Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Zeit
des Erwachens
In diesem Sommer
fand auf einer Südtiroler Alm in knapp 2400 Meter Höhe ein
einzigartiges Experiment statt: Elf Jungs mit der Diagnose ADHS, im
Alltag ruhig gestellt durch Ritalin, sollten acht Wochen lang lernen,
ohne die Tablette zu leben. Stattdessen gab es Regeln, Bewegung, Zeit
und Zuneigung. Die Kinder wuchsen über sich hinaus
Uli Hauser, Stern,
29.10.2009
Adrian weint viel in
den ersten Tagen. Er vermisst seine Eltern, er hat Bauchschmerzen, er
kotzt nachts vor Sehnsucht. Seine dunklen Augen sind voll mit Tränen.
Der Neunjährige hat seinem Vater versprochen durchzuhalten.
Er will nicht mehr
zum Doktor, zum Psychologen, zum Psychiater, seinen Stoffwechsel
untersuchen lassen oder seine Intelligenz.
Adrian hat schon mit
sieben Jahren ein 500-Teile-Puzzle legen können, ganz allein. Aber
in der dritten Klasse kommt er nicht mit, er stört den Unterricht,
steht auf, läuft fort, macht das Licht an, macht das Licht aus. So
kann die Lehrerin nicht arbeiten. Seine Mutter zu Hause weiß sich
nur mit Schreien zu helfen. Seit dieser Zeit kriegt Adrian die Pille.
"Die Pille
macht, dass ich traurig bin", sagt Adrian. Sie macht auch, dass
er keinen Hunger hat.
Der Kleine ist
durcheinander. Das Heimweh, die fremde Umgebung, die anderen Jungs,
alle so laut, so unordentlich, so aufgeregt. Hör auf, lass das, ich
will nicht; der ärgert mich, der tritt mich. Nur Zank und Gezeter.
Keiner kann sich zurückziehen, sie schlafen auf einem
Matratzenlager. Adrian kommt kaum zur Ruhe in der Hütte; einige
Kinder schrecken schreiend aus dem Schlaf. Morgens hat er die Füße
von Fabian im Gesicht.
Oder von Simon, das
macht keinen Unterschied.
Aber Adrian will
endlich wegkommen von dieser verdammten Pille. Er will es versuchen.
Deshalb ist er hier. Auf der Alm.
Seine Eltern
schluchzen, als sie ihn ziehen lassen. Schweren Herzens und
schlechten Gewissens.
Sie stehen an der
Wieserhütte, am Ende des gewaltigen Altfasstals, oberhalb von
Meransen in Südtirol. Wer gibt sein Kind schon für acht Wochen weg?
Adrian schaut sich noch einmal um, dann schleppt er stöhnend den
Rucksack hoch, an einem Bergsee entlang, über ein Schneefeld, das
den Wasserfall speist. Eine Hütte mit Ofenrohr und Plumpsklo wird
nun seine Heimat sein. Ein Sommer ohne Süßigkeiten. Kein Zucker.
Kein Fernsehen,
keine Playstation.
Von den Hängen
blöken Schafe.
Die Tiere schauen
verdutzt auf ihre neuen Nachbarn. Elf Jungs im Alter von acht bis 14
Jahren, begleitet von drei Erwachsenen, zwei Eseln und Jokke, dem
zotteligen Berner Sennenhund.
Da, wo früher Käse
reifte, sollen nun Kinder über sich hinauswachsen.
Ein einfaches Leben
führen, ihre Versorgung selbst sichern.
Lernen, mit Sorgen
und Macken, Schwächen und Stärken, Talenten und Behinderungen
besser umzugehen. Alte Verhaltensweisen hinter sich lassen und neue
probieren.
Denn die Kinder sind
am Ende.
Ihre Mütter und
Väter sind es auch. Sie haben sich aufgerieben im Inferno von Schule
und Erziehung.
In den Köpfen der
Kinder herrscht Krieg, und sie beherrschen keine Mechanismen, diese
Schlacht zu beenden. Die Eltern plagen Schuldgefühle, dass sie die
Erziehung nicht auf die Reihe und ihre Jungs nicht in den Griff
bekommen.
Nun entlassen sie
ihre Kinder in eine Einöde, auf die Seefeld-Alm, einem Hochtal auf
fast 2400 Metern.
Adrians Vater
vergleicht die Entscheidung mit dem Griff nach einem Strohhalm;
Maltes Mutter glaubt, die Alm sei die letzte Chance. Vielleicht werde
die Natur helfen. Man hat schon viel probiert. Malte sagt, seine
Eltern bemühten sich nach Kräften.
Die Kinder hier oben
kommen nicht klar mit den Verhältnissen da unten. Dem stillen Sitzen
in der Schule. Dem Ermahnen und Maßregeln. Sie schieben Aufgaben vor
sich her und tun selten, was man ihnen sagt. Sie sind zappelig und
nervös. Ruhelos und gereizt.
Unberechenbar. Die
Stimmung schwankt zwischen aggressiv und depressiv. Diese Kinder
kennen nur zwei Verhaltensweisen:
Angriff oder Flucht.
Einordnen können sie sich nicht.
Deshalb sind sie in
Behandlung.
Bei Psychologen und
Psychiatern, Ergotherapeuten und Logopäden. Sie machen Therapien mit
Hunden und Eseln und Pferden und ihre Hausaufgaben in
heilpädagogischen Tagesstätten.
Ihre Eltern rennen
von einem Arzt zum nächsten, die Ämter bewilligen Fördermaßnahmen
wegen "drohender seelischer Verwahrlosung". Über Malte,
11, den Blondschopf, der meint, er sei "ein bisschen wie
Tarzan", schreibt ein Arzt: "Ein extrem freiheitsliebender
Mensch, der jeglichen Umgang mit räumlicher Enge ohne
Fluchtmöglichkeit als unerträglich empfindet." Aber wo Ordnung
sein muss, wird das gereizte Gemüt mit Medikamenten gedimmt. Einem
chemischen Wirkstoff namens Methylphenidat, besser bekannt unter dem
Markennamen Ritalin.
Das Präparat
verändert den Stoffwechsel im Gehirn, der Kopf bekommt Nachhilfe in
Konzentration.
Die Pille stellt die
Kinder ruhig und beruhigt die Eltern.
Zumindest die
Schulzeit kann man so überstehen.
Die Diagnose heißt:
"Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyper- aktivitätssyndrom",
kurz ADHS.
Oder:
"Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom", kurz ADS. Es gibt kaum
eine Symptomatik, über die Meinungen so weit auseinandergehen, Ärzte
und Wissenschaftler liefern sich heftigen Streit, einen Glaubenskrieg
fast. Viele Ärzte vermuten in der verminderten Fähigkeit zur
Selbststeuerung hauptsächlich eine genetische Ursache, eine
angeborene Stoffwechselstörung.
Entwicklungspsychologen
erklären das ADHSPhänomen mit der zunehmen- den Reizüberflutung
und der abnehmenden Bereitschaft, Kinder kindgerecht zu erziehen.
Sind die Verhältnisse krank? Oder die Kinder?
1991 wurde in
Deutschland 1500 Kindern und Jugendlichen ADHS attestiert. Heute
leiden, nach Schätzungen des Robert- Koch-Instituts, 600 000 junge
Leute unter dem Syndrom. Viermal mehr Jungen als Mädchen, viel mehr
in Großstädten als auf dem Land. Der Absatz von Psychostimulanzien
ist allein in den Jahren 1990 bis 2007 um das 150-Fache gestiegen.
Die kurzfristige Wirkung von Ritalin ist gut dokumentiert, die
langfristige nicht.
In der bislang
umfangreichsten Elternbefragung für die Gmünder Ersatzkasse jedoch
gaben zwei Drittel an, ihre Kinder würden unter Nebenwirkungen
leiden.
Die Kinder auf der
Alm haben Albträume und Panikattacken hinter sich, Schreikrämpfe,
Verfolgungswahn und Suizidversuche.
Pascal, 8, nimmt die
Pille seit zwei Jahren: eine vor der Schule, eine halbe danach. Seine
Mutter geht morgens um fünf aus dem Haus, um bei McDonald`s
Frühstück zu machen. Sie weckt ihren Sohn über das Handy. Den
Vater kennt der Junge nicht, Pascal schluckt allein. "Sie haben
sich wegen mir gestritten", sagt er.
Bei Florian stellte
der Arzt gleich beim ersten Termin fest: "Florian hampelte
während der gesamten Untersuchung herum. Schon während der
Situation in der Praxis zeigte sich, dass der Junge ein ADHS hat."
Obwohl die Eltern den Elfjährigen als "begeisterungsfähig und
kreativ" beschreiben, kam er in der Schule nicht zurecht. Seine
Lehrerin nervten "unterrichtsfremde Aktivitäten" wie das
Herumlaufen in der Klasse. Die "Einstellung auf Ritalin"
führte "rasch zu einer Verbesserung der gesamten Symptomatik."
Nikola, 10, wurde nach zahlreichen psychodiagnostischen Tests,
neurologischen Untersuchungen und einem Abgleich mit der weltweit
gültigen "Child Behavior Checklist", die von der Norm
abweichendes Verhalten von Kindern bewertet, positiv auf ADHS
getestet. Fragt man Nikola nach seinem größten Wunsch, sagt er,
dass seine Eltern wieder zusammenkommen sollen. Und dass weniger Zank
ist, um ihn und seinen Bruder.
Auf der Alm gibt es
keine Pillen.
Hier sind auch keine
ungeduldigen Lehrer. Hier sind ein paar Menschen, die glauben, dass
man Kinder nicht betäuben sollte, wenn sie Schwierigkeiten machen.
Dass sie, so
schmerzhaft es ist, Zugang finden sollten zu ihren Gefühlen. Um Halt
zu suchen in sich. Umgeben von mächtigen Dreitausendern, steilen
Grashängen, schmalen Pfaden. Wo nichts von allein geht, außer der
Wind.
Der Göttinger
Neurobiologe Gerald Hüther hat das Almprojekt angeschoben. Seit mehr
als 30 Jahren erforscht er, wie einmal gemachte Erfahrungen das
Verhalten steuern, wie Probleme Lösungen produzieren, wie Menschen
an Aufgaben wachsen.
Hüther hat
zahlreiche Bücher geschrieben, hier oben will er wissen, was in
krankgeschriebenen Kindern reift, wenn sie in einer Umgebung sind,
die sie ganz auf sich zurückwirft.
Gerald Hüther, 58,
ist überzeugt, dass Kinder heute viel zu früh viel zu groß zu sein
haben, ohne Zeit zu finden für die richtigen Schritte, die richtige
Reihenfolge.
Dass sie überfordert
sind und unterschätzt werden. Dass es an Geduld fehlt und sinnvollen
Aufgaben, stärkenden Gemeinschaften und Vorbildern. Dass Kinder kaum
mehr in der Lage sind, eigene Erfahrungen zu sammeln, weil sie zu
viel Vorgefertigtes konsumieren. "Die Erwachsenen", sagt
Janis, 14, "machen einen großen Fehler:
Sie regeln immer
alles für einen." Janis ist der älteste Junge auf der Alm. Ein
schmaler Typ, eher unauffällig. Ein Abenteurer. Balancierte schon
mit drei Jahren zum Schrecken der Mutter auf dem Gerüst der
Gartenschaukel.
Aber jetzt steht er
unter Druck, in der Schule, zu Hause. Janis misst knapp einen Meter
sechzig, nach vielversprechenden 58 Zentimetern bei der Geburt. Die
Pille hat ihn nicht groß werden lassen, meint seine Mutter. Dass
Wachstumsstörungen auftreten können, stand in der Packungsbeilage.
Seine Sorgen
begannen in der Grundschule. Die Eltern hatten sich getrennt, den
Vater sah er kaum. Als die Belastungen stiegen, in der Familie, im
Unterricht, wurden einfache Hausaufgaben zur unendlichen Qual. Janis
brauchte Nachmittage für eine Aufgabe und trieb seine Mutter
nervlich an den Rand.
Nach drei Jahren
hatte ein Arzt einen Namen für das Problem: ADS. Die Mutter war
erleichtert, die angehende Heilpädagogin widmete der Beschreibung
des Sohns und seiner Symptomatik ihre Diplomarbeit.
Sie beschrieb, wie
ihr Junge, nun eingestellt auf Ritalin, von einem auf den anderen Tag
kaum wiederzuerkennen war: Er funktionierte.
Im vierten Schuljahr
war er Klassenbester.
Janis sitzt am
Lagerfeuer, am Himmel flimmern Sterne. Ein voller Mond verzaubert die
Alm, hinterm Haus gluckst der Bach. Der Junge wirft Stöckchen in die
Glut.
"Alles gut und
schön", sagt er.
Hühnerstall bauen
und Holz hacken.
Zäune ziehen und
die Kuh melken. Joghurt machen aus Milch. Cowboy und Indianer
spielen, die Runden im Kreis. "Aber was bringt das?" Janis
vermisst seine Kumpel, die Alkohol trinken und rauchen, seine Musik,
schwarze, schwere Metallmusik, bei der er sich entspannt und
Aggressionen loswird. So eine Alm ist eine schöne Sache, aber sie
löst nicht seine Sorgen.
Hinter Janis liegen
Umzüge mit der Mutter, ein Aufenthalt in der Psychiatrie, nachdem er
versucht hatte, im Internat aus dem zweiten Stock zu springen. Die
Pille hat nur für eine Weile für Entspannung gesorgt, mit der
Pubertät waren die alten Probleme wieder da. Janis kommt nicht mit
Lehrern klar, die nur auf Noten achten und Benehmen, nicht aber auf
Bedürfnisse.
Ein Lehrer hat
gesagt, in 25 Jahren Schule habe er kein vergleichbares Kind erlebt,
das so intensiv betreut werden müsse.
Janis schüttelt den
Kopf. Auf der Alm lehnen die Kleinen an seiner Schulter, er zeigt
ihnen, wie man sägt, wie man melkt; er hilft beim Packen, er trägt
die meisten Lebensmittel hoch. Janis ist freundlich, hilfsbereit,
hört zu.
Er ist so ganz
anders, als es in den Gutachten steht. Dauernd ist er in Behandlung,
ständig muss er sich erklären. Janis findet keine Worte für das,
was ihn bewegt. Seine Mutter habe ihn erst im letzten Moment gesagt,
dass er auf eine Alm müsse. Dann bricht es plötzlich aus ihm
heraus: "Sie schicken mich überall hin. Sie reden über mich.
Aber niemand hört mir zu!
Ich meine, so
richtig!" Außenseiter zu sein und Störenfried, diese Erfahrung
eint die Kinder. Sie tun alles, um den Schmerz zu unterdrücken, sich
nicht angenommen zu fühlen. Sie sehnen sich nach Freundschaften.
Und sind unfähig
dazu. Adrian, Fabian, Florian. Malte, Simon, Robin. Gehen zwei zum
Bach, darf der Dritte nicht mit. Räumt einer auf, zerstört der
Nächste die Ordnung. Die Kinder tun, was sie am besten gelernt
haben: sich und andere ausschließen.
Für Gerald Hüther
ist dies die Katastrophe: die einzige Erfahrung, die sich diesen
Kindern eingebrannt hat, ist Einsamkeit.
"ADHS",
sagt er, "ist vor allem eines: eine Beziehungsstörung."
Eine Bewältigungsstrategie, mit dem Leid zurechtzukommen.
"Das
menschliche Gehirn", sagt Hüther, "ist ein soziales Organ.
Es entwickelt sich über Beziehungserfahrung.
Wir Menschen können
nicht allein leben. Und doch wird heute mehr denn je die Illusion
geweckt, als käme einer ohne den anderen aus." Wer nicht
dazugehören darf, spüre einen ähnlichen Schmerz wie jemand, der
geprügelt wird. "Wenn es gelänge, dass sich die Kinder
dazugehörig fühlen, bräuchten sie diese Symptomatik nicht mehr."
Jedes der Kinder ist bemüht, alle Aufmerksamkeit nur auf sich zu
ziehen. Die Kleinen machen auf groß, die Großen auf klein. Sie sind
verträumt, schmollen oder schlagen. In den ersten Wochen dauert es
20 Minuten, bis die Kinder einen Kreis bilden können, eine halbe
Stunde, bis alle versammelt sind. 28 Tage vergehen, bis der Letzte
freiwillig seinen Teller vom Tisch räumt.
Ihre Köpfe sind
dick wie die Wand, gegen die sie laufen. Die Wand heißt Rüdiger.
Wenn der Ja sagt, bleibt es dabei. Wenn Nein, dann auch. Wer zu spät
zum Frühstück kommt, bekommt keins mehr. Jedenfalls nicht das
große, das Büfett aus Obst und Joghurt und Sahne. Regeln einhalten,
das sollen die Kinder lernen.
Rüdiger Bachmann,
44, ist Vater von vier Kindern, ein studierter Betriebswirt mit einer
sanften, aber festen Stimme. Erzieher, Schulgründer, Freigeist.
Einer von der Sorte, die im Leben mit einem T-Shirt auskommt: seins
schmückt ein Bisonkopf. Bachmann verteilt Aufgaben und Komplimente,
er schaut hin. Und schläft unterm Küchentisch, wenn das Gewit- ter
mal wieder das große Zelt zusammengefaltet hat.
Hier oben ist die
Zeit nicht portioniert.
Rüdiger Bachmann
ist einfach da. 24 Stunden lang. Wie seine Frau Claudia, wie Martin
Gecks, der andere Sozialpädagoge; der hatte sich früher schon um
Crash-Kids gekümmert. Und schlägt sich jetzt die Nächte um die
Ohren, um zu hören, was die Kinder auf dem Herzen haben. Er fragt
vorsichtig nach, er konfrontiert.
Taucht ein in
Familiengeschichten, erfährt, wie sehr die Kinder unter Trennung
leiden.
Unter dem häufigen
Partnerwechsel ihrer Eltern. Dass sie gehänselt, gemobbt, geprügelt
werden.
Die drei Erzieher
wissen anfangs wenig von den Kindern, die Expertisen in den
Leitz-Ordnern interessieren sie nicht. Die Eltern haben ihnen
seitenlange Gebrauchsanweisungen für ihre Kinder mitgegeben, wegen
Platzangst, Vollkornallergie, Kopfweh. Die Notfallpläne verstauben
schließlich im Müsliregal, zusammen mit Vitaminpillen, die sollen
ja auch gut sein.
Die Betreuer warten
ab, ob sich Konflikte von allein regeln.
Manchmal ist es
nicht zum Aushalten, manchmal zum Verzweifeln.
Aber sie bleiben bei
ihrem Entschluss, Grenzen zu setzen.
Als Simon, 9, der
manchmal Migräne hat, wieder mal nicht wandern will, um aus dem Tal
Lebensmittel zu holen, präsentiert Rüdiger Bachmann zwei
Möglichkeiten.
Die eine: mit
Kopfweh den Berg hinunter. Die andere: ohne Kopfweh. Simon geht. Und
ist später ziemlich stolz. So läuft es die ganze Zeit. Sagen zwei
Kinder, wir trauen uns zu, allein am See zu sein, dürfen sie das.
Hebt ein Kind die Axt in Richtung eines anderen, wenn auch nur "zum
Spaß", ist die Axt weg.
Die Erzieher wollen
Vertrauen säen. "Am meisten", sagt Rüdiger Bachmann,
"erstaunt mich, in welcher Tiefe die Kinder unselbstständig
sind. Und dass ihre Konflikte immer wieder darauf hinauslaufen, sich
gegenseitig auszuschließen." Aber das wird langweilig auf
Dauer. Langsam, es muss in der fünften, sechsten Woche sein, kurz
nachdem die Eltern auf eine Stippvisite vorbeigekommen sind, als
wieder Tränen fließen, aber das Heimweh nicht mehr eine solche
Macht hat, machen sich Veränderungen bemerkbar. Die Verlassenen
merken, dass sie nicht so hilflos sind, wie es ihnen immer erzählt
wurde. Adrian konnte vorher nicht einmal allein ein Streichholz
entzünden.
Es setzt nicht mehr
so viele Ohrfeigen im Vorbeigehen, es wird nicht mehr so viel darüber
gesprochen, am Sonntagmorgen schon um sechs vor dem Fernseher sitzen
zu dürfen oder Musik zu hören, von Typen, denen das Blut aus dem
Mund läuft.
Plötzlich werden
Kaulquappen gerettet und nicht mehr von Händen zerquetscht, die zwei
Esel geben bockig Reitunterricht.
Janis brüllt Malte
an, mit seinem "Scheißegoismus" werde er nicht weiter
kommen als einmal den Berg hoch und runter. Florian lässt Robin beim
Floßbau mitmachen, und Pascal schreckt nachts kaum noch auf, um sich
zu vergewissern, dass jemand da ist für ihn.
Die Kinder geraten
in Bewegung.
Sie bekommen eine
Ahnung davon, dass es anders geht.
Die Veränderungen
lassen sich nicht messen und nur schwer beschreiben.
Janis kann es noch
am besten. Er sagt nach langem Überlegen, er sei jetzt "stärker
im Kopf". Mit den Lehrern, da würde es sicher schwierig werden,
"aber jetzt muss mein Wille mitspielen".
Malte sagt, er müsse
nicht mehr immer Erster sein. Simon sagt, er werde weniger Fernsehen
gucken zu Hause.
Und Adrian
verspricht, morgens von allein aufzustehen.
Er spricht nicht
mehr so oft von seiner Mutter, die so schlecht sprechen kann nach
ihrem schweren Unfall. Adrian ist der Einzige auf der Alm, der immer
seine Sachen beisammen hat; bei ihm hat sich am härtesten
eingegraben, dass er funktionieren muss. Er fühlt so viel
Verantwortung für seine Eltern, dass ihn jede weitere aus der
Fassung bringt.
Als er dann, nach 55
Tagen, Adrian hat jeden einzelnen gezählt, durchlebt, durchlitten,
seine Eltern in die Arme schließt, sieben Kilo schwerer, irgendwie
größer, nicht mehr so wehleidig dreinschauend, sagt er: "Ich
will mit euch ein besseres Leben führen." In einer Ecke, unten
im Tal, wo alles losging, hockt Rüdiger Bachmann und kämpft mit den
Tränen.
Er hatte nicht damit
gerechnet.
Nicht damit, dass er
so gerührt sein würde. Nicht damit, dass auf der Alm so viel
passiert.
Am Ende weint er
dann doch noch, nach acht Wochen mit den wilden Kerlen. In deren
Köpfen so viel drin ist, was da nicht reingehört.
Und so viel
reingehört, was noch nicht drin ist.
Pascal hat seine
Mutter gleich nach seiner Rückkehr in den Bioladen geschleppt und
ihr gesagt, dass Zucker ihm nicht gut tut. Seine Mama kaufte ein
Tipi, darin übernachten sie jetzt am Wochenende. Dominik, 10, hängt
der Zeit auf der Alm nach, für ihn waren es die schönsten Wochen
seines Lebens. Seine Mutter hat sich während der Almzeit von ihrem
Freund getrennt. Oder umgekehrt.
Robins Vater
berichtet, sein Sohn sei deutlich ruhiger geworden und könne sich
nun länger allein beschäftigen. Janis hat einen schwierigen
Schulstart gehabt und bemüht sich, zuversichtlich zu sein. Maltes
Mutter traut dem Frieden noch nicht, dass ihr Großer so plötzlich
ohne Murren den Alltag bewältigt. Sie rechnet jeden Moment mit einem
Rückschlag, zu viel hat sie erlebt.
Und Adrians Mama
sagt strahlend, ihr Junge sei wie ausgetauscht.
Wie neu geboren.
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