosse
sind bis oben hin mit leeren Wasserflaschen gefüllt. Der
Lichtstrahl, der schwach durch die staubige Luft dringt, lässt die
Räume leuchten wie Kryptonit. Auf der Karre, die ein Esel
vorbeizieht, hüpft ein Berg zusammengeworfener Drähte auf und ab.
Irgendwo wird ein Schredder angeworfen. Junge Männer schieben
gepresste Papierwürfel auf einem Lastwagen wie Tetris-Bausteine
ineinander, bereit für den Export in die umliegenden Fabriken. Ein
Kind läuft in die bunt bemalte Schule, die unter Mikhails
Bürofenster steht. Procter & Gamble finanziert die Einrichtung
und bietet den Schülern kostenlosen Unterricht. Als Gegenleistung
sollen die Kinder leere "Head'n'Shoulders"-Flaschen und
"Provene"-Tuben des Konzerns in der Schule abgeben. So soll
verhindert werden, dass die Zabbalin irgendein Gebräu in die
Flaschen füllen und als Originalware verkaufen. In Manshiet Nasser
ist Bildung soviel wert wie Originalmüll. Zuletzt aber, sagt die
Schulleiterin, kämen immer weniger Kinder zum Unterricht. Viele
werden von ihren nun völlig verarmten Familien in die Stadt zum
Arbeiten geschickt.
Unter einem riesigen
Sack, der behäbig über die Straße wackelt, krümmt sich ein Mann
in gelben Gummistiefeln, der gerade aus der Stadt zurückkommt. Seit
sie ihm die Schweine geholt hätten, verdiene er nur noch ein Drittel
seines Lohnes, sagt er, ohne den Sack abzustellen. Außerdem müsse
er härter arbeiten. Da Manshiet Nasser kein Schweinefutter mehr
braucht, sortiert er den Müll bereits beim Abholen vor und wirft
alles Organische zurück auf die Straßen Kairos. "Das haben sie
nun davon", sagt er, und wackelt um die Ecke, während seine
Rache in Vierteln wie Dokki vor sich hin stinkt.
Die Geschichte kennt
nur Verlierer, das ist auch der Regierung bald klar geworden.
Verträge mit ausländischen Firmen wurden geschlossen, Knowhow aus
Europa angefordert. Sogar bei den in dieser Beziehung berüchtigten
Italienern erkundigte man sich nach Müllvernichtung. All das kostete
Geld, aber die Bewohner Kairos weigerten sich, eine erhöhte Gebühr
zu zahlen. So dauerte es nicht lange, bis die Müllfirmen streikten
und stinkende Berge auf den Straßen wuchsen. Schließlich mussten
auch die Politiker einsehen, dass Kairo die Zabbalin braucht. Künftig
sollen sie gerechtere Verträge mit den Wahi aushandeln dürfen und
außerhalb Kairos Grundstücke bekommen, damit sie den Müll nicht
mehr zu Hause sortieren müssen. Noch weiter draußen soll es sogar
wieder Schweine geben, auf einhundert Hektar sollen richtige Farmen
entstehen. Dem Schweinesystem aber will sich die Regierung offiziell
nicht mehr beugen. Der organische Müll soll kompostiert, die
Schweine mit Tierfutter versorgt werden.
Nach einer
Dreiviertelstunde, in der Mustafa seinem Kunden den Kopf gewaschen,
die Haare geschnitten und die Wangen rasiert hat, reißt er ihm den
Umhang vom Leib. Was die neuen Schweinepläne betrifft, sei er
äußerst skeptisch, sagt er. Er kenne amerikanische Farmen aus dem
Fernsehen, schön sauber seien die Schweine dort. Bei den Zabbalin
dagegen stünden sie früher oder später doch wieder im Müll und
fräßen Dreck. Dann zeigt er ein letztes Mal seine Zahnlücke,
verlangt sechzig Pfund für den Haarschnitt und verabschiedet den
Kunden. Eigentlich hatte man ihn ausdrücklich darum gebeten, den
Bart ganz zu rasieren, weil aber draußen auf Kairos Straßen alle
Männer einen Schnauzbart tragen und weil ihn auch nie einer seiner
Kunden bittet, diesen abzunehmen, hat er ihn einfach stehenlassen. Zurück |