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Anita Blasberg / Stefan Willeke „Das Kundus-Syndrom

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Das Kundus-Syndrom

Wer verstehen will, warum Oberst Klein die Nerven verlor und den Luftschlag vom 4. September 2009 anordnete, der muss die anderen Kommandeure im Bundeswehrlager von Kundus kennenlernen: Soldaten, die an ihrer unlösbaren Aufgabe scheiterten


Von Anita Blasberg und Stefan Willeke, Zeit, 04.03.2010


Um kurz nach sechs an einem Sonntagmorgen, als der Krieg gerade eine Pause macht, schnürt Kai Rohrschneider seine Stiefel und läuft hinüber zur Kantine des Feldlagers. Drei Grad, dichte Wolken. Von den Bergen hinter den Mauern des Camps sieht er nichts, noch liegen die Ausläufer des Hindukusch im Nebel. Rohrschneider öffnet die Tür zur Kantine, nimmt sich einen Becher Tee und setzt sich an einen der langen Tische.

Noch drei Stunden, dann werden sie kommen.

Kundus im ausgehenden Winter 2010: Draußen vor den Toren des Bundeswehrlagers werden Rohrschneiders Soldaten in immer neue Fallen gelockt, Männer mit Panzerfäusten lauern ihnen auf, mit Sprengladungen und Maschinengewehren. Taliban ermorden Kinder und erzählen in den Dörfern, die Deutschen hätten sie auf dem Gewissen. Afghanische Polizisten, von den Deutschen ausgebildet, verkaufen ihre Uniformen an die Gegner. Wer Feind ist und wer Freund, kann niemand mehr sagen. An keinem anderen Stützpunkt in Afghanistan ist die Bundeswehr derart in der Defensive.

Gut sichtbar liegt das deutsche Lager auf einem Hochplateau, rund 500 Meter im Quadrat, Hunderte Soldaten in Zelten, dicht an dicht, ein gutes Ziel. Kai Rohrschneider weiß das, aber er hat gelernt, sich behutsam auszudrücken. Er sagt: »Ich habe eine spannende Aufgabe.« Er ist Kommandeur des deutschen Feldlagers Kundus, Befehlshaber des 21. Kontingents. »Der 21. Versuch«, sagen seine Soldaten.

Wenn Rohrschneider in seinem Büro vom Schreibtisch aufblickt, sieht er in die Gesichter der früheren Kommandeure, gerahmt in Gold hängen sie dort, auch Oberst Georg Klein, der Mann, dessen Gesicht jetzt ganz Deutschland kennt. Er ließ in der Nacht vom 4. September 2009 zwei Tanklaster bei Kundus bombardieren. Bis zu 142 Menschen starben, unter ihnen Kinder. Der Generalinspekteur der Bundeswehr musste deswegen gehen und der ehemalige Verteidigungsminister. Die Welt sprach von einem deutschen Kriegsverbrecher.

Sollte Rohrschneider nervös sein, kann er das gut verbergen, geschliffene Sätze sind seine Spezialität. Er ist Träger des Ehrenkreuzes der Bundeswehr in Gold und Silber. Sollte er Kundus überstehen, wird er wahrscheinlich General. Er darf nur keinen Fehler machen. Ein Fehler, das ist alles, was es in die Nachrichten schafft: tote Zivilisten, deutsche Särge.

Noch zweieinhalb Stunden, dann wird der Besucher da sein. Der Gouverneur.

Als sich die Deutschen entschlossen, ihre Armee in den Norden Afghanistans zu schicken, war Kundus ein angenehmer Ort, die wohlhabende Kornkammer des Landes, Bad Kundus nannten die deutschen Soldaten es. Als Rohrschneider im Oktober 2009 hier ankam, erinnerte nichts mehr daran. Jedes halbe Jahr schickt die Bundeswehr einen neuen Kommandeur, und jedes Mal erbt er von seinem Vorgänger eine aussichtslosere Lage. Jetzt naht wieder der Tag des afghanischen Neujahrsfestes, der 21. März. Danach werden die Taliban aus ihren Winterquartieren in Pakistan zurückkehren und die deutschen Soldaten heftiger bekämpfen denn je. Nirgendwo sonst auf der Welt kommt der Terrorkrieg des 21. Jahrhunderts der Bundeswehr so nahe. Nirgendwo sonst hängt so viel von einem deutschen Kommandeur ab.

Rohrschneider läuft ins Stabsgebäude 1, Sicherheitszone, summende Stahltürschlösser mit wechselnden Zugangscodes. Gleich noch die Morgenlage, um acht, danach wird der Gouverneur vorfahren. Gewöhnlich ist er pünktlich.

Muhammad Omar kommt mit einem ganzen Konvoi. Auf den Ladeflächen der Pick-ups stehen Männer mit Kalaschnikows, über ihren Bäuchen hängen Patronengürtel. Das Schild mit dem Hinweis »Hier gilt die Straßenverkehrsordnung« sagt ihnen nichts, sie können nicht lesen. Vor dem Ehrenmal, an dem Messingschilder mit den Namen der gefallenen Bundeswehrsoldaten angebracht sind, bleiben die Autos stehen. Der Gouverneur springt aus seinem teuren Geländewagen und läuft ins Stabsgebäude. Rohrschneider begrüßt ihn mit einer Umarmung. Security meeting nennen die Deutschen das hier, Sicherheitstreffen.

Wie kostbar Sicherheit ist, weiß kaum jemand besser als Muhammad Omar. Früher war er Mudschahed, wegen einer Verletzung seines rechten Auges trägt er meist eine Sonnenbrille. Als er vor fünf Jahren von der Regierung in Kabul zum Gouverneur von Kundus ernannt wurde, hatte er noch zehn Leibwächter. Dann wurde sein Lieblingsbruder von den Taliban erschossen, und er verdoppelte auf 20. Inzwischen sind es 30. Der Gouverneur prahlt damit, dass er 26 Söhne von vier Frauen habe, und wenn ihm danach ist, lädt er den deutschen Kommandeur ins beste Hotel der Stadt zum Essen ein. Manchmal schreibt er Briefe an den Vertreter des Auswärtigen Amtes im Feldlager, verlangt die Verschönerung des Parks vor seiner Residenz, einen Bewässerungsgraben im Garten, eine neue Mauer. Dann läuft der Mann aus Berlin mit einer Tasche los und bringt dem Gouverneur 20.000 Dollar in Scheinen. Man könnte denken, er sei einer von Muhammad Omars vielen Dienstboten.

Jetzt hebt der Gouverneur zu einem mürrischen Vortrag an, den niemand zu unterbrechen wagt, nicht der Mann vom Bundesnachrichtendienst, nicht der Mann vom Auswärtigen Amt, keiner der Offiziere. Der Gouverneur sagt, die Deutschen müssten aggressiver werden. Ohne die Milizen, die für sie die nördlichen Gebiete kontrollierten, wären sie verloren. Er sagt: Die Milizenführer verlangen Bezahlung, sonst laufen sie weg. »Gebt ihnen was!«

So spricht er oft mit den deutschen Kommandeuren.

Der Gouverneur erteilt dem Polizeichef das Wort, der dann über Hühnerdiebe redet. Am Ende kommt Kai Rohrschneider dran. Der Gouverneur ruft ihn auf wie einen Schuljungen. Die Milizenführer bezahlen? Kriegsfürsten? Das würde in Deutschland niemand verstehen. Man müsse die Milizen erst in »staatliche Strukturen« eingliedern, sagt Rohrschneider. Vielleicht würde er gerne antworten wie ein Milizionär, barsch und entschieden, aber Rohrschneider muss reden wie ein Politiker. Er muss ins Ungefähre ausweichen.

Die Welt schickte Soldaten aus 44 Nationen nach Afghanistan, wo sich die Spuren schmutziger Kriege schichten wie Sedimente. Wo afghanische Warlords, korrupte Geheimdienstoffiziere, pakistanische Waffenhändler und iranische Drogenkuriere ihre dreckigen Spielchen spielen. Und wo Kai Rohrschneider, der Deutsche, sauber bleiben soll. Er sagt: »Wir haben keinen Grund, unzufrieden zu sein. Die Modernisierung einer Gesellschaft ist immer ein schwieriger Prozess.«

Kai Rohrschneider, ein Kommandeur, der mehr als tausend Soldaten befehligt, sich aber mit Worten nicht aus der Deckung wagt. Georg Klein, ein Kommandeur, der die Menschen in der Heimat erst aufschreckt, als er mehr als hundert Menschen tötet. Wer das Drama dieses Einsatzes verstehen will, wer begreifen will, wie es so weit kommen konnte, muss sich die ungehörten Geschichten seiner Vorgänger anhören, die Geschichte der Kommandeure von Kundus. Es ist die Geschichte von Männern, die diesen Krieg verwalten müssen, ohne ihn führen zu dürfen – die Geschichte einer Täuschung und Selbsttäuschung.

In einem abgeschiedenen Dorf bei Bad Honnef hat Christian Meyer in einem kleinen Gasthof einen Tisch reserviert. »So gelegen, dass wir ein ungestörtes Gespräch führen können«, hat er in einer E-Mail geschrieben. Er ist pünktlich. Oberst Meyer, groß, schlank, die Haare streng gescheitelt, Krawatte, Jackett. Den Rücken hat er durchgedrückt, den Blick auf einen Stapel Papier gerichtet. In der Bundeswehrzeitung Aktuell haben sie diese Meldung über ihn gebracht, Überschrift Abgelöst . Ein Artikel, der ihn wie einen Versager wirken ließ. »Ich habe aber nichts Unehrenhaftes getan«, sagt Meyer. »Ich war Kommandeur in Kundus.«

Meyer bestellt ein Glas Rotwein und beginnt mit seinem Vortrag. Viele Seiten hat er vollgeschrieben, allein für diesen Abend. Von den Wänden schauen tote Hirsche auf ihn herab.

Schon als er im Juli des Jahres 2008 das Feldlager übernahm, kam er mit einem Haufen Papier dort an, 17 eng bedruckte Seiten, mit Fußnoten: sein Konzept für Kundus. Als ein Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt in Berlin davon erfuhr, sagte er zu einem seiner Kollegen: »Was hat der geschrieben? Ein Konzept für Afghanistan? Der muss verrückt sein. Niemand hier hat ein Konzept für Afghanistan.«

Oberst Meyer unterrichtet an der Verwaltungshochschule Speyer zivilen Wiederaufbau, einige Offiziere nennen ihn deswegen spöttisch »den Professor«. Er hat sich mit dem Vietnamkrieg beschäftigt und sich in ein Buch über den Kampf gegen Partisanen vertieft: Learning to Eat Soup with a Knife . Lernen, wie man Suppe mit dem Messer isst. Wie seine Vorgänger in Kundus glaubt auch er von Anfang an nicht an einen Sieg mit militärischen Mitteln. Er glaubt, dass die Bundeswehr nur gewinnen könne, wenn sie die afghanische Bevölkerung hinter sich bringe. Er glaubt an Strommasten, nicht an Scharfschützen. »Kollateralschäden darf es nicht geben«, sagt Meyer. Er ist überzeugt von den Rules Of Engagement, dem Leitfaden der Isaf-Soldaten. Wir schützen den Wiederaufbau des Landes, so ist die Linie, wir jagen nicht die Taliban. Der Krieg, den Meyer führen will, ist ein deutscher Krieg. Er kommt ohne Panzerhaubitzen aus, ohne Feinde. Es ist ein sauberer Krieg, ein Werbefeldzug um die Herzen der Menschen.

Als Meyer in Kundus ankommt, passt das Land zu seinem Konzept. Der Kommandeur weiht neu gebaute Schulen und Gesundheitszentren ein, niemand schießt auf seine Soldaten. Eine Lagerhalle für Zwiebeln könnte Kundus gut gebrauchen, denkt Meyer. Er hat große Ziele. Er besorgt sich einen deutsch-afghanischen Koran und heuert einen Lehrer an, der ihm die Suren erklärt. »Der Koran erlaubt keine Korruption«, sagt Meyer manchmal, wenn er mit Provinzräten spricht, und die Afghanen sagen verwundert: »Jetzt haben uns die Deutschen einen Mullah geschickt.«

Meyer isst mit mächtigen Paschtunen zu Abend, diskutiert mit Imamen, notiert sich die Wünsche von Bürgermeistern: Medikamente, Brunnen, Strom. Aber die Wirklichkeit verträgt sich nicht mit seinen Ideen. Er hat ein eigenes Budget von 40.000 Dollar zur Verfügung, 40.000 Dollar für vier Monate, das reicht für kaum mehr als leere Versprechungen. Meyer kann die Wünsche der Afghanen bloß an die großen Organisationen melden, die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die in langwierigen Verfahren über die Anträge entscheiden. Ein Kraftwerk, das begreifen die Afghanen schnell, baut ihnen der Deutsche nicht. Er kommt ihnen vor wie ein König ohne Land. Die Afghanen, die aussehen wie Zivilisten, denken in Kategorien des Krieges. Die Deutschen, die aussehen wie Krieger, denken in Kategorien des Friedens. Die Afghanen haben schon viele Kommandeure kommen und gehen sehen, und sie tun sich immer schwerer, die Fremden mit den großen Notizblöcken noch ernst zu nehmen.

Meyer betastet die verstörende Realität, sie beginnt beim Führungsstab in seinem eigenen Feldlager. Es gibt keine aktuelle Analyse der militärischen Lage, die letzte ist zwei Jahre alt. Alle Berichte über militärische Operationen werden pflichtschuldig zum Einsatzführungskommando in Geltow bei Potsdam geschickt. In Kundus findet Meyer nur wenige sortierte Daten, kein Archiv, nichts. Sein Feldlager ist ein Ort ohne Gedächtnis.

Meyer bezahlt afghanische Informanten, die dasselbe Wissen bereits an seine Vorgänger verkauft haben. Die Soldaten bleiben nur ein paar Monate, dann kommt schon das nächste Kontingent. Und das Einsatzführungskommando bei Potsdam lässt Meyer freie Hand. »Eine Führung existierte gar nicht«, sagt Meyer in die leere Gaststube hinein.

Doch von Tag zu Tag entfernt sich Afghanistan mehr von dem Land, in dem Meyer bloß die Stabilität erhalten sollte. Aus Pakistan dringen Taliban ein, und in den Dörfern nahe dem deutschen Feldlager werden Flugblätter verteilt: Wer mit den Ungläubigen zusammenarbeitet, wird sterben. Auf einem Acker wird ein Feldarbeiter gefunden, der den Deutschen Informationen lieferte, hingerichtet mit 60 Schüssen. Irgendwann spricht sich herum: Auf Meyers Kopf sind 50.000 Dollar ausgesetzt.

Im Lager gehorcht weiterhin alles der deutschen Ordnung. Es gilt die Zwei-Dosen-Regel beim abendlichen Bier in einer Lagerkneipe, die Lummerland heißt. Es gilt die deutsche Haar- und Bartordnung, alles unterliegt einem Plan. Meyer hält sich an ihm fest wie ein Ertrinkender. Er hat sich viel mit Taktik beschäftigt, in taktische Schachzüge kann er sich verlieben, und wer die Taktik liebt, der hasst den Fehler. Begehen Soldaten Fehler, spricht Meyer gleich von »absoluten Fehlern«. Immer öfter brüllt er seine Leute an: »Ich will Soldaten, keine Pfadfinder!« Als Soldaten draußen versehentlich ein Scharfschützengewehr mit Nachtsichtgerät liegen lassen, ist er außer sich: »Was ihr hier macht, ist Murks!« Das ist von nun an sein Satz.

Meyer will seinen sauberen Einsatz vor dem schmutzigen Krieg retten. Deswegen lehnt er es ab, mit afghanischen Warlords zu verhandeln, die sich ihm als Partner anbieten. Einen von ihnen, der sogar eine Isaf-Zugangskarte für das Lager besitzt, lässt Meyer aus dem Camp werfen. Einige Offiziere versuchen Meyer davon zu überzeugen, Kompromisse zu machen, aber er bleibt bei seiner Linie.

Nur sieben Wochen nach Meyers Antritt im Lager droht die Lage zu eskalieren: Ein afghanischer Polizist, der von den Deutschen ausgebildet wurde, wird ermordet, mit 30 Schüssen. Dem Bürgermeister eines Dorfes bei Kundus wird einer seiner Söhne vor die Tür gelegt, tot, mit aufgeschnittener Kehle. Es geht jetzt nicht mehr um Lagerhallen für Zwiebeln, und Meyer findet keine Antworten mehr in seinem Konzept. Seine Soldaten können keinen Guerillakrieg führen, sie dürfen es nicht. Bei seinen Vorgesetzten fordert er gepanzerte Fahrzeuge an. Er will seine Soldaten schützen vor dem Überfall der Wirklichkeit.

Da erfährt Meyer, dass einer seiner Hauptfeldwebel von einer Bombe in Stücke gerissen worden ist. Er saß in einem schlecht gepanzerten Geländewagen, als er den Kundus-Fluss durchquerte. Oberst Meyer ist blind vor Wut.

Er hatte seinen Brigadegeneral Jürgen Weigt in Masar-i-Scharif vor genau dieser Gefahr gewarnt. Und er hatte gefordert, dass Weigt ihm endlich die besser geschützten Fahrzeuge nach Kundus bringen lasse, die längst genehmigt waren. Doch der General, sagt Meyer, hielt diese Wagen für seine Besucher in Masar-i-Scharif zurück, für Politiker und Journalisten. Am Telefon gifteten sich die beiden an, Meyer wurde wieder laut. Und jetzt wird die Leiche eines Soldaten in den Kühlcontainer des Feldlagers verladen. Würde der Mann noch leben, wenn Brigadegeneral Weigt auf Meyer gehört hätte?

Meyer verbeißt sich in diese Vorstellung, kämpft gegen den eigenen General, gegen Soldaten, die er immer öfter zusammenschreit, gegen die Aufständischen in den Bergen, gegen das Misstrauen der Afghanen in den Dörfern, die mit Meyer von neuen Straßen träumten, nun aber plötzlich deutsche Soldaten in schwer gepanzerten Mungos und Dingos auf sich zurollen sehen. Meyers friedenssichernder Einsatz ist zu einem Mehrfrontenkrieg geworden.

Noch heute, im Gasthof, sagt er: »Mit meinen Gefühlen bin ich noch nicht wieder in Deutschland angekommen.« Und noch heute will die Bundeswehr zum Fall Meyer nicht Stellung nehmen. Von nun an wird Meyer immer neue E-Mails und Briefe an die ZEIT schicken, fett gedruckte Richtigstellungen, kursiv gedruckte Anschuldigungen, die Feldpost eines schwer Verletzten.

Kundus ließ Meyer in einen Ausnahmezustand geraten. Nachdem draußen wieder ein Sprengsatz detoniert ist, fragt Meyer einen zurückkehrenden Soldaten: »Na, Bombenstimmung heute?« Er muss wahnsinnig geworden sein, glauben einige Offiziere. Aber vielleicht ist er nicht wahnsinniger als die Situation der Armee in Kundus. Christian Meyer verliert die Kontrolle, als die Truppe ihre Richtung verliert. Was soll sie in Afghanistan bewirken? Rebellen festnehmen? Brunnenlöcher bohren? Beides zugleich?

Nur wenige Tage nach dem Tod des Soldaten im Geländewagen soll der Verteidigungsminister in Kundus eintreffen. Meyer will eine kleine Ansprache halten. Aber als er morgens in sein Büro kommt, steht da schon Brigadegeneral Weigt und sagt: »Ich löse Sie von Ihrem Dienstposten ab.«

Meyer bittet den General, sich von seiner Truppe offiziell verabschieden zu dürfen. Doch der General muss fürchten, dass ihm Meyer im Beisein des Ministers die Schuld am Tod eines Soldaten gibt. Weigt sagt ihm, dass er im Stabsbereich nichts mehr verloren habe, und Meyer geht auf seine Stube. Als er noch einmal in sein Büro läuft, um seine Dienstpistole zu holen, ist der Waffenschrank schon ausgeräumt. Auch sein Sturmgewehr ist weg. Stunden später sind alle seine Daten auf dem Computer gelöscht, auch sein warnender Brief an den General. In den Tagen danach befragt dessen Stellvertreter die Soldaten nach Meyers Führungsverhalten, ein Aktenordner voller Zeugenprotokolle und dienstlicher Erklärungen. So etwas hat es in Kundus noch nie gegeben.

Jetzt sitzt er da, ein geschasster Kommandeur unter Hirschgeweihen, und er sagt, er habe sich einen Rechtsanwalt genommen. Er habe den Soldaten, die über ihn aussagten, geschrieben, seinem Ermittler auch, er rufe sie immer wieder an, aber selbst auf der Großen Kommandeurstagung habe man ihn geschnitten. Meyer will seine Biografie aus den Trümmern von Kundus retten. Er sagt, er fühle sich manchmal wie Oberst Klein, genauso allein gelassen. Die Bundeswehr hat Meyer in einer Abteilung für ausländische Katastrophenhilfe versteckt: Schneechaos, Brände – es ist die kleinste Abteilung der ganzen Heeresführung.

Herr Meyer, was haben Sie in Kundus erreicht?

»Ein paar Schulen habe ich eingeweiht, das war’s.«

Gibt es einen Kommandeur, der mehr erreicht hat?

»Ich kenne keinen.«

Es ist kalt geworden in Kundus. Der Februar des Jahres 2010 hat ungewöhnlich viel Schnee gebracht, und die Generatoren müssen hart arbeiten, damit es warm wird in den Zelten der Soldaten. Kai Rohrschneider, der Kommandeur des Lagers, hat nicht mehr viel Zeit, an seinem Abschlussbericht zu schreiben. Bald kommt sein Nachfolger, der Kommandeur des 22. Kontingents, das die Soldaten »den 22. Versuch« nennen werden. Wenn Rohrschneider sagen soll, was er dem Neuen hinterlassen möchte, antwortet er: »Eine gute Ausgangslage.« Die hat er kurz vor Weihnachten erkämpft, und er hofft, dass er die Höhe 431 halten wird.

Schon Kommandeur Meyer lag im August 2008 auf diesem kahlen Hügel im Staub und prüfte, wie weit er von dort oben gucken konnte. Seither haben alle Bundeswehrkommandeure versucht, den Hügel einzunehmen. Mehrmals ist es ihnen gelungen. Mehrmals sind sie daran gescheitert, ihn zu halten. Man kann den deutschen Krieg in Kundus auf diesen Ort reduzieren, weil sich vieles an ihm zeigt.

Die Höhe 431 liegt etwa zwölf Kilometer vom Lager entfernt, in einem Gebiet, das die Deutschen fürchten, »Indianerland« nennen sie es. Im Distrikt Chahar Darreh haben sich Aufständische und Taliban verschanzt, auf der Straße werden die Deutschen beschossen, Schotterwege sind durchsetzt von Sprengfallen.

Von der Höhe 431 hat man einen guten Ausblick auf die staubige Ebene, in der all die verwinkelten Siedlungen liegen, in die sich die Soldaten kaum noch wagen. Höhe 431 suggeriert einen Überblick über die verworrene Lage unten, wo einzelne Kämpfer mit Maschinengewehren in der Lage sind, eine deutsche Kompanie stundenlang aufzuhalten, weil die schweren Fahrzeuge der Bundeswehr in den tief eingeschnittenen Tälern nicht wendig genug sind. Steigen die Soldaten ab und versuchen es im Nahkampf, verschwinden die Taliban auf ihren Motorrädern und locken sie in einen Hinterhalt. Verschanzen sich die Taliban in einem Dorf, haben sie ohnehin gewonnen, weil die Deutschen es niemals wagen, einen Ort voller Frauen und Kinder anzugreifen. Versucht es ein Kommandeur mit einem Luftschlag, wie am 4. September 2009, muss er sich hinterher in einem politischen Untersuchungsausschuss verantworten. Auch deswegen ist die Höhe 431 ein Fluchtpunkt: Man beobachtet den Krieg, nimmt aber selten an ihm teil.

Der Kommandeur hat die Höhe 431 zur Chefsache erklärt: ein lehmbrauner Hügel, 40 Meter hoch, 70 Meter breit, Tag und Nacht von 40 deutschen Soldaten gesichert, die sich oben eine Notunterkunft gebaut haben, befestigt mit Sandsäcken und einem Wall. Am Fuße des Hügels: Dixi-Toiletten. Der einzig sichtbare deutsche Erfolg in der Schlacht um Kundus, geführt mit 1300 Soldaten, Mörsern, Schützenpanzern, hoch entwickelten Aufklärungsdrohnen.

Die Deutschen, so trostlos ist in Kundus die Lage, können diesen Kampf nicht gewinnen. Aber sie haben auch nicht den Mut zu kapitulieren. Wenn es bald wieder Tote geben sollte, dann wird es vielleicht um die Verteidigung dieses bedeutungslosen Hügels gegangen sein. Zeichnet man auf einer Karte der Provinz Kundus alle Orte ein, die unter der Kontrolle der Bundeswehr stehen, in einer Region, dreimal so groß wie das Saarland, dann bleiben am Ende nur das Feldlager übrig, der benachbarte Flugplatz – und der Hügel 431. Dafür sollen Soldaten ihr Leben einsetzen?

Der Krieg beginnt schon an Rainer Buske zu zerren, kurz nachdem er Kommandeur Meyer in Kundus abgelöst hat. Nacht für Nacht schicken die Taliban jetzt ihre Raketen. Pünktlich nach Einbruch der Dunkelheit, pünktlich nach dem Abendgebet. Erst das lang gezogene Jaulen, drei bis vier Sekunden, dann die Detonation. Aus drei Kilometer Entfernung kommen die chinesischen BM-1-Geschosse, im Gefechtskopf vier Kilogramm Sprengstoff.

Nachts schreckt Buske bei jedem Geräusch hoch, die ständige Anspannung, die Migräneattacken. Nur noch durchhalten, denkt er.

»Das Schlimmste«, sagt Buske, »war die Ohnmacht.«

Buske sitzt in einem Reihenhaus in London-Northwood, ein großer, nachdenklicher Mann in Tarnfleckanzug, die schweren Stiefel im Flur sauber aufgestellt. In der Einfahrt parkt sein Kleinwagen, hinter dem Haus liegt still der Garten. Die Bundeswehr hat Buske zum Nato-Verbindungsoffizier in England berufen, ihm eine Ehrenmedaille in Silber verliehen, und bei der Zeremonie zu seinem Abschied nannte man ihn »einen der feinsten und edelsten Offiziere in unseren Reihen«.

Buske ist blass. Im Wohnzimmer liegen Erinnerungsstücke aus Afghanistan wie Mitbringsel aus einem fernen Urlaub: eine muslimische Gebetskette, ein Schachbrett. Nachts, erzählt er, rissen ihn die Flugzeuge im Landeanflug auf Heathrow aus dem Schlaf, ihre gedrosselten Turbinen klängen wie die Raketen der Taliban. Da sind die Flashbacks. Und immer wieder diese Fragen: War es das wert? Was ist geblieben von unseren Zielen?

»Bloß keine Toten«, sagt Buske, »das war am Ende mein Ziel.«

Oberst Rainer Buske, Soldat im 36. Berufsjahr, ist ein bescheidener und überlegter Mann. Drei Jahre hat er noch bis zur Pensionierung. Im Kosovo wurde er angeschossen, in Kundus ist er in jenen Monaten bereits zum zweiten Mal Kommandeur.

Im Oktober 2008 drücken noch immer 30 Grad Hitze, und immer mehr Terroristen sickern nach Kundus ein, frisch ausgebildete Kämpfer mit gefüllter Kriegskasse. Buske sorgt sich um seine Männer, seine »Jungs«, wie er sie nennt. Immer häufiger sitzen sie jetzt mit Angst in den Augen in seinem Büro, junge Burschen, die vor Kurzem noch zur Schule gingen. Beim Kontingentfest greift er sich eine E-Gitarre und spielt Pink Floyd. Buske will Zuversicht vermitteln. Ein Kommandeur, glaubt er, muss in erster Linie Vorbild sein.

Es ist ein diesiger Sonntagmorgen, der 20. Oktober 2008, als sich ein Bundeswehrkonvoi über die staubigen Feldwege in Richtung des Dorfes Haji Amanullah schiebt. Aufständische sollen sich dort verschanzt haben. Immer wieder sind die Deutschen aus dieser Richtung beschossen worden. Jetzt will Buske die Schützen zu fassen kriegen.

Um drei Uhr früh ist er mit 160 Fallschirmjägern aufgebrochen. Normalerweise bleibt er im sicheren Gefechtsstand, aber dieses Mal will Buske ein Zeichen setzen.

In den nächsten Stunden sichern seine Leute die Zufahrtswege zum Dorf, während die afghanische Armee die Häuser durchsucht. Es ist schon Mittag, als Buske zum Aufbruch zurück ins Lager mahnt. Die Bundeswehr auf einem Feldweg – das ist ein Ziel, das sich schnell herumspricht.

Doch dann findet einer der Sicherungsposten eine Sprengfalle am Wegesrand, sie könnten jetzt einfach weiterfahren, aber Buske weist den Spezialisten an, sie noch zu entschärfen – auch aus Sorge um Zivilisten. Es dauert zehn Minuten, zwanzig, dreißig. Buske weiß, dass afghanische spotter überall stehen und mit ihren Handys Taliban informieren. Eine Gruppe von Kindern sammelt sich um den Konvoi, Buske sieht auf seine Uhr, die Kinder fragen nach Süßigkeiten und Kugelschreibern, Soldaten verteilen Wasserflaschen. Niemand bemerkt den Fahrradfahrer, der sich nähert.

Dann knallt es.

Buske sieht, wie die Wucht der Explosion den Mann auf dem Rad in Stücke reißt. Ein Laster fängt Feuer, die Hitze lässt die Munition in seinem Inneren hochgehen. Buske weiß, dass im Führerhaus noch zwei seiner Männer sind. Seine Leute wollen hin, aber er hält sie zurück. Dann rennt er selbst los, gemeinsam mit einer Sanitäterin. Sie bergen nur noch zwei Tote.

Am Ende legen seine Soldaten fünf Kinderleichen und die Überreste der beiden Toten ins verkohlte Gras am Straßenrand. Buske hyperventiliert, das Schlachtfeld brennt sich ihm ein: das aufgerissene Dach des Lasters, Gliedmaßen, blutverschmierte Plastiksandalen. Die Reste des Fahrrads.

»Ich hätte einfach weiterfahren können«, sagt Buske jetzt in London.

Als er damals zurück ins Lager kommt, funktioniert er wie mechanisch. Potsdam will Details. Der Verteidigungsminister ebenfalls. Dann sammelt Buske sich und wählt 06332, die Vorwahl für Zweibrücken, Heimat der Gefallenen. »Herr Behlke, hier spricht Kommandeur Buske aus Kundus. Ihr Sohn…«

Schweigen am Ende der Leitung.

Drei Tage später steht Buske auf dem Appellplatz in Kundus, vor ihm die Zinksärge, eingehüllt in die deutsche Flagge, zwei Helme, das Kondolenzbuch. Zwei Staatssekretäre sind da, der Brigadegeneral, alle Soldaten, das gesamte Lager.

Es ist Buskes erste Trauerfeier. Er lässt Tears in Heaven von Eric Clapton spielen. Buske tritt hinter das Rednerpult, strafft sich, neben ihm die Fotos der beiden Toten. »Gemeinsam mit ihren Fallschirmjägerkameraden haben sie Nacht für Nacht für unsere Sicherheit gesorgt«, beginnt er. »Stabsunteroffizier Patrick Behlke und Stabsgefreiter Roman Schmidt.«

Behlke und Schmidt, 25 und 22 Jahre alt.

»Ich hätte es verhindern müssen«, sagt Buske ins Mikrofon, da laufen ihm schon die Tränen über das Gesicht. Am Ende bricht seine Stimme, er fragt: »War es das wert?«

Als Buske ankam in Kundus, da erfuhr er schon bald, dass der Gouverneur Regierungsmitgliedern 200.000 Dollar für sein Amt bezahlt habe. Dass die afghanischen Richter nicht lesen und schreiben können und ihre Urteile Verhandlungssache sind. Dass die ersten Schulen schon wieder schließen, dass es in manchen Bezirken keine Polizisten gibt. Dass es an Ärzten und Lehrern fehlt.

Wo, fragt Buske sich, ist das zivile Gegenstück zum Militär? Wo sind deutsche Richter, deutsche Polizisten?

400 Polizistenausbilder haben die Deutschen für ganz Afghanistan versprochen, aber jetzt gibt es in Kundus ganze vier. Und das Geld, das Berlin schickt, versickert irgendwo zwischen Kabul und Kundus.

Immer wieder muss Buske den Bürgermeistern erklären, warum die Brücke über den Kundus-Fluss immer noch nicht gebaut wurde. Das Wasserkraftwerk. Die Hauptstraße. »Ich leite das Gesuch an die zuständigen Stellen weiter«, sagt er. »Vielleicht nächsten Monat.«

Es ist, als ob er in Kundus die Zeit absitzt. Als ob man in Deutschland vergessen hat, warum man hier ist.

Buskes Spielraum wird immer enger. Die Taliban zwingen die Afghanen zur Kollaboration, die Wracks der zersprengten Fahrzeuge abseits des Paradeplatzes häufen sich und werden nicht ersetzt. Von seinen Soldaten dürfen nur 200 auf Patrouille. 200 für eine Provinz mit 770.000 Einwohnern. Immer wieder fordert Buske mehr Truppen an, mehr Ausbilder für das afghanische Militär.

Am Ende hat Buske nicht einen Terroristen festgenommen. Er hat kein einziges Waffenlager ausgehoben. Aber 50 Meter von Buskes Gefechtsstand mitten im Lager zerfetzt eine Rakete das Gästehaus. 70 Raketenangriffe zählen sie, 15 Selbstmordattentäter draußen, wöchentlich einen Sprengstoffanschlag.

Buske tut das Einzige, was in seiner Macht steht: Er verstärkt das Lager mit schweren Wällen, verstärkt Außenwände und Unterkünfte. Er zieht den Schutzwall immer höher. Die Deutschen in Kundus halten jetzt still wie eine Maus in der Falle. Sie, die den Afghanen Schutz versprochen haben, sind nur noch damit beschäftigt, sich selbst zu schützen.

Als Buske aus Kundus zurückkehrt, lässt ihn die Erinnerung an das verbrannte Fleisch nicht los. Die Fragen nach seiner Verantwortung, seiner Schuld. Sieben Wochen lang schweigt er, bis er das erste Mal mit seiner Frau darüber sprechen kann. Er macht eine Therapie an der Nordsee.

»Schon irrational«, sagt er. »Dass mich der Tod im Krieg so überrascht hat.« Es fällt ihm immer noch schwer, über die Zeit in Kundus zu sprechen. Doch manchmal muss er jetzt Vorträge halten über das Lager. Weil Oberst Klein ausfällt, buchen sie ihn.

Klein tue ihm leid, sagt Buske. Klein habe abgenommen, er sei schlagartig gealtert, erzählen sich die Kommandeure. Klein gehe kaum mehr aus dem Haus, seine Kinder litten in der Schule. Klein ist jetzt ein Symbol. Für all das, was zu einem Krieg dazugehört: Verhängnis, Schuld und Tod.

Buske und Klein sind Soldaten der alten Bundesrepublik, einer Generation, die im Kalten Krieg ausgebildet wurde, die damit rechnete, im Umkreis ihrer Kasernen das Land zu verteidigen, nicht am Hindukusch, wo Bauernjungen für ein paar Dollar töten. Wo Esel als Bomben präpariert werden und einbeinige Greise sich an Checkpoints in die Luft sprengen.

»Es war wie im Mittelalter«, sagt Buske. Wer zuerst schießt, überlebt. Und wenn wieder mal Abgeordnete auf Kurzbesuch ins Lager kamen und er ihnen die Fotos der ausgebrannten Wracks zeigte, dann schwiegen sie kurz und sprachen dann von Demokratie und fragten nach Mädchenschulen.

Buske schüttelt den Kopf.

Gegen Ende seines Einsatzes traf er auf dem Anwesen des Mannes ein, den sie in Kundus den Schattengouverneur nennen: Mir Allam. Sein Name taucht in fast allen Geheimdienstberichten auf. Mir Allam, der ehemalige Warlord, ist gehasst und gefürchtet. Bis die Nordallianz nach Kundus kam, hat er die Stadt gegen die Taliban verteidigt, abgeschlachtet in Massen habe er sie, heißt es. Die Öffentlichkeit meidet er, nur manchmal fährt er mit einem seiner Pick-ups durch Kundus, auf der Ladefläche seine Entourage und eine Panzerfaust. Die Straße, die zu seinem Haus führt, heißt Mir Allam Khan Road, benannt nach ihm. Mir Allam, dem Herrscher.

Nach Kriegsende gab er seine 50 russischen Panzer ab, sein Geld verdiente er jetzt mit Heroin und dem Verkauf seines Waffenlagers, russische Kalaschnikows, 300 Dollar das Stück. Seine Milizen vermietet er. Zum Beispiel, um die Bauprojekte der Ausländer zu schützen.

Mir Allam servierte Buske Tee, dann zeigte er ihm seine Buskaschi-Hengste, 50.000 Dollar das Stück. Er präsentierte stolz seine Söhne.

Buske wusste, dass Mir Allam lange auf diese Gelegenheit hingearbeitet hatte. Buske ahnte, dass auch Mir Allam Raketen ins Lager schickte. Er wusste, dass er mit ihm spielte.

Was Mir Allam für die Sicherheit in Kundus tun könne, fragte Buske ihn.

Mir Allam lächelte. Sein Preis sei nicht Geld.

Was er sich vorstelle, fragte Buske.

Der Posten des Polizeichefs würde ihn reizen, sagte Mir Allam.

So weit könne er nicht gehen, entgegnete Buske.

Als Aufbauhelfer war er gekommen und ist als Veteran gegangen. »Ich könnte Geschichten vom Krieg erzählen«, sagt er, »aber Afghanistan interessiert niemanden in Deutschland.« Als er neulich morgens in der Einfahrt den englischen Müllmann traf, klopfte der ihm auf seine Uniformschulter: »Hey man, thank you.« In Deutschland, so nimmt er es wahr, gilt er vielen als Besatzer.

Buske sagt: »Es geht doch darum, ob Afghanistan eine Zukunft hat. Wenn wir es ernst meinen, müssen wir 20 Jahre dort bleiben, mindestens.«

Es ist der 6. April 2009, als die Bundeskanzlerin im Büro des Kommandeurs von Kundus sitzt. Wieder gibt es einen Wechsel: Auf Buske folgte Uwe Bennecke. Und auf Bennecke folgt an diesem Tage Oberst Klein. Er hat Angela Merkel gerade vom Hubschrauberlandeplatz abgeholt, jetzt führt ihr Bennecke, der scheidende Kommandeur, die Lage mithilfe einer PowerPoint-Präsentation vor. Merkel hat drei Stunden Zeit, der Kommandeur muss sich kurz fassen. Es sei wichtig, die »hearts and minds« der Bevölkerung zu erreichen, referiert er und erwähnt die Fortschritte beim »partnering« mit der afghanischen Armee. Er spricht wie ein Sozialarbeiter. In seinen dreiminütigen Vortrag baut er Fotos ein, die lachende Mullahs zeigen, denen er Gebetsteppiche geschenkt hat; Fotos vom neuen Frauensender in Kundus-Stadt, dem er Generatoren gestiftet hat. Frauen arbeiten wieder, sagt er, dies sei eine gute Nachricht. Er glaubt, das könne die Kanzlerin als Frau interessieren.

Uwe Bennecke war das, was die Soldaten in Kundus einen »glücklichen Winterkommandeur« nennen. Es gab keine Toten, keine »Vorkommnisse«. Bennecke konnte etwas erzeugen, was der Regierung in Berlin heilig ist: Unauffälligkeit. Er konnte den Krieg verstecken vor den Augen des Volkes.

»Gemeinsam waren wir stark und erfolgreich«, schreibt Bennecke in das Abschlussbuch seines Kontingents. »Wir wollten etwas bewegen, auf der Grundlage unserer Vorgänger aufbauen und unseren Erfolg in Kundus ausbauen. Das ist uns gelungen.«

Sobald Bennecke zurück in Deutschland ist, wird er im Verteidigungsministerium das Büro eines Referatsleiters beziehen. Ein Aufstieg.

Wer verstehen will, warum sich die Lage in der Provinz Kundus von Jahr zu Jahr verschlimmert hat, sollte sich auch das vor Augen führen: Die Wahrheit befördert keine Karrieren. Die Wahrheit von Kundus kennt keine Profiteure.

Als Oberst Klein im Feldlager das Kommando übernimmt, werden seine Soldaten bald in achtstündige Gefechte verwickelt, sie stehen bislang unbekannten Formationen von 50 bis 100 Kämpfern gegenüber, sie müssen von amerikanischen Kampfbombern aus Hinterhalten befreit werden. Manche Offiziere beschaffen sich heimlich Bücher über die Taktik der israelischen Armee im Guerillakrieg, andere legen immer noch liebevolle Profile afghanischer Siedlungen an, zehnseitige Dokumente, in denen sie vermerken, ob die Bewohner eine »landestypische Trockentoilette« benutzen. Aber kein Kommandeur wagt es, die Lage zu beschreiben als das, was sie ist: ein Drama.

Das Drama hat eine politische Dimension, weil sich eine Kaskade der Verschleierung durchsetzt, die vom Feldwebel in Kundus bis zur Kanzlerin reicht. Die Lage hat sich stark verschlechtert, aber die Analyse der Politiker ändert sich kaum. Sie reden über den folgenschweren Fehler des Obersts Klein, aber niemand will den Versuch unternehmen, den Sinn dieses Einsatzes verständlich zu erklären. Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt, sagte der Verteidigungsminister Peter Struck vor sechs Jahren. Gilt das noch? Wann wäre der Einsatz gelungen und zu Ende – in zehn Jahren, fünfzig, hundert? Ein Kommandeur, der aus Berlin keine Argumente hört, muss glauben, in Kundus die Operation Sisyphos zu leiten.

Im Februar 2010 wird Kommandeur Rohrschneider hoher Besuch angekündigt. Der Kommandeur wird ihn in seinem Gartenhäuschen empfangen, das er afghanisch eingerichtet hat, mit Sitzkissen und Teetischen. Der Besucher wird sich mit »Herr General« ansprechen lassen. Gerade erst hat er drei Al-Qaida-Kämpfer gefangen und sie den Amerikanern verkauft, gegen Cash.

Im Jahr 2014 wolle die Bundeswehr abziehen, hat die Kanzlerin erklärt. Die Bundeswehr hat das rote Kreuz von ihrem Sanitätsfahrzeug abmontiert, weil es immer als Erstes beschossen wird, und in den Nächten tasten sich die Soldaten mit Taschenlampen durch das stockfinstere Lager; die Fenster ihrer Zelte haben sie abgeklebt – kein Lichtstrahl darf dem Feind den Weg weisen. Der Mann vom Auswärtigen Amt kontrolliert seine Bauprojekte, indem er sich von Einheimischen Polaroidfotos bringen lässt. Jeder vierte afghanische Polizist wird in seinem ersten Dienstjahr ermordet. Die Deutschen trauen sich nur noch nach Kundus-Stadt. Der Rest: Indianerland.

Als Kommandeur Rohrschneider vor wenigen Monaten am Kundus-Fluss das Bauschild einer neuen Brücke aufstellen ließ, umringte ihn ein Wall aus Panzern. 60 Mann sicherten die Ufer. Es gibt feierliche Bilder von dieser Szene, der Gouverneur war da und lokale Würdenträger. Es sind optimistische Bilder, Bilder ohne Panzer. Doch weil gleich am nächsten Tag der Beschuss anfing, ist danach kein Stein gesetzt worden.

Der Besucher, auf den Kai Rohrschneider wartet, ist Mitte 50, trägt einen ungepflegten Bart und hat eine Vorliebe für Whisky. Er kann nicht lesen und nicht schreiben, aber das Handwerk des Krieges beherrscht er wie kein anderer. 300 Mann hat Mir Allam, der Warlord, inzwischen unter Waffen. Er hat bereits begonnen, in einigen Dörfern Ruhe zu schaffen. Doch seine Milizen, heißt es, würden unruhig. Die Deutschen verhandeln nur über Bauaufträge, sie wollen kein Geld geben und keine Macht. Mir Allam aber will noch immer Polizeichef werden, ein Mann, den sie »den Schlächter von Kundus« nannten.

Den letzten Termin im Feldlager der Deutschen ließ Mir Allam kurz vorher platzen. Er hat Grund, sich ihnen überlegen zu fühlen. Er ist so etwas wie die letzte Hoffnung der Bundeswehr: ein Kriegsverbrecher mit einem Leberproblem und vier Frauen.

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Anita Blasberg


Anita Blasberg, geboren am 9.6.1977 in Düsseldorf, studierte Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Psychologie und Germanistik in Düsseldorf. Anschließend besuchte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 2006 ist Blasberg Autorin für DIE ZEIT, sie wohnt in Berlin. Auszeichnungen: 2008 Erich-Klabunde-Preis für sozial engagierten Journalismus und Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus.

Stefan Willeke


Stefan Willeke hat Geschichte und Politik studiert. Seit 1996 arbeitet er bei der Wochenzeitung Die Zeit in Hamburg. Er hat zwei Mal den Kisch-Preis und einmal den Nannen-Preis gewonnen.
Dokumente
Das Kundus-Syndrom

erschienen in:
Die ZEIT,
am 04.03.2010

 

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