Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Die
letzte Elite
Im September 1988
begann eine Klasse der Immanuel-Kant-Oberschule mit dem Abitur. Die
Schüler sollten den Sozialismus voranbringen. Dann fiel die Mauer,
und das Leben musste eine neue Richtung finden. Welche? Wo sind sie
20 Jahre später angekommen?
Jochen-Martin
Gutsch, Spiegel, 29.10.2009
Auf dem letzten Foto
stehen wir vor der Schule. Es ist der Sommer 1990, und wir haben
gerade ein DDR-Abitur gemacht. Es ist kein echtes Abschlussfoto. Wir
stehen nicht in Reihen, wir tragen aus Gründen, die ich vergessen
habe, weiße Hemden oder Blusen, kaum jemand schaut in die Kamera, es
ist ein wackliges, chaotisches Foto, aber vielleicht passt es ganz
gut zur Stimmung und den Zeiten, damals. Wir sind 18 Jahre alt. Es
ist nicht mehr ganz klar, wohin wir jetzt gehen werden.
Fast alles, was auf
diesem letzten Foto noch sichtbar ist, ist heute verschwunden. Zuerst
verschwand das Land, die DDR. Dort wurden wir groß, im Ost-Berlin
der siebziger und achtziger Jahre, Stadtbezirk Lichtenberg. Im
September 1988 begannen wir mit dem Abitur an der Erweiterten
Oberschule Immanuel Kant. Es gab einen Fahnenappell, wir trugen
FDJ-Hemden und waren die Auserwählten, zugelassen für zwei weitere
Schuljahre. Es war nicht leicht, in der DDR ein Abitur zu machen. Der
Zugang war beschränkt. Wir hatten gute Noten und waren als politisch
überzeugt oder unbedenklich eingestuft worden. Der Direktor hielt
eine Rede, er sprach von Ehre und Verpflichtung. Wir sollten das
Abitur machen, anschließend studieren und sozialistische
Akademikerpersönlichkeiten werden, die nächste DDR-Elite, die den
Sozialismus voranbringt. Wir waren die neuen Fahnenträger für die
große Sache. Wir waren 20 Schüler in unserer Klasse. Einige wollten
Offizier werden, andere Arzt, Lehrer, Ökonom.
Ein gutes Jahr
später fiel die Mauer.
Ein weiteres Jahr
später verhandelten Michail Gorbatschow und Helmut Kohl in
Strickjacke und Strickpullover die deutsche Einheit. So wurden wir
keine sozialistische Elite, sondern der letzte Abiturjahrgang der
DDR. Die letzte DDR-Generation, die im Sozialismus die Schule
beendete. Die erste, die im Kapitalismus erwachsen wurde. Eine
Schulklasse an historischer Schnittstelle. Die Klasse von 1989/90.
Die schmale Straße,
die zur Schule führte, beginnt gegenüber dem ehemaligen Gebäude
der Staatssicherheit und trägt den Namen des Widerstandskämpfers
Schulze-Boysen. Sie führt in ein Plattenbaugebiet, elfgeschossig,
viel DDR-Beton, die Fassaden sind heute bunt, aus der alten
HO-Kaufhalle wurde ein Kaiser's-Supermarkt, an der Seite der
Asia-Imbiss, wo sich die Trinker treffen. Ansonsten könnte man hier
noch immer einen Film drehen über Ost-Berlin. Man müsste die Autos
austauschen, ansonsten nicht viel.
Auch die alte Schule
ist verschwunden. Auf dem letzten Foto sieht man sie noch im
Hintergrund, vor einigen Jahren wurde sie abgerissen und ein neues
Gebäude errichtet, rund und apfelsinenfarben. Ein Kiez-Treff, der
Yoga-Kurse anbietet, eine Senioren-Singgruppe und
Osteoporose-Gymnastik. Die alte Schule war blassweiß und eckig. Ein
DDR-Einheitsschulneubau. Die einzigen Überlebenden auf dem letzten
Foto sind anscheinend wir selbst. 19 junge Ost-Berliner, gerade
volljährig, vor einer verblassenden Kulisse.
Im Sommer 1990
machte unsere Lichtenberger Klasse noch eine Abschlussfahrt in die
CSSR. Wir saßen dort in einer verrumpelten Kneipe, umhüllt von
Zigarettenrauch, und sahen im Fernsehen, wie die D-Mark nach
Ost-Berlin kam, wie unsere Landsleute die Sparkassen stürmten. Kurze
Zeit später verabschiedeten wir uns voneinander und gingen los.
Jeder in seine Richtung. Wir hatten den gleichen Startpunkt, wir
kannten uns in einer anderen Gesellschaftsordnung.
Manche gingen
anschließend nach Westen, weil dort die Zukunft zu liegen schien,
manche suchten den Weg im Osten, der ihnen vertrauter war. Vielleicht
sind wir ja trotzdem alle irgendwo angekommen in den vergangenen fast
20 Jahren.
Die Frage ist, wo
das sein könnte.
Und wie wir dort
leben.
Maria Pfennig blieb
im Osten. Man kann sie sich auch nur schwer vorstellen im Westen.
Auch nach all den Jahren nicht. Auf dem Wohnzimmertisch in
Berlin-Pankow steht eine Kanne mit Kaffee, es ist früher
Sonntagnachmittag, aber Maria ist noch nicht lange wach. Am Abend war
sie auf einem Geburtstag, jetzt kämpft sie gegen die Müdigkeit und
sucht ihr Leben zusammen. Wahrscheinlich hat sie von uns allen den
weitesten Weg zurückgelegt. Nicht geografisch, eher ideologisch.
Maria hing an der DDR. Die Wende war für sie erst mal eine
Niederlage.
Maria war unsere
FDJ-Sekretärin, eine aufrichtig Überzeugte. Ihre Großeltern waren
Kommunisten aus der Aufbaugeneration der DDR, Schriftsteller,
Dramaturgen, Meisterschüler von Bertolt Brecht. Ihr Vater war
Sprengmeister bei den "bewaffneten Organen", der
Staatssicherheit, beauftragt, die DDR-Führung vor Anschlägen zu
schützen. "Es war schmerzhaft für mich, als das Land so
zerbröselte", sagt Maria. "Ich war sauer auf die
Erwachsenen. Ich fühlte mich alleingelassen. Ich war die Generation,
die das Land jetzt prägen sollte, und dann gab es die DDR nicht
mehr. Auch das, was ich studieren wollte, Lehrerin für Deutsch und
Staatsbürgerkunde, gab es plötzlich nicht mehr." Maria trug
rote, wilde Haare damals, und als die Mauer fiel, ging sie nicht
rüber nach West-Berlin, so wie wir anderen. Sie blieb bockig im
Osten. Erst im Dezember überquerte sie zum ersten Mal die Grenze,
zusammen mit Markus, einem Mitschüler. Sie gingen auf eine Party in
Kreuzberg. "Alle waren da irgendwie bekifft", sagt Maria.
Es ist ihr erstes Bild vom Westen.
Gleich 1990 wurde
Maria schwanger. Mit 18, ein Unfall. Sie taumelte durch die
Wendezeit, suchte Halt bei trotzkistischen Ideen, in der
Antifa-Szene, im Februar 1991 brachte sie ihre erste Tochter zur
Welt, sie zog in eine kleine Altbauwohnung in Berlin-Friedrichshain,
Ofenheizung, kein Bad. "Das Kind war wichtig. Ich nutzte die
Mutterschaft, um so etwas wie Identität zu schaffen." Später
studierte Maria an der Humboldt-Universität Sozialtherapie, für ein
paar Jahre feierte sie aus Trotz und Spaß weiter den 7. Oktober, den
Nationalfeiertag der DDR. Mitte der neunziger Jahre wurde sie ein
zweites Mal Mutter. Das Leben beruhigte sich ein bisschen.
Maria arbeitet heute
bei einem Kinderbetreuungsangebot als Projektentwicklerin. Sie ist
Abgeordnete im Bezirksparlament für Bündnis 90/Die Grünen und
macht Schulpolitik. Sie ist parteilos. Sie würde auch in keine
Partei eintreten, sagt Maria. Das habe sie aus der Wende gelernt.
"Ich habe mich einmal für eine Idee verheizen lassen. Das
reicht. Ich bin vorsichtig geworden." Maria ist alleinerziehende
Mutter, ihre älteste Tochter ist heute so alt, wie Maria war, als
die Mauer fiel. 2005 starb Marias Vater, mit Mitte fünfzig. "Er
hat die Wende nie richtig verkraftet. Er war kaputt am Ende. Ein
enttäuschter Mann, der sich aufgegeben hatte."
Mit den Jahren
änderte sich Marias Bild von der DDR. Es bekam Risse. Aber es fiel
nie ganz zusammen. "Was wäre in der DDR noch gekommen? Ich
hätte studiert, geheiratet, Ehekredit, fertig. Wahrscheinlich hätte
ich mich irgendwann erschrocken über meine DDR. Wenn ich dort noch
leben würde, wäre ich heute vielleicht eine sehr gebrochene Figur",
sagt Maria.
Ist das jetzt ihr
Land geworden? Die Bundesrepublik Deutschland?
"Ich bin
Berlinerin. Das ist meine Stadt. Aber dieses Land? Ich war einmal in
Hamburg, einmal in München, in Hannover. Diese drei Städte. Aber
ich kenne kaum westdeutsche Landschaften. Ich kenne auch den Text der
Nationalhymne nicht."
Vor einiger Zeit,
sagt Maria, flog sie nach Chile, beruflich. Chile habe sie
seltsamerweise an die DDR erinnert. "Die Art, wie die Menschen
miteinander umgehen. Dass jeder irgendwas macht, auch Sinnloses, das
war wie Osten. Die DDR war so langsam, so slow. Ohne Hast. Aber
vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht stimmt mein
Bild nicht mehr."
Es gibt heute
etliche Bilder von der DDR. Es gibt das Bild der Westdeutschen und
viele Bilder der Ostdeutschen. Es gibt die Bilder der
DDR-Bürgerrechtler, der DDR-Funktionäre, der
Durchschnitts-DDR-Bürger, derjenigen, die in den Westen flüchteten,
derjenigen, die im Osten blieben, der Wendegewinner, der
Wendeverlierer, der Jungen, der Alten. Die DDR war so dramatisch wie
in den TV-Movies mit Veronica Ferres, so grau wie bei Guido Knopp, so
durchtrieben und verloren wie im Film "Das Leben der Anderen"
oder so lächerlich wie in "Sonnenallee".
Manchmal
widersprechen sich die Bilder. Manchmal vermischen sie sich. Manchmal
weiß ich nicht mehr, welches das richtige ist. Es fällt mir bereits
schwer zu unterscheiden zwischen den Dingen, die ich in der DDR
selbst erlebt habe, und denen, über die ich später nur selbst
gelesen habe. Die DDR ist ein riesiger Geschichtsbrocken geworden.
Vielleicht ist sie heute größer, als sie damals je war. Die DDR ist
nicht mehr erlebbar. Nur noch bewertbar.
Es ist seltsam, wenn
das Land, in dem man geboren wurde, in dem man 18 Jahre lang lebte,
der Erinnerung entschwindet. Die DDR war Heimat, trotz alledem. Man
kann es sich nicht aussuchen. Vielleicht waren wir in den vergangenen
fast 20 Jahren so sehr damit beschäftigt, irgendwo anzukommen, dass
wir mehr und mehr vergessen haben, wo wir herkommen.
Vielleicht aus einem
Unrechtsstaat. Ich habe kein Problem damit, wenn man die DDR einen
Unrechtsstaat nennt. Die DDR war kein Rechtsstaat, wer will das
ernsthaft bestreiten. Ich frage mich nur, ob man dadurch irgendwas
versteht. Oder ob das Label Unrechtsstaat nur zu dem bequemen Schluss
verführt, damit sei alles über die DDR gesagt.
Ich war in der DDR
alles Mögliche. So wie viele aus unserer Lichtenberger Klasse.
Jungpionier, Thälmann-Pionier, FDJ-ler, ich ging zur Christenlehre,
ich hatte die Jugendweihe mit 14 und die Konfirmation mit 15. Ich
hatte zu Hause ein Buch über Lenin und eines über Jesus. Ich war
gleichzeitig Christ und Atheist. Ich hatte zwei Onkel im Westen und
einen im Osten. Meine Eltern waren in keiner Partei, aber ich wusste
trotzdem gut Bescheid über die Geschichte der SED, denn so hieß
unser Geschichtsbuch während der zwei Jahre Abitur: "Geschichte
der SED. Abriss". Ein anderes Geschichtsbuch hatten wir nicht.
Nach der Wende
studierte ich Rechtswissenschaften und wurde Jurist. Später
Journalist. Im Osten wäre ich heute Zahnarzt. So stand es in meiner
Studienzulassung vom Ministerrat der DDR. Es war ein schizophrenes
Erwachsenwerden. Ich kann es nicht mehr richtig verstehen, ich kann
nur sagen: So war es. Vielleicht wollen die Ostler deshalb immer so
viel erklären. Weil die eigene Vergangenheit heute manchmal fremd
erscheint. Vielleicht gibt es deshalb so viele Bilder von der DDR.
Drei Jungs aus
unserer Lichtenberger Klasse wollten Offiziere der Nationalen
Volksarmee werden. 25 Jahre NVA. Es war dann schnell klar, dass der
Beruf im neuen Deutschland keine Zukunft haben würde.
Jens wurde gleich
Zivildienstleistender, studierte Pädagogik und lebt jetzt seit zehn
Jahren in Hamburg. Er arbeitet als Abteilungsleiter in einem
Institut, das Schülerleistungstests durchführt und auswertet. Für
die Pisa-Studie beispielsweise.
Sven nutzte die
neuen Zeiten, wurde Geschäftsmann und verkaufte an der ostdeutschen
Ostseeküste Verkleidungen für Hausdächer. Es lief wohl nicht so
besonders. Jedenfalls fuhr er später in Berlin Pakete aus für UPS.
Niemand weiß, was er heute macht. Über das Einwohnermeldeamt kann
man erfahren, dass er vor einem Jahr verzogen ist. Nach China.
Gunnar Lang wurde am
Ende als Einziger Offizier. Sein Berufswunsch hieß Militärapotheker.
Im September 1990 ließ sich Gunnar zum Armeedienst einziehen, als
einer der letzten Soldaten der NVA. "Ich stand da und wunderte
mich, denn die NVA war gar nicht tot. Die taten so, als ginge alles
weiter." In Deutschland wurde für den 3. Oktober die
Wiedervereinigung vorbereitet. In einer Greifswalder Kaserne bekam
Gunnar eine NVA-Uniform und begann die Grundausbildung bei einer
Armee in Auflösung. "Wir haben sogar noch den Sturmangriff
geübt. Der Offizier rief: 'nicht mehr Richtung Westen! Richtung
Norden!'"
Es hieß, der
Studienplatz sei sicher. Gunnar wartete ab. Manche der alten
Offiziere verschwanden von einem Tag auf den anderen, sie entsorgten
Uniformen und Wintermäntel in Container, aus denen Gunnar und andere
Rekruten sie wieder herausfischten, die Schulterstücke ablösten und
auf die eigenen Uniformen knöpften. Anschließend machten sie Fotos.
Auf den Bildern posierten sie als Oberst oder Leutnant. Es muss eine
seltsame Zwischenzeit gewesen sein. Sie endete, als im November eine
Ausbildungskompanie aus dem Westen einrückte. Die Bundeswehr war da.
Sie kam aus Leer, Ostfriesland. Wer noch immer studieren und Offizier
werden wollte, konnte sich jetzt ein letztes Mal entscheiden: gehen
oder bleiben. Gunnar blieb. 17 Jahre lang.
Seit 2008 lebt er in
Hanau. Er arbeitet als Toxikologe bei einem Chemieunternehmen und
sucht nach einer großen Wohnung, damit endlich seine Freundin und
das gemeinsame Kind mit einziehen können. Beide wohnen noch in
Berlin.
Gunnar studierte als
Soldat der Bundeswehr Pharmazie und Lebensmittelchemie. Er arbeitete
in Stützpunkten in Leipzig und Koblenz, er war dort zuständig für
die Arznei- und Lebensmittelüberwachung. Im Herbst 2003 packte der
Ex-NVA-Offiziersbewerber Gunnar Lang seine Sachen und fuhr für das
wiedervereinigte Deutschland auf Friedensmission nach Bosnien. Gunnar
ging später auch nach Mazedonien, in das Kosovo und wieder nach
Bosnien. Er überprüfte Trinkwasser, schaute sich Bäckereien und
Zulieferbetriebe an, die die Truppe versorgen sollten. "Du bist
dort immer im Dienst, immer unter Strom, unterbrochen nur von der
Nachtruhe. Einige verkraften das nicht und bauen schnell ab. Andere
kriegen den Lagerkoller und werden aggressiv. Ich hatte immer Angst
vor einem traumatischen Erlebnis. Irgendwas, das mich dann auf Jahre
verfolgt."
Zu Hause fehlte ihm
die Anerkennung. Er kam zurück, aber war kein Held. Freunden wollte
er Fotos zeigen. "Zerschossene Häuser, Minenfelder, unser
Lager. Aber die meisten haben nur gesagt: Gunnar, lass gut sein."
Einen Tag nach
unserem Treffen werden in Afghanistan drei deutsche Soldaten getötet.
In Afghanistan ist Gunnar nie gewesen. Ende 2007 machte er Schluss
bei der Bundeswehr. Sein letzter Dienstgrad ist der eines
Oberstabsapothekers.
Vor kurzem hat sich
Gunnar einen neuen Skoda-Kombi gekauft, mit hellen Ledersitzen.
Skoda, die alte Ostmarke. Aber das ist Zufall, sagt Gunnar. "Die
DDR kommt mir heute sehr fremd vor, unwirklich. Ich bin eigentlich
ganz froh, wie alles gekommen ist." Als er damals aus dem Kosovo
zurückkam, sagt Gunnar, fuhr er vom Flughafen über die Autobahn. Es
gab keine Schlaglöcher, keine Ruinen, keine Schüsse, er konnte 140
fahren, 160. "Da dachte ich: Ist doch ein schönes Land hier,
dieses Deutschland."
Viele aus unserer
Klasse gingen Umwege. Ines, die "Ökonomie des Binnenhandels"
studieren wollte, ist heute Richterin. Josefine, die ein Praktikum
beim Fernsehen der DDR beginnen sollte, lernte Schneiderin, da das
Fernsehen der DDR bald verschwand. Rückblickend kommt es mir so vor,
als seien wir alle sehr pragmatisch gewesen. Wir haben wenig gespielt
mit den Möglichkeiten. Es gab keine Erfahrungswerte, keinen
Ratschlag, wenig Geld. Unsere Eltern wussten nichts über die neuen
Zeiten. Unsere Eltern hatten mit sich selbst zu tun.
Katharina Pejic ging
auch einen Umweg. Sie verließ den Osten gleich im Sommer 1990 und
zog nie wieder zurück. Sie ist, wenn man China mal vergisst, die
Einzige aus unserer Lichtenberger Klasse, die heute im Ausland
arbeitet. In Luxemburg. Katharina wäre gern Au-pair-Mädchen
geworden für ein Jahr. Vielleicht in Frankreich. Aber niemand wusste
damals genau, wie man Au-pair-Mädchen wird und was ein
Au-pair-Mädchen macht. Die Eltern rieten Katharina ab. Also führte
der Weg nach Westen über eine Hauswirtschaftsschule bei Bielefeld.
Hauswirtschaft war nicht der große Traum, aber es schien etwas zu
sein, was man auch in den neuen Zeiten gebrauchen konnte. Die Klasse
war voller Mädchen aus dem Osten, die ihren Ausbildungsplatz
verloren hatten, in einer LPG oder irgendeinem untergehenden
volkseigenen Betrieb. "Die Schule war wie ein Auffanglager für
gescheiterte DDR-Existenzen", sagt Katharina.
Sie lernte ein Jahr
lang Kochen, Bügeln, Nähen. Dann zog sie weiter Richtung Westen,
studierte in Köln Bibliothekswesen, lernte dort einen Luxemburger
kennen, den sie mit 25 Jahren heiratete. Sie bekamen zwei Mädchen,
kauften ein Haus in Perl, einem kleinen Ort an der Grenze zu
Luxemburg. Dort blieben sie.
Es soll keine
Endstation sein, sagt Katharina, eher eine Zwischenstation. Oder ein
Umsteigebahnhof. Im Wohnzimmer sind die Pokale ihres Mannes
aufgestellt, der Boule spielt. Draußen vorm Panoramafenster liegt
ein großer Garten mit einem schönen Kirschbaum. Katharina arbeitet
bei Luxair-Tours gleich am Flughafen. Sie macht Kalkulationen für
Reisekataloge. Sie spricht meist Luxemburgisch, wenn sie Deutsch
spricht, hört man noch ihren alten Ost-Berliner Akzent.
Ihr Mann hat sie vor
kurzem gefragt, ob sie irgendwas vermisse aus der DDR. Katharina fiel
nichts ein. Sie wolle die DDR auf gar keinen Fall zurück, sagt sie.
"Aber ich möchte die Zeit, die ich dort gelebt habe, auch nicht
missen."
Warum?
"Ich sehe das
heute als Bereicherung an, in diesem anderen Land gelebt zu haben, in
dieser anderen Welt", sagt Katharina.
Ihre Eltern wohnen
noch immer in der Plattenbauwohnung in Lichtenberg. Aber Berlin, sagt
Katharina, sei ihr fremd geworden. Und Perl, die neue Heimat, sei ihr
fremd geblieben. Sie würde lieber in Luxemburg wohnen. "Eigentlich
kann ich nicht sagen, wo ich angekommen bin."
Italien wäre ein
guter Ort gewesen. Italien war lange Katharinas Traum. Er rüttelte
noch einmal an ihrem geraden Leben. Vor ein paar Jahren kaufte sie
mit ihrem Mann ein Haus in der Nähe von Rimini, 20 Kilometer vom
Meer entfernt. Sie begannen das Haus auszubauen, drei, vier
Ferienwohnungen sollten entstehen, von denen sie leben wollten. In
den Zeitungen stand, die Gegend würde bald die neue Toskana werden.
Aber dann bekamen sie das erste Kind und dann das zweite, und es sah
auch nicht so aus, als ob die Gegend wirklich die neue Toskana würde.
Vor ein paar Wochen verkauften sie das Haus, schweren Herzens. Es
wäre wirklich eine gute Geschichte gewesen. Fast wie in einer
Fernsehserie. Von Ost-Berlin nach Rimini.
Vielleicht, sagt
Katharina noch, sei sie ja doch irgendwo angekommen. Sie wohne in
Deutschland, arbeite in Luxemburg und kaufe Brot und Käse meist in
Frankreich. Ihr Mann sei Luxemburger, sein Vater Serbe, seine Mutter
Belgierin.
Vielleicht in
Europa, sagt Katharina.
Kein schlechter Ort
in einer Geschichte über das Ankommen. Eine Europäerin. Auch wenn
Ankommen ein seltsamer Begriff ist. Er begleitet die Ostdeutschen
seit 20 Jahren. Er scheint eine Richtung vorzugeben, in die sich die
Ostdeutschen bewegen sollen. Die Westdeutschen sind vom Ankommen
befreit, weil sie denken, dass sich für sie durch die deutsche
Einheit nichts geändert hat. Womöglich stimmt das sogar. Sie können
sitzen bleiben und warten. Ankommen klingt, als müssten die
Ostdeutschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein,
als gäbe es einen Ostler-Fahrplan in die freiheitlichdemokratische
Grundordnung. Es ist ein dummer Begriff.
Ich lebe, wie
eigentlich alle aus unserer Lichtenberger Klasse, ganz gern in
Deutschland. Mehr kann ich nicht sagen. Ich bin Ost, und ich bin
West, ein Mischwesen, so wie das Flügelpferd. Wir sind mit 18 Jahren
zwischen die Systeme geraten. Wir sind keine Revolutionäre, wir
waren die ersten Kinder der Revolution, die man ins neue Land
entließ. Ich habe meine Wurzeln in der DDR, ich bin zu Hause in
Deutschland. Ich möchte auf beides nicht verzichten. Ich habe weder
eine DDR-Identität gehabt noch eine BRD-Identität erlangt.
Vielleicht bin ich heute ein Gesamtdeutscher mit sozialistischem
Migrationshintergrund.
Jörg Sydow hat
damals versucht, ins Herz des Westens vorzudringen. Er ging dorthin,
wo der Westen am westlichsten ist. Er verließ 1991 die Plattenbauten
am Ost-Berliner Anton-Saefkow-Platz und stieg in einen Zug nach
Düsseldorf. Das ist heute noch eine Entfernung, die sich schwer
vermessen lässt, aber 1991 war es wie eine Zugfahrt zum Mond. Jörg
wollte Arzt werden, entschied sich aber für eine Ausbildung zum
Außenhandelskaufmann. "Kaufmann hieß, es geht um Kapitalismus,
um Wirtschaften. Das konnte ich mir vorstellen. Da lag die Zukunft."
Er war der einzige
Ostler in seiner Klasse, dazu ein Junge aus Polen. In Düsseldorf
wusste niemand, wer der Kommunist Anton Saefkow war, Jörg wusste
nicht, was das HB-Männchen ist. "Wir lernten ja auch Marketing,
Werbung. Aber ich kannte die ganzen Sachen nicht. Wer ist Clementine?
Das Michelin-Männchen? Ich war ja aufgewachsen fast ohne
Westfernsehen. Ich habe also meine Klappe gehalten und so getan, als
ob ich das alles kenne. Ich wollte mich schnell anpassen."
Jörg wurde
Düsseldorfer. Zumindest äußerlich. Er kaufte sich Diesel-Jeans,
Polohemden und dunkle Halbschuhe, weil das alle trugen in Düsseldorf.
Er sah die Leute in der Königsallee, die Autos, die Schmuckläden,
den selbstverständlichen Reichtum, an den Wochenenden fuhr er zurück
in den Ost-Berliner Plattenbau, ins wacklige Nachwendeleben seiner
Eltern. "Ich musste mich regelrecht zwingen, dass mir der
Anton-Saefkow-Platz nicht fremd wird. Mein ganzes altes Leben."
Nach der Ausbildung
blieb Jörg in Düsseldorf und arbeitete drei Jahre bei einem großen
Unternehmen als Export-Sachbearbeiter. Anschließend ging er nach
Berlin und London und studierte Wirtschaftskommunikation. Er
arbeitete bei einem Fernsehsender, dann bei einem Verlag, schließlich
fing er bei einer amerikanischen IT-Firma an. Einmal im Jahr flog er
in die Staaten zur Verkaufsschulung, er saß in Las Vegas, er war im
wahren Herzen des Westens angekommen, Ost-Berlin und der
Anton-Saefkow-Platz verschwanden langsam. Die Verkaufsvorgaben der
Amerikaner waren hoch, 1,6 Millionen Euro sollte Jörg im Jahr
umsetzen, er rannte immer schneller, aber dann stürzte er plötzlich.
Im Frühjahr 2009
schloss die amerikanische Firma ihr Büro in Berlin. Alle Mitarbeiter
wurden entlassen, auch Jörg. Er schrieb Bewerbungen, ging zu
Bewerbungsgesprächen. Er wollte weiter im Vertrieb arbeiten, aber
manchmal fragte er sich, ob er nicht doch besser Arzt geworden wäre,
damals. Jörg ist ein großer, zurückhaltender Typ. Niemand, der in
den Vordergrund drängt. Man kann ihn sich eigentlich schwer als
Verkäufer vorstellen. "Manchmal habe ich Angst, dass ich im
Wirtschaftsleben unter die Räder komme", sagt Jörg in einem
Café in Berlin. "Man kann schnell zum Arschloch werden in dem
Job, ein Intrigant. Das habe ich oft erlebt. Aber ich will sauber
bleiben."
Zurzeit, sagt Jörg,
suchen die Firmen vor allem Hunter. Wenn sie überhaupt suchen.
Schließlich ist Krise.
Hunter?
"Ein Hunter
verkauft aggressiv. Er sucht schnelle Erfolge, ohne großes Interesse
an einer Kundenbindung. Das Gegenteil vom Hunter ist der Farmer. Ein
Farmer hat langfristige Ziele. Er ist bedächtig. Ich bin eher der
Farmer", sagt Jörg.
Ein aufrechter,
ostdeutscher Farmer.
Ein paar Wochen nach
unserem Treffen findet Jörg einen neuen Job. Er arbeitet heute für
eine Nachrichtenagentur. "Vielleicht habe ich ja zu viel gemacht
in den vergangenen Jahren. Vielleicht bin ich ein bisschen viel
rumgerannt. Aber für irgendwas wird es schon gut sein."
Als sich Jörg und
unsere Lichtenberger Klasse im Sommer 1990 zum letzten Foto
zusammenfanden, hatten wir 18 Jahre in der DDR gelebt. Jetzt sind 19
Jahre Bundesrepublik hinzugekommen. Es ist schwer zu sagen, welche
Jahre mehr Spuren hinterlassen haben, wie viel DDR noch in unserem
Blut ist.
Wir haben nicht die
Trümmer beseitigt, dafür waren wir zu jung. Wir waren mit dem
Suchen beschäftigt.
Marco, der
verheiratet ist, zwei Kinder hat und Pädagogik studiert, sagt, sein
Bildungsfundament sei nach wie vor ostdeutsch, geprägt von der
naturwissenschaftlichen Ausbildung der DDR-Schule.
Josefine, die heute
Obergewandmeisterin am Thüringer Landestheater in Rudolstadt ist,
sagt, dass ihr der Osten gefühlsmäßig immer noch näher sei.
"Eigentlich will ich das gar nicht. Aber es ist trotzdem so."
Anja, die eine
Zahnarztpraxis in Berlin-Schöneberg hat, sagt, dass sie gern Leute
aus dem Osten einstellt, aus einer "seltsamen Verbundenheit
heraus".
Markus, der Urologe
ist, sagt, dass sein Vorgänger ihm wohl kaum die Arztpraxis in
Berlin-Mitte verkauft hätte, wenn er ihm nicht erzählt hätte, dass
er auch aus der DDR komme. Geboren in Greifswald.
Jens, der in Hamburg
lebt, sagt, dass er sich Anfang der neunziger Jahre aus dem
Ost-Berliner Schwimmstadion, in dem er jahrelang trainiert hatte,
noch einen Startblock abmontierte, bevor es abgerissen wurde. Als
Erinnerung. "Es war das Schwimmstadion, in dem die DDR in einem
Länderwettkampf gegen die USA einige Weltrekorde erzielte. Nicht
ganz dopingfrei, wie man heute weiß." Der Startblock steht in
seinem Hamburger Garten.
Mein Ostgefühl
zeigt sich oft in dem Wunsch nach einem würdigen ostdeutschen
Repräsentanten. Ich sehne mich nach jemandem, der in den
Fernsehstudios sitzt und einem nicht peinlich ist. Mein altes Land
ist tot, ich habe kein Heimweh, aber ich möchte, dass man mit dem
Osten anständig umgeht. Von allen Ostdeutschen wird allerdings
ausgerechnet Peter Sodann Bundespräsidentenkandidat. Wolfgang
Thierse wackelt in Diskussionsrunden seit Jahren nur bedächtig mit
dem Kopf. Gregor Gysi ist Gregor Gysi. Manchmal wird der Kabarettist
Uwe Steimle eingeladen, bei dem ich das Gefühl habe, er möchte die
Mauer wieder aufbauen. Oder Axel Schulz sitzt plötzlich vor einer
Studiowand. Oder Henry Maske, der Gentleman-Boxer. Sie sollen dann
die DDR erklären.
Zwei Boxer.
Manchmal beneide ich
die Leute aus dem Westen dafür, wie unbefangen sie durch ihre
Nachkriegsgeschichte spazieren können. Ein Gebiet ohne Minen. Die
Ostdeutschen sollten nicht nur ankommen, sondern auch aufarbeiten.
Sie sollten ihre Geschichte sortieren, kühl und mit Abstand. Sie
sollten ihr altes Leben betrachten wie durch ein Fernglas.
Die Westdeutschen
sind gern westdeutsch. Sie lieben die Rosinenbomber, das
Wirtschaftswunder, das Wunder von Bern, den Kniefall von Warschau,
sie haben plötzlich die Revolution im Blut, wenn sie '68 hören, und
sie frösteln wohlig, wenn sie im Kino noch mal die RAF sehen. Selbst
Helmut Schmidt wird immer größer.
Auch der Ostdeutsche
darf zurückblicken, sich erinnern, soll aber zugleich auch immer
gedenken, und nichts verklären. Er soll am besten gedenkerinnern.
Das macht ihn ein
bisschen verklemmt.
Und so stirbt am
Ende auch seine Geschichte. Manchmal habe ich bereits das Gefühl, es
gibt kaum noch ostdeutsche Geschichte. Die DDR wird
zusammengeschnurrt auf zwei Daten. Den Mauerbau und den Mauerfall.
1961 und 1989. Isolation und Revolution. Sie besteht aus einigen
Organisationen und Abkürzungen. FDJ, SED, Stasi, LPG, FDGB, NVA.
Ansonsten wird der Ostdeutsche vor allem mit westdeutscher Geschichte
konfrontiert.
Markus Sachs aus
unserer Lichtenberger Klasse sagt, er habe vor einiger Zeit im
Fernsehen eine Show gesehen, über die "emotionalsten Momente in
der bundesdeutschen Geschichte". Markus sah die Hamburger
Sturmflut mit dem Kämpfer Helmut Schmidt, er sah die Entführung der
"Landshut" nach Mogadischu. "Ich fand das spannend.
Von manchen Dingen hatte ich zuvor auch noch nie gehört. Aber ich
frage mich, ob ich das als die Geschichte meines Landes empfinden
kann."
Ich weiß es auch
nicht. Kann man Geschichte adaptieren? Ich habe vieles damals im
Westfernsehen gesehen. Aber es waren Berichte von drüben. Aus einem
anderen Land. Das sind sie geblieben.
Ist das jetzt also
meine Geschichte? Und gehören Tamara Danz, Wilhelm Pieck, Täve
Schur, Georg Buschner oder Sigmund Jähn, der Kosmonaut aus
Morgenröthe-Rautenkranz, plötzlich auch zur Geschichte der
Westdeutschen, auch wenn sie im Westen vermutlich niemand kennt?
Das wird schwierig.
Vor einigen Monaten
gab es einen großen SPIEGEL-Titel. Eine Art Geburtstagsausgabe. 60
Jahre Deutschland. Das Titelbild zeigte in einer Collage viele Helden
der westdeutschen Geschichte, aber nur einen einzigen Ostdeutschen:
Angela Merkel. Die DDR schien verschwunden. Sie war aus der
gesamtdeutschen Geschichte gerutscht.
Markus Sachs hätte
aus unserer Klasse als Erster in der westdeutschen Geschichte
ankommen können. Noch vor dem Mauerfall. Am 5. Oktober 1989
flüchtete seine
Mutter über Ungarn
in die Bundesrepublik, zusammen mit Markus' jüngerem Bruder, zehn
Jahre alt, und ihrem neuen Lebensgefährten. Markus ging nicht mit.
Er war 17 und blieb
zurück in der Hochhauswohnung in Berlin-Friedrichsfelde, Nähe
Ost-Berliner Tierpark, in der noch sein Stiefvater wohnte. Sie müssen
eine seltsame Wohngemeinschaft gebildet haben. Der DDR-Teenager, der
nicht in den Westen wollte, und der Mann, dem plötzlich die Frau
abhandengekommen war.
"Meine Mutter
wollte natürlich, dass ich mit ihr gehe", sagt Markus. "Aber
meine Freunde waren in Ost-Berlin, ich war frisch verliebt, ich
wollte mein Abi machen. Und auch wenn es heute seltsam klingt: Ich
empfand so etwas wie die totale Freiheit. Mein Stiefvater hat mir
mein Kindergeld als Taschengeld ausgezahlt, und eine Zeitlang hatte
ich sogar die Schlüssel für die verlassene Wohnung des neuen
Lebensgefährten meiner Mutter. Die war in Mitte, am Spittelmarkt. Da
bin ich mit Freunden hin, wir haben Bier getrunken, Spaghetti
gekocht, wir konnten uns die Bücher ausräumen, und als jemand
sagte, dass die Stasi hier vielleicht Wanzen versteckt hat, haben wir
uns alle 'nen Kochtopf aufgesetzt und rumgealbert, dass die Stasi uns
ja jetzt nicht mehr hören kann."
Ein paar Wochen
später, im November, brach die DDR zusammen. In unserer Schule
blieben einige Lehrer zu Hause, andere fuhren viel nach West-Berlin.
Die FDJ-Nachmittage entfielen bald, im Geschichtsunterricht schlossen
wir das Buch von der Geschichte der SED. Stattdessen sprachen wir
jetzt über Stalinismus und wandten uns wieder der Urgesellschaft zu.
Den Jägern und Sammlern. Es war aufregend und auch ein bisschen
verwirrend.
So wie sich Markus
damals nicht vorstellen konnte, in den Westen zu gehen, kann er sich
heute eigentlich nicht mehr vorstellen, zurück in den Osten zu
gehen. 1990 zog er erst in eine eigene Wohnung in Lichtenberg, dann
nach Friedrichshain, später nach Kreuzberg. Er studierte Medizin in
Berlin, in London, er ging in die USA, heute ist er Urologe, und an
einem Sommerabend 2009 sitzt Markus in einer Altbauwohnung in
Kreuzberg, die Decken sind hoch, die Dielen abgeschliffen, die drei
Kinder schlafen. Auf dem Tisch liegen kleinformatige
Schwarzweißfotos, und Markus versucht, in die DDR zurückzukehren.
Das ist nicht leicht an einem Kreuzberger Küchentisch fast 20 Jahre
später.
Markus war in der
Jungen Gemeinde, er war auch der stellvertretende FDJ-Vorsitzende
unserer Klasse, seine Frau Nicole kommt aus Hessen. "Was habt
ihr denn da eigentlich gemacht, auf so einer FDJ-Versammlung?",
fragt sie. "Tja, was haben wir gemacht. Ist 'ne gute Frage.
Vielleicht den Kassenbericht verlesen oder den Rechenschaftsbericht?
Und dann die Zeitungsdiskussion: Was ist los in der Welt. Wie stehen
wir dazu. So was vielleicht? Tja, was noch? Irgendwas organisieren
wahrscheinlich. Fahnenappell gestalten oder so."
Aha, sagt Nicole.
Man fragt sich, wie das Wort Fahnenappell in ihren Ohren klingt.
Markus' Mutter wohnt
heute in Aachen, Nicoles Familie bei Frankfurt am Main. "Damit
sind meine Anlaufpunkte eigentlich alle im Westen", sagt Markus.
Vor einiger Zeit war er mit den Kindern im Tierpark, in
Berlin-Friedrichsfelde, der alten Heimat. Dort, von wo er 1989 nicht
weggehen wollte. Er stand dort, und er habe gemerkt, wie er zu der
Gegend jeden Bezug verloren habe, sagt Markus. "Da war einfach
nichts mehr. Keine Bindung. Nichts."
Womöglich ist das
der logische Endpunkt unserer Entwicklung. Ein zwangsläufiges
Schlussbild. In wenigen Wochen wird das Jubiläum begangen, 20 Jahre
Mauerfall. In den Buchhandlungen stellen sie schon wieder die Tische
zusammen mit den dicken Büchern über die DDR. Es wird ein 30.
Jubiläum geben, ein 40., und am 9. November 2039 ist dann ein halbes
Jahrhundert vergangen, und wir blicken zurück aus immer größerer
Entfernung und werden selbst immer unschärfer.
Vielleicht
verblassen wir irgendwann vollständig auf dem letzten Foto unserer
Lichtenberger Klasse, so als hätte es das Land, die blassweiße
Schule und auch uns Schüler nie gegeben. Die Klasse von 1989/90. Wir
könnten uns fühlen wie Heinz Rühmann in der "Feuerzangenbowle".
Sind wir also
angekommen? Untergekommen? Irgendwo gelandet, fast 20 Jahre später?
In Pankow, in Hanau, in Kreuzberg, in der Bundesrepublik, in Europa?
Hoffentlich sind wir
noch immer unterwegs. Noch immer in Bewegung.
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