Der
lange Abschied
Erst macht man
sich noch lustig: Das Alter, da wird man vergesslich. Doch irgendwann
wird die Krankheit zur vielleicht letzten großen Bewährungsprobe
einer Beziehung. Der Welt-Alzheimer-Tag am 21. September soll
öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Problem lenken, das für viele
Paare oft jahrelang der beschwerliche Alltag ist.
Von Thorsten Fuchs,
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 18.09.2010
Wo ist er denn nur
hin, ihr Mann? Er kann doch nicht einfach verschwunden sein.
Schließlich sind sie verheiratet, seit 36 Jahren, und da steht er
doch vor ihr. Die Haare weiß, die Augen wässrig, der Rücken leicht
gebeugt, älter ist er geworden, natürlich, aber das ist er, das ist
Heinrich, aber ja. Doch wie passt das zusammen damit, dass er so oft
jemand anders zu sein scheint? Dass von dem Mann, den sie liebte, so
wenig geblieben ist?
Das ist das Rätsel,
vor dem Renate Hogreve steht. Das Rätsel, auf das sie keine Antwort
weiß.
Ein Morgen im
August, Renate Hogreve knöpft das Hemd ihres Mannes zu, zieht seine
Hose hoch, schließt den Gürtel. Er steht unsicher, traut seinen
wackligen Beinen nicht, seine Hände greifen nach ihren Oberarmen.
Sie zieht ihn an, wie jeden Morgen.
Dann durchbricht
etwas das Ritual. Er beginnt sie zu streicheln, sanft fahren seine
Finger über ihre Haut, eine Geste aus einer anderen Zeit. Sie schaut
aus den Augenwinkeln auf seine Hände, will ihn ermutigen, sagt:
„Ach, nimm mich doch mal wieder in die Arme!“
Da hält er inne,
schaut sie an, sehr ernst. „Ach, du verrückte Frau“, sagt er,
und zieht seine Arme zurück. Für einen Moment war der Mann, den sie
liebte, wieder da. Nur um dann gleich wieder zu verschwinden.
Es sind die Ärzte,
die eine Antwort auf das Rätsel wissen. Alzheimer nennen sie die
Krankheit, an der Heinrich Hogreve leidet. Mehr als 1,2 Millionen
Demenzkranke gibt es in Deutschland. Mehr als die Hälfte von ihnen
wird von Angehörigen gepflegt. Wie oft es die Partner sind, die sich
um die Kranken kümmern, darüber gibt es keine Statistik. Fest steht
nur, dass es auch ihr Leben massiv verändert. Dass wenig bleibt, wie
es früher war. Bei Michaela El-Salamony und ihrem Mann Sayed ist das
so, dem früheren Olympiaturner, bei Georg Hamann und seiner Frau
Edith, die sich schon als Kinder kannten und von denen diese
Geschichte auch noch handeln wird, und natürlich bei Renate und
Heinrich Hogreve, dem Bauern.
Es begann, als der
Pferdestall abbrannte. Als sei da etwas in seinem Kopf passiert, sagt
Renate Hogreve. Acht Jahre ist das her. Danach wurde es schlimmer. Er
kam vom Feld und hatte Dinge vergessen. Seine Tasche, einen Anhänger,
ach, wo war das, sagte er und konnte sich nicht erinnern. Seit 40
Jahren hatte er Trompete im Musikzug der Feuerwehr gespielt, immer
war er dabei, von Jugend an, aber nun konnte er auf einmal die Noten
nicht mehr lesen. Die Linien verrutschen mir, sagte er und hörte
auf. Er fiel beim Fahrradfahren um, einfach so. Er vergaß immer
mehr, das, was man ihm vor fünf Minuten gesagt hatte und das, was er
selbst vor fünf Minuten gesagt hatte. Sein Gang wurde unsicher. Am
liebsten wollte er ständig liegen, immer nur liegen.
Irgendwann fällten
die Ärzte ihr Urteil: Demenz. Ein unumkehrbarer Abbau seiner
geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Das heißt: Es wird immer
schlimmer, nie besser. Hat er verstanden, was ihm bevorsteht? Hatte
er ein Bewusstsein für das, was mit ihm geschieht? Er habe nie
darüber geredet, sagt seine Frau. Es gab nur diese Momente.
Einmal sitzt er am
Tisch, er soll die Tabletten nehmen, die vor ihm liegen. „So viele
Pillen“, sagt er auf einmal. „Warum helfen die denn alle nicht?“
Dann schaut er wieder aus dem Fenster.
Seit 160 Jahren lebt
Heinrich Hogreves Familie auf dem Hof zwischen Hannover und Celle,
dem Immenhof. Renate zieht zu ihm aufs Land, sie bekommen zwei Söhne,
und gemeinsam regeln sie den Wandel. Machen aus dem Bienenhof eine
Landwirtschaft mit 20 Zuchtsauen, Kühen und Pferden. Und als dieser
Hof überrollt wird von der Konkurrenz der immer größeren Höfe,
steigen sie wieder um. Machen aus dem alten Kuhstall Wohnungen,
werden zu Pionieren des „Urlaubs auf dem Land“, und eröffnen ein
Hofcafé. Den Kuchen backt Renate Hogreve selbst. Wo früher die
große Küche war, lagern nun Kleider. Der Umbau ist noch im Gang.
Das Bad ist schon hinter dem Schlafzimmer, sodass er es leicht
erreichen kann. Es ist der nächste, der letzte große Umbruch. Der,
den sie allein bewältigen muss, obwohl er bei ihr ist.
Manchmal durchsucht
Renate Hogreve ihr gemeinsames Leben nach Spuren. Nach Zeichen, die
auf all dies hindeuteten. Die Müdigkeit, die ihn auch früher
manchmal befiel und die seinen Kopf unversehens auf die Tischkante
sinken ließ, um zu schlafen. Oder die Schroffheiten, die es auch
früher mal gab. Die Alzheimer-Krankheit kann auch schon in jüngeren
Jahren auftreten, wenn auch selten. Bei den 45- bis 65-Jährigen sind
0,1 Prozent von Demenz betroffen. Aber damals fanden die Ärzte bei
Heinrich Hogreve nichts. Überarbeitung, sagten sie nur. Heute ist er
77. Da ist Demenz nichts so Seltenes mehr. Von den 80- bis
84-Jährigen zeigen 13 Prozent die Symptome.
Es gibt Momente, in
denen kann sie mit ihrem Mann lachen. Einmal im Sommer zum Beispiel
gehen sie spazieren, und er besteht darauf, im Maisfeld auszutreten.
Sie lässt ihn, nimmt es als gutes Zeichen, dass er Eigenständigkeit
anmeldet. Aber dann stürzt er, fällt mit dem Kopf in den weichen
Boden, und als er wieder steht, ist sein Kopf schwarz von der Erde.
„Wie ist denn das nun wieder passiert?“, fragt er prustend, und
die anderen Spaziergänger schauen die Lachenden an.
Aber da sind auch
die anderen Momente. Die, in denen nichts von der Fröhlichkeit
bleibt. Es ist Montagnachmittag, der Wagen des Pflegedienstes hält
vor dem Hof, er bringt Heinrich Hogreve zurück. Zwei Tage in der
Woche ist er bei der Tagespflege, das macht zwei Tage Auszeit für
Renate Hogreve. Ihr Mann ist in die Pflegestufe drei eingruppiert,
das heißt: Er braucht mehr als fünf Stunden Pflege am Tag. So
besagen es die Kriterien der Kassen, aber was bedeutet das schon?
„Mein Mann braucht rund um die Uhr Hilfe“, sagt sie.
An den zwei Tagen
tut sie das, wozu sie sonst nicht mehr kommt. Freundinnen treffen,
rausgehen und neuerdings Halsketten basteln. Das Café, die Pension,
all das hat sie aufgegeben, jetzt bastelt sie Schmuck, Halsketten,
aus edlen Steinen in hellem Blau, glänzendem Dunkelrot oder tiefem
Grün, schöne Dinge in einem nicht immer schönen Alltag. Sie hat
ihren Mann ins Wohnzimmer geführt, in kleinen, unsicheren Schritten
ist er an ihrer Seite gegangen. Jetzt liegt er auf der Couch, und
gegen die Kälte hat er eine Wärmflasche. Ihm ist fast immer kalt,
auch im Sommer.
Renate Hogreve
erzählt von kleinen Erfolgen. Davon, dass sie ihre Ketten in einem
Kloster ausstellt, und davon, dass sie sie im Oktober auf einem Markt
verkaufen darf. „Ich werde einen eigenen Stand haben“, sagt sie
stolz. Heinrich Hogreve liegt auf der Seite, den Blick aus dem
Fenster gerichtet, scheinbar abwesend. Plötzlich sagt er: „Warum
machst du das immer, für die anderen Leute, verrücktes Weib?“
Jetzt schweigt
Renate Hogreve.
Es ist die
Krankheit, sagen Wissenschaftler. Aggressionen, Brutalität, alles
das kann Alzheimer bei Menschen zum Vorschein bringen, selbst wenn
ihnen all das zuvor fremd war. Psychologen vermuten, dass die Wut
eine Folge der Angst ist, der Hilflosigkeit. Bewiesen ist nichts. Es
gibt nur wenige Nachrichten aus dieser Innenwelt eines Kranken.
„Meine Gedanken sind verworren, entbehren jeglicher Ordnung. Ich
spüre eine Wut, einen Zorn in meinem Kopf. Sie ist nicht
zielgerichtet, hat keinen genauen Gegenstand. Diese Wut richtet sich
weithin gegen mich selbst.“ So hat es jemand beim Beginn der
Krankheit beschrieben, ein amerikanischer Ingenieur namens Larry
Rose. Diese Wut kennen viele Partner von Alzheimer-Kranken. Nur dass
sie sich nicht immer nur gegen die eigene Person richtet.
„Es
ist, als würde jemand einen Schalter umlegen“, sagt Renate
Hogreve, „und auf einmal ist da eine andere Person.“
Wenn Sayed
El-Salamony auf der Straße steht und jemand kommt vorbei, dann
klatscht er in die Hände. Ist er mit seiner Frau im Supermarkt,
fragt er fremde Menschen: „Wie heißt du?“ Und wenn Besuch kommt,
steht er im ersten Stock und klopft unruhig an die Scheibe, so lange,
bis man hochsieht und zurückwinkt. Dann ist er zufrieden. Wie ein
Kind, sagt Michaela El-Salamony.
Dabei war er doch
immer der Ältere, der Reife, fast 20 Jahre liegen zwischen ihnen.
Ende 30 war er, als sie sich bei der Arbeit kennenlernten, die
Sekretärin aus Hannover und er, der Ingenieur, der ehemalige
Olympiaturner aus Ägypten. Und jetzt ist alles anders.
Sayed El-Salamony
hatte sich den Kopf gestoßen, zwei Jahre ist das her, nichts
Gravierendes, so dachten sie zunächst. Dann fanden die Ärzte eine
Hirnblutung. Dreimal operierten sie ihn. Danach war er nicht mehr
derselbe. Diagnose: Demenz. Manchmal kann sie auch durch Verletzungen
ausgelöst oder beschleunigt werden. Sayed El-Salamony geht im
Wohnzimmer auf und ab. Kurze, ruckartige Schritte.
„Alles
klar, Schatz?“, fragt er.
„Ja,
alles klar, Sayed.“
„Ich
geh mal ans Fenster, da vorne, ans Fenster.“
„Ist
gut, Sayed.“
„Alles
klar, Schatz?“
Es gibt wenig Stille
bei Sayed El-Salamony und keinen Stillstand, beständig geht er im
Erdgeschoss des Hauses in Hannover-Bothfeld auf und ab. Er vergisst,
dass er die Frage eben schon gestellt hat, und manchmal erscheint ein
ganzer Satz nur mehr wie ein Kommunikationsreflex. „Und wie heißt
du, Uta?“, hat er neulich gefragt.
„Du
sagst es ja selbst: Uta.“
„War
ja nur Spaß. Nur Spaß“, sagt er dann.
Es ist das
Kurzzeitgedächtnis, das bei einer Demenz am stärksten betroffen
ist. Sie essen ein Stück Schokolade, und binnen Minuten wissen sie
es nicht mehr. Aber was vor 30 Jahren war, das wissen die Patienten
manchmal noch ganz genau. Wenn im Radio die alten Hits laufen, singt
Sayed El-Salamony mit. „I just called to say I love you ...“ Und
die alten Bilder, die kennt er auch noch.
Sayed El-Salamony
als junger Mann, im Turnerdress, am Barren, in Schwarz-Weiß. Mit
einem Arm stützt er sich auf einem der Holme ab, die Muskeln bis in
alle Fasern angespannt, den anderen Arm hat er zur Seite gereckt, die
Beine in die Höhe, über ihm nur der Himmel.
„Sie
haben am Barren geturnt?“
„Zum
Beispiel.“
„Noch
mehr? An weiteren Geräten?“
„Das
mit der einen Stange, wie heißt das?“
„Reck.“
„Ja,
zum Beispiel, ja.“
Er hat tatsächlich
am Reck geturnt, am Boden, an den Ringen, er war für Ägypten bei
den Olympischen Spielen, 1952. Das weiß er noch. Nur der Name der
Stadt sagt ihm nichts mehr. Helsinki.
Das Wohnzimmer ist
voller Andenken. Mitbringsel von den gemeinsamen Reisen, Geschenke
von Freunden aus der ganzen Welt. Kleine Figuren, Becher, eine
Wasserpfeife, Bilder. Sie sind viel zusammen gereist. Indien,
Australien, China, Burma, und natürlich alle zwei Jahre nach
Ägypten, zu seiner Familie. Michaela El-Salamony war immer von der
Ferne begeistert. Seit ihrer Jugend pflegt sie Briefkontakte nach
Australien und Indien, „da haben sich richtige Freundschaften
entwickelt“, sie schwärmt von ihrer Arbeit bei der Weltausstellung
in Hannover. Jetzt ist sie froh, wenn sie mal mit einer Freundin in
den Zoo kann, weil eine Hilfe ihren Mann kurz betreut. „Das ist für
mich wie der Himmel auf Erden.“
Immerhin hat sie
Zeit. Vor zwei Jahren hat die Firma, bei der sie gearbeitet hat,
Pleite gemacht, ein Biotechnikunternehmen. „Der Mitarbeiter mir
gegenüber hat an Alzheimer geforscht. Was für eine Ironie.“
Zuerst bekam Sayed keine Pflegestufe. Als der Medizinische Dienst
kam, gab er den Charmeur von Welt, seine alte Paraderolle. Dann kamen
die Gutachter erneut, nun ist er in die Stufe zwei eingruppiert. 420
Euro erhält sie im Monat für die Pflege. So geht es finanziell
einigermaßen. Belastender ist etwas anderes. „Am schlimmsten“,
sagt Michaela El-Salamony, „ist die Abhängigkeit.“
Es gibt viele
Ratschläge, wie sich Angehörige gegenüber Demenzkranken verhalten
sollen. „Vermeiden Sie Kritik. Bleiben Sie ruhig, und sprechen Sie
sanft. Erkennen Sie seine Wünsche und seine subjektive Weltsicht an.
Schaffen Sie Zeiten der Ruhe und Entspannung.“ Es sind hilfreiche
Tipps - und zugleich hohe Ansprüche, die zu den vielen anderen
Aufgaben dazukommen. Pflegende Partner stehen unter enormem Druck,
sagen Experten. Sie geben ihre Hobbys auf, verlieren Freunde, werden
selbst häufig krank und nehmen Medikamente.
Als Georg Hamann ins
Krankenhaus kam, vermuteten die Ärzte zunächst einen Herzinfarkt.
Dann stellten sie fest, dass es ein Kreislaufkollaps war. Die
Ursache: Erschöpfung.
Es war kurz nach der
goldenen Hochzeit, da entdeckten die Ärzte bei Edith Hamann die
Demenz. Es begann nach einem Schlaganfall, noch im Krankenhaus. Sie
schüttete pausenlos Süßstoff in ihren Kaffee. Wusste nicht mehr,
warum sie im Krankenhaus war. Lächelte und wirkte zugleich, als habe
sie sich von dieser Welt irgendwie entfernt. 50 Jahre lang hatte sie
für ihren Mann gesorgt. Hatte den Haushalt erledigt, die Söhne
großgezogen und ihrem Mann die Brote geschmiert, die er mit zur
Arbeit nahm. Georg Hamann war Malermeister. Er wusste nicht mal, wie
man Kartoffeln kocht. Jetzt, mit über 70, würde er es lernen
müssen, das war ihm klar. Das und noch vieles mehr.
„Die
Rollen“, sagt er, „haben sich völlig verkehrt.“
Georg Hamann ist
einer der wenigen Männer, die ihre Frauen pflegen. Dabei erkranken
mehr Frauen an Demenz als Männer. Nicht weil sie anfälliger wären,
sondern weil sie länger leben. Aber meist sind die Männer dann
schon tot. Oder sie trauen es sich nicht zu. Ich muss das schaffen,
dachte sich Hamann.
Also begann er zu
fragen. Wie macht man Gulasch? Wie sortiert man Wäsche? „Ich habe
einfach alle angesprochen.“ Nachbarn, Freunde. Er wurde Hausmann,
Pfleger, und dann gab es noch die Rolle, die ihm am schwersten fiel.
Früher war es seine Frau, die die Entscheidungen traf. Die im
Zweifel sagte, welches Sofa gekauft, wohin gereist und was gekocht
wird. Georg Hamann war der Angepasste, schon als Kind.
Jetzt ist er ihr
Betreuer. Er hat ein Schreiben vom Amtsgericht, da ist es so
bestätigt. Er will alles richtig machen, in allen Rollen, man kann
das sehen. In dem Wohnzimmer in dem kleinen Haus nahe dem Steinhuder
Meer liegt nichts herum. „Ich räume immer alles gleich weg.“ Als
könnte die kleine Unordnung ein Zeichen sein, dass er seine Rolle
nicht ausfüllt. Für anderes bleibt keine Zeit. Über dem Sofa
hängen Bilder, Aquarelle, Landschaften mit See. „Ach die ...“,
sagt Günter Hamann. Ja, die sind von ihm. Aber die sind aus einer
anderen Zeit. Gemalt hat er schon lange nicht mehr, seit Jahren
nicht.
Er müsste sich
nicht jeden Tag um sie kümmern, es gäbe Möglichkeiten. Sie ist in
die Pflegestufe zwei eingruppiert, er könnte sie zur Tagespflege
geben, jedenfalls mal für einen oder zwei Tage in der Woche. Aber
dagegen wehrt er sich. Als wäre dies das Eingeständnis einer
Niederlage. Die Überlastung, die Schwierigkeit, sich Pausen
zuzugestehen - das ist das große Thema bei vielen Partnern, die
Demenzkranke pflegen. Warum diese Vehemenz?
Da erzählt Georg
Hamann von der Vergangenheit. Davon, wie sie als Kinder in einer
Straße gewohnt haben, er in der Nummer 23, sie in Nummer 11. Davon,
wie er erst mit ihrem Bruder befreundet war und dann begann sie
auszuführen, ins Tanzcafé „Berolina“ sind sie immer gegangen.
Er erzählt von der ersten gemeinsamen Wohnung, ein Stück einer
alten Kegelbahn, die der Wirt mit ein paar Mauern unterbrochen hatte
- sie waren ja froh, etwas zu haben. Dann bauten sie ihr Haus. „So
etwas verbindet doch.“ Und dann erzählt er noch, wie er mit seiner
Frau mal in einer Klinik war, bei einer Gruppe für Demenzkranke und
ihre Angehörigen. Es roch nach Klinik und alten Menschen, überall
standen Rollatoren herum, Rollstühle. Er ertrug den Anblick nicht.
„Mir wurde übel, ich musste da sofort raus.“ Und seine Frau,
nein, die will er da nicht hingeben.
Edith Hamann sitzt
dabei, während ihr Mann redet. Lächelnd, ruhig, als spräche er
nicht über sie. Manchmal wirft sie einen Satz ein. Zum Beispiel, als
er von der Einsamkeit erzählt, von Bekannten, von denen sie schon
lange nichts mehr gehört haben.
„Wir
könnten doch mal wieder die hier aus der Straße einladen.“
„Du
meinst Hans und Erika?“
„Genau,
Hans und Erika.“
„Aber
die sind doch längst tot.“
„Was,
die sind tot?“
Für einen Moment
scheint sie über sich selbst erschrocken, dann sitzt sie wieder
lächelnd auf ihrem Stuhl. Man sieht ihr nicht an, dass sie krank
ist, und über die Wunden am Kopf sind ja auch schon wieder Haare
gewachsen, kurze weiße Haare.
Es war vor einigen
Monaten, Georg Hamann war wegen des Zusammenbruchs im Krankenhaus, da
war sie für einen Moment allein im Badezimmer. Das Feuerzeug hatte
sie in der Küche gefunden, ein vergessenes Werbegeschenk. Den Sohn
machte der verbrannte Geruch aufmerksam. Edith Hamanns Haare waren
verschmort, ein Großteil der Kopfhaut versengt. Da lagen sie beide
im Krankenhaus. Die Kinder sagten Georg Hamann zunächst nichts, um
ihn zu schonen.
Er muss sich
kümmern, das war seine Lehre. Er darf nicht krank sein.
Am Ende, nach dem
Gespräch, steht Georg Hamann in der Tür. Ihm ist etwas aufgefallen,
deshalb hält er inne. „Es ist komisch, ich sage noch immer ,wir’,
wenn ich über mich und meine Frau spreche.“ Er macht eine kurze
Pause. „Dabei weiß ich gar nicht, ob es dieses ,wir’ überhaupt
noch gibt.“
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