Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Du
sollst töten
Die Geschichte
des mexikanischen Stierkämpfers Cristian Hernández, der den Stier
nicht töten wollte
Von Guido Mingels,
Das Magazin; 18.09.2010
Ein Mann mit einem
viel zu grossen Sombrero auf dem Kopf geht durch die Zuschauerreihen
und verkauft geschnetzelten Stierpenis an Tabascosauce. Unten im Ring
stirbt gerade ein Bulle. Er heisst Montañes, ein Berg von Tier, fast
500 Kilo schwer, Produkt der Zuchtfarm Coronado. Ein meterlanges
Schwert steckt bis zum Griff in seinem Nacken, rot glänzt sein
blutüberströmter Rücken, die geschwollene Zunge hängt aus dem
Maul, Urin rinnt unkontrolliert aus seinem Geschlecht in den Sand.
Das Tier steht still, es weiss noch nicht, dass es tot ist.
«Viril» nennt man
die Nascherei, wie sonst, der Mann mit dem Sombrero bietet sie in
kleinen Plastikbechern aus seinem Bauchladen an, zu 20 mexikanischen
Pesos die Dosis, etwa 1.50 Franken. Soll potent machen. Sieht aus wie
Litschi, fühlt sich im Mund an wie Tintenfisch, nur glibbriger.
Schmeckt nach: Tabasco. Cristian Hernández, zum Zuschauen verbannt,
Held und Verräter, spiesst ein Stück ums andere mit einem
Zahnstocher auf und hat schwer zu kauen. An seinem Imbiss und an
allem anderen auch.
Torero sin huevos,
nennen sie ihn, seit dem 13. Juni 2010. Torero ohne Eier.
Doch hier, in San
Luis de la Paz, einer staubigen Kleinstadt sechs Autostunden nördlich
von Mexico City, gibt es etwas zu feiern an diesem 25. August, dem
Todestag des heiligen Ludwig, zu dessen Ehren heute sechs Stiere
verenden werden. Die spanischen Eroberer hatten im 16. Jahrhundert
nicht nur Mord, Totschlag und Windpocken mitgebracht, sondern auch
Kampfspiele mit Stieren. Mexiko, das in diesen Tagen 200 Jahre
Unabhängigkeit feiert, ist hinter Spanien das Land mit der
zweitgrössten Anzahl von Stierkampfarenen. Über dreihundert sind
es, und in der Hauptstadt steht mit der 50 000 Zuschauer fassenden
Plaza de Toros México die weltgrösste Anlage ihrer Art. Corrida
heisst der Stierkampf in Spanien, Fiesta Brava in Mexiko.
DER WICHTIGSTE
TAG
Eine mobile Arena
ist aufgebaut worden in San Luis de la Paz, ein Paso-Doble-Orchester
trötet seine Weisen, die gekrönte Miss San Luis ist in einem
VW-Käfer-Cabrio durch den Ring gefahren worden und hat allen
gewunken. 3000 Leute sind gekommen, sechs Matadores werden ihren
Todesmut beweisen, keine grossen Namen, wir sind in der Provinz.
«Matador» kommt
von matar, töten: der, der tötet.
«Was soll ich
tun?», fragt Cristian Hernández, erschöpft und verzagt, am 13.
Juni in der Plaza de Toros México, seinen Assistenten, der hinter
der Barrera steht, der schützenden Holzwand, die den Ring umgibt. Es
regnet in Strömen. Der Stier schnaubt. «Matalo», sagt dieser. Töte
ihn. Dann rennt Cristian davon. Vor dem Stier und vor seinem ganzen
bisherigen Leben.
Der junge Mann, 22,
verfügt über die Traummasse eines Toreros, schlank und kaum länger
als einssiebzig, wohingegen grossen, muskulösen Männern die
Wendigkeit vor dem Bullen fehlt, sie sehen grobschlächtig aus in der
prachtvoll glitzernden Berufsmontur, der Traje de luzes, Anzug der
Lichter. Seine breiten Schultern verhelfen Cristian dennoch zu einer
unmissverständlichen Männlichkeit und einer imposanten Statur vor
dem Feind. Schliesslich nicht unwichtig für die Karriere, die er
sich erhoffte hat er ein ausgesprochen hübsches Gesicht.
Cristian konnte kaum
gehen, da nahm ihn sein Vater Román schon mit zur allsonntäglichen
Fiesta Brava in der Arena seiner Heimatstadt Santiago de Querétaro.
Mit zwölf war er ein Becerrista, Kälberkämpfer, und übte sich
gegen Jungbullen, denen kein erwachsener Mann, des Stierkampfs
unkundig, jemals nahe zu kommen wagen würde. Mit siebzehn ernannte
man ihn zum Novillero, Novize, und er tötete seinen ersten
ausgewachsenen Stier vor Publikum. 115 Kampfbullen hat er in seiner
bisherigen Laufbahn den Todesstoss versetzt, ein Dutzend Mal ist er
verwundet worden dabei, dreimal schwer.
Der Kampf in Mexico
City am 13. Juni sollte sein letzter werden vor seiner Weihe zum
Matador, ein Titel, den erst ausgereifte und erfahrene Stierkämpfer
tragen dürfen. Alles, was bisher geschehen war im Leben des Cristian
Hernández, lief auf diesen Tag zu, auf die Erfüllung seines Traums.
DAS IST NICHT
MEIN DING
Doch am 13. Juni
geht der Videobeweis seiner Flucht vor dem Stier via Youtube um die
Welt. Mehr als hunderttausend Menschen haben diesen siebzig Sekunden
kurzen Film angeklickt, auf dem man einen jungen Torero sehen kann,
der mit kurzen Schritten, zu denen ihn sein enges Kostüm zwingt,
über den Sand wieselt, sein Schwert und sein rotes Kampftuch fallen
lässt und sich dann kopfvoran über die rettende Schutzwand stürzt.
Man sieht auch den Stier, der zurück bleibt auf dem Feld, ratlos und
unwissend, dass der Kampf vorbei ist. Sofort halten Reporter dem
Torero Mikrofone ins Gesicht, und er sagt diesen Satz, den er später
bereut: «Me faltaron huevos, mir haben einfach die Eier gefehlt,
esto no es lo mio, das hier ist schlicht nicht mein Ding.» Dann geht
er zurück in den leeren Ring und schneidet sich die Coleta ab, den
künstlichen Haarzopf im Nacken, den jeder Torero trägt als Zeichen
seines Berufsstandes, eine Geste, die ein Stierkämpfer normalerweise
erst beim Übertritt in den Ruhestand vollführt. Cristian zeigt dem
Publikum das geflochtene Büschel Haar, reckt es kurz in die Luft, so
wie er früher unter Akklamationen der Aficionados die
abgeschnittenen Ohren von besiegten Bullen präsentierte, die ihm
verliehen worden waren als Auszeichnung für einen besonders
gelungenen Kampf. An diesem Tag aber wird er ausgebuht für seine
Feigheit vor dem Stier.
«Stierkämpfer in
Panik», titelt «Semana News» in Mexico. «Horror vor den Hörnern»,
erkennt Sky News in den USA. «Ein Torero kommt zu Sinnen», glaubt
der «Guardian» in England. «Flüchtender Matador gebüsst», weiss
die «Times of India» in Mumbai.
Denn die Schmach ist
noch lang nicht zu Ende für Cristian Hernández. Er wird noch in der
Arena verhaftet wegen Vertragsbruchs, da er sich verpflichtet hatte,
den Stier zu töten. Als er in einem Dienstwagen zur nächsten
Polizeiwache gefahren werden soll, hält der Mob das Auto auf,
hämmert auf das Dach, manche giessen Bier darüber, sie schreien
«¡Pendejo!», Feigling, «¡Huevon!», Schlappschwanz, «¡Maricon!»,
schwule Sau, mühsam bahnt sich der Wagen einen Weg. Auf der Wache
wird er verhört, dann sperrt man ihn drei Stunden in eine Zelle,
lässt ihn warten, denn die Beamten müssen erst einmal herausfinden,
wie mit einem solchen Delinquenten zu verfahren sei. Schliesslich
wird ihm beschieden, dass das Gesetz eine Busse von dreihundert
Tagessätzen Mindestlohn vorsehe, 16 000 Pesos, 1250 Franken. Dann
lassen sie ihn laufen. Anderntags verkündet die mexikanische
Stierkämpfervereinigung, dass Cristian Hernández per sofort aus dem
Verband ausgeschlossen sei.
Drei Tage darauf
erhält Cristian ein E-Mail einer gewissen Ingrid Newkirk, der
Präsidentin der 2 Millionen Mitglieder umfassenden amerikanischen
Tierschutzorganisation Peta, die ihm zu seiner Entscheidung
gratuliert, den Stier nicht zu töten. Sie hat eine Ehrenurkunde mit
dem Titel «Echte Männer quälen keine Tiere» beigefügt und bietet
an, das Bussgeld zu bezahlen. Die Nachrichten der Stierkampfgegner
treffen im Dutzend bei ihm ein, eine Sina Merete aus Norwegen
schreibt, «Du hast der Welt gezeigt, dass du nicht mehr mitmachen
willst bei dieser Schlachterei! Thank you so much!!». Sein
Facebook-Account quillt über mit Freundschaftsanfragen, vor allem
von Frauen, er hat inzwischen 4041 Online-Freunde rund um den Globus.
«Das Leben geht weiter», hat Daniela gepostet, «du hast mehr Eier
als alle anderen», schreibt Zarii, «wir brauchen mehr Männer wie
dich!», sagt Margerita, zu ihm, dem Torero, dieser reins-ten
Verkörperung des Latino-Machos. Sie lieben ihn für seinen Mut zur
Schwäche, für seine zur Schau gestellte Angst, ihn, den
Stierkämpfer, den Killer.
ADRENALIN FÜR
ARME
Schon Cristians
Grossvater, José Hernández Espinoza, wollte Matador werden, ebenso
sein Vater, doch beide, sagt Cristian, konnten es sich nicht leisten,
also investierten sie in den Sohn und Enkel. Torero zu werden, kostet
viel Zeit und viel Geld, und die meisten Stierkämpfer stammen aus
der Unterschicht. Jeden Tag der letzten Jahre trainierte Cristian von
sieben Uhr morgens bis mittags, vor allem Fitness und Pilates, zur
Körperbeherrschung. Wöchentlich traf er seinen Meister, den Matador
José María Luevano, und sie mimten füreinander abwechselnd den
Bullen, jeweils ein Paar Hörner vor sich hertragend. Eine
20-minütige Trainingseinheit mit einem echten Stier kommt auf 6000
Pesos zu stehen, rund 500 Franken. Auch die Ausrüstung Uniform,
Schwerter, rote Tücher ist nicht billig. Fast jedes Wochenende
während der Saison hat Cristians Vater seinen Sohn in den letzten
Jahren zu einem Kampf gefahren, in Aguascalientes, Veracruz oder
Monterrey, mehr als eine Million Pesos, knapp 100 000 Franken, hat
die Sippe aufgebracht für sein Noviziat. Das Architekturstudium
hatte er bald wieder aufgegeben, keine Zeit. Gagen für ihre
lebensgefährlichen Darbietungen erhalten No- villeros nie, manchmal
müssen sie sogar mitbezahlen für den Bullen. Sie tun es, weil sie
Auftrit-te brauchen und in der Hoffnung, dass sich alles irgendwann
lohnen wird, später, wenn sie so berühmt sein werden wie José
Tomas oder El Juli, die grossen Spanier, de-ren Poster in Cris-tians
Zimmer hängen, die pro Kampf bis zu 100 000 Dollar verdienen und
deren Affären in den Klatschspalten stehen.
Aber die meisten
Stierkampfsta- dien in Mexiko wie in Spanien sind seit langer Zeit
halb leer. Nur noch in Touristenorten wie Cancún floriert das
Geschäft, ein Publikum von Gringos, die nicht wissen, wann sie
klatschen müssen, und die zu höflich sind zum Buhen. 84 Prozent von
120 000 befragten Mexikanern haben bei einer Untersuchung angegeben,
die Brutalität im Stierkampf sei ihnen zuwider. Und im Mutterland
Spanien haben die Katalanen im Juli dieses Jahres die Corrida
verboten.
Was, Cristian,
fasziniert dich so sehr an diesem Spiel, das nicht mehr in die
Gegenwart passt?
Er lächelt und
schlägt sich mit der Handfläche rhythmisch auf sein Herz.
«Adrenalin», sagt er. Dieses rasend schnelle Pumpen des Herzens.
Nichts sei vergleichbar mit diesem Moment, Auge in Auge mit einer
halben Tonne Stier, einer der kraftvollsten Kreaturen, die auf der
Erde gehen. Und nur diese Art der Gefahr sei es, die ihn reize,
niemals würde er mit einem Gummiseil an den Füssen von einer Brücke
springen, er leide an Höhenangst. Es gebe zwei Arten von Toreros,
sagt er, Artistas und Tremendistas, Künstler und Draufgänger, und
er gehöre zu den Letzteren. Im Wohnzimmer seines Elternhauses legt
er eine DVD mit seinen besten Momenten ein, man sieht ihn direkt vor
dem schmalen Tor knien, durch das der Stier in den Ring getrieben
wird, er ruft das Tier, schwingt seine rote Capote, bis der Bulle,
der nur diesen Ausweg hat, auf ihn zugestürmt kommt und über ihn
hinwegspringt.
In San Luis de la
Paz ist bereits der vierte Matador an der Reihe, ein Mann namens
Víctor Santos. Der Stier ist von den berittenen Picadores mit ihren
Lanzen übel zugerichtet worden, dann haben ihm die drei
Banderilleros je zwei mit buntem Tand verzierte Stöcke, Banderillas,
in den Rücken getrieben. Diese Verletzungen, erklärt Cristian auf
der Tribüne, geschehen nach dem immer selben Muster und verfolgen
einen genauen Plan. Zum einen wird der Stier durch den Blutverlust
geschwächt, zum andern wird der hochausgebildete Muskelstrang in
seinem Nacken derart verstümmelt, dass er seinen mächtigen Schädel
mit den scharfen Hörnern kaum mehr heben kann.
AUFGEBEN VERBOTEN
Beim Todesstoss muss
das Schwert einen handtellergrossen Punkt treffen, nur dort kann die
Klinge zwischen den mächtigen Schulterblättern hindurch und
hoffentlich an der Wirbelsäule vorbei in die Eingeweide vordringen,
wo sie im Idealfall eine Hohlvene zerschneidet. Sehr oft springt das
Schwert jedoch an einem Knochen ab oder dringt nur zur Hälfte ein
und muss vom Matador vor dem nächsten Versuch unter Schmährufen der
unbarmherzigen Zuschauer wieder herausgezogen werden.
Doch soweit kommt
Víctor Santos gar nicht. In einem jener seltenen Momente einer
Corrida, wenn der Tod, der für den Stier fast immer sicher ist, auch
für den Matador von der blossen Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit
wird, erfasst der Bulle mit einem unerwarteten Schwenker seines
Schädels seinen Gegner und hebt ihn mühelos in die Luft, wie ein
Propeller wird der grosse Mann über den Hörnern herumgewirbelt,
fällt dann zu Boden, und das Tier trampelt wütend über ihn hinweg.
Die Menge im Kreisrund schreit auf, hingerissen von Mitgefühl und
der Lust an diesem Augenblick, auf den es im Grunde nur gewar- tet
hat. Víctor Santos sieht nicht gut aus, blutverschmiert, mit
schmerzverzerrtem Gesicht, ein Unterschenkel steht in unnatürlichem
Winkel vom Knie ab.
Ein paar Helfer
lenken den Bullen mit wilden Schwenkern ihrer Capotes weg vom
Geschehen, vier Männer tragen den Matador aus dem Ring. Hatte die
Menge den Torero zuvor noch ausgebuht für einen langweiligen Kampf,
so skandiert sie ihm jetzt minutenlang mit «¡Torero!»-Rufen Mut
zu, während er, für alle sichtbar, ausserhalb des Rings verarztet
wird. Dann geschieht das Unglaubliche. Santos kommt, auf einen
Sanitäter gestützt, humpelnd in den Ring zurück, sein rechtes Bein
ist an zwei Stellen mit silbernem Heimwerker-Klebeband einbandagiert,
er hält seinen Säbel in der Hand. Der Mann will den Job
offensichtlich zu Ende bringen. Und tut es auch. Zwar braucht er
seine drei Hilfs-Toreros, die den Stier bis zur Apathie erschöpfen
und ihn dann dem Meister, der kaum stehen kann, schlachtgerecht
positionieren, sodass Santos, dessen Gesicht pure Angst ist, nur noch
das Schwert dort einzuschieben braucht, wo es hingehört. Und endlich
ist das Vieh erledigt. Das Publikum feiert seinen Helden, den
wiederauferstandenen Torero, und es schreit «¡Oreja!, ¡Oreja!»,
ein Ohr vom Stier als Belohnung für Víctor Santos, der trotz einem
zertrümmerten Knie nicht aufgegeben hat, der seine Ehre behalten
hat, denn niemals darf ein Matador, so er nur irgend kann, den Ring
verlassen, wenn der Stier noch lebt. Niemals.
DER FALSCHE STIER
Daran erinnert
Cristian Hernández sich genau: Die Leuchtanzeige auf dem Hotelwecker
im Holiday Inn zeigt 5:18 Uhr an, als er am Morgen des 13. Juni
erwacht. Viel zu früh, der Kampf ist nachmittags um vier. Er geht
duschen, dreht den Fernseher an, es läuft Fussball,
Weltmeisterschaft in Südafrika, Serbien gegen Ghana, er schaut das
ganze Spiel, er ist nervös. Um neun trifft sein Assistent ein, Pedro
Escamilla, um die Schwerter zu schleifen. Um elf kommt sein Vater von
der Stier-Verlosung in der Arena zurück, Toreros gehen niemals
selbst zur Verlosung, Aberglaube. Und der Vater hat schlechte
Nachrichten. Es ist schon schlimm genug, dass Cristian und die andern
beiden Novilleros an diesem Tag gegen Stiere aus der De Haro-Zucht
kämpfen sollen, berüchtigte Viecher, bekannt für ihre besondere
Aggressivität und Schlauheit. «Einen De Haro kannst du einmal
reinlegen, vielleicht auch zweimal», sagt Cristian, «aber beim
dritten Mal hat ers durchschaut.» Matadoren von Rang kämpfen
niemals gegen De Haro-Stiere, zu gefährlich, aber Novilleros haben
keine Wahl, sie müssen töten, was sie kriegen. Einer der beiden
Stiere, die das Los ihm zugewiesen hat, ist der gröss-te und
schwerste von allen, vier Jahre alt, 472 Kilo schwer, Augurio mit
Namen, spanisch für Zeichen oder Omen. Kein gutes Omen, kein guter
Tag.
Dann packt sein
Assistent den Anzug aus, poliert die Schuhe, hilft Cristian in die
Jacke, knotet die schmale Krawatte, das Anziehen dauert fast eine
Stunde. Vor dem kleinen, selbst aufgebauten Altar mit Figuren der
Jungfrau von Guadalupe und des heiligen Charbel, Schutzpatron der
Toreros, den er vor jedem Kampf aufstellt, spricht er im Hotelzimmer
still das Gebet, das er von seinem Idol gelernt hat, dem grossen
mexikanischen Matador David Silvetti, der sich im Jahr 2003 eine
Kugel durch den Kopf jagte, weil ihn eine Verletzung zum Rücktritt
gezwungen hatte. «O Herr aller Macht und Güte, der du alle Kräfte
verleihst und allen Mut, ich bitte dich um Vergebung für meine
Schwächen und lege mein Schicksal in deine Hände.» Danach brechen
die Männer auf zur Arena.
In der Küche der
Familie Hernández kandiert Cristians Mutter, Monserrath Galvan
Rangel, ein paar Nüsse zum Nachtisch, sie trägt ein T-Shirt mit der
Aufschrift «Adore The Shore». Mit dem Jesuskind, das im Flur in
einem Schrein auf eine Wiege gebettet liegt, hat sie einen Vertrag
geschlossen: Immer, wenn der Sohn vom Kampf heil nach Hause kommt,
kriegt es ein neues Kleidchen. Beim letzten Mal half es nichts. Wie
kann man auch an einem 13. kämpfen! Monserrat hat die bösen Zahlen
durchschaut, die gegen Cristian sprachen. Nachdem ihr Sohn am 23.
April im Jahr 2005 seinen ersten Kampf als Novillero focht, erlitt er
exakt fünf Jahre später, am 23. April 2010, in der Heim-Arena Santa
Maria de Querétaro seine dritte und schwerste Cornada, wie man die
Verletzungen durch Hornstösse nennt, eine achtzehn Zentimeter lange
Wunde am Unterschenkel. Der Stier verbog dabei die Metallplatte, die
die Ärzte Cristian nach seiner ersten Cornada zwei Jahre davor in
den Knochen geschraubt hatten. Er hat ein Foto vom Unfall auf seinem
iPhone, er zoomt an die klaffende Wunde heran. «Das», sagt die
Mutter und tippt auf das Telefon, «hat seinen Mut gebrochen.» Der
Sohn widerspricht nicht, entweder weil es stimmt oder weil er der
Mutter grundsätzlich nicht widerspricht. Nur sechs Wochen danach
kehrt Cristian Hernández für seinen wichtigsten Kampf zurück in
den Ring.
Wer den Stierzüchter
Alejandro Martinez Vertiz finden will, braucht ein gutes GPS-Gerät
und einen Jeep mit Vierradantrieb. Die Schotterstrassen in der Sierra
werden schmaler, die Löcher tiefer, die bewohnte Welt verschwindet
hinter einem Vorhang aus Steinen und haushohen Kakteen, bis nach
einer Ewigkeit ein märchenhaftes Landhaus auftaucht mit einem
Gärtner im Park, der die Agaven wässert. Es ist zwei Uhr
nachmittags, Alejandro, Abkömmling reicher Grossgrundbesitzer und
selbst Freizeit-Matador, ist gerade aufgestanden und muss erst seine
Haare gelen, bevor er die Besucher mit seinem Pick-up auf Safari
mitnimmt zu den Bestien.
15 MINUTEN LEIDEN
Nach einer Querfahrt
durchs Gebirge tauchen sie endlich zwischen den Büschen auf, die
Toros Bravos. Sie stehen oder liegen in Gruppen herum, unendlich
träge, heben kaum den Blick, als das Gefährt naht. Kampfstiere?
Diese Berge von Sanftmut? Sieht eher aus wie ein Streichelzoo im
Garten Eden. Alejandro erklärt: Streicheln wäre problemlos möglich,
ist aber nicht erlaubt, denn es gilt das Gesetz in der
Kampfstierzucht, dass die Tiere niemals einem Menschen zu Fuss
begegnen dürfen, man nähert sich ihnen nur zu Pferd oder eben im
Auto. Sie sollen an ihrem letzten Tag keinen Begriff haben von der
Gestalt eines Menschen. Sie sollen nicht erahnen, dass dieses Wesen
auf zwei Beinen der eigentliche Feind ist und nicht das rote Tuch,
auf dessen ruckartige Bewegungen sie reagieren.
Wie aber, Alejandro,
bringt man dieses friedvolle Geschöpf dazu, in der Arena plötzlich
zu explodieren vor Wut und vor Kraft? Alejandro erklärt: Rinder sind
Herdentiere, in der Gruppe fühlen sie sich sicher. Aus Instinkt
wissen sie, dass Isolation Gefahr bedeutet, und erst wenn sie allein
gelassen werden, was am Tag des Kampfes im Ring geschieht, greifen
sie alles an, was sich bewegt. Es ist nicht Aggression, die den Stier
antreibt. Sondern Angst, Notwehr, Einsamkeit.
Sicher ist der Tod
eines Kampfbullen grausam. Doch er «leidet in seinem Leben nur 15
Minuten», wie Alejandro sagt. Davor geniesst er ein Leben, von dem
jedes Schlachtvieh und jede Milchkuh nur träumen kann. Wer
Stierkampf barbarisch findet und ihn abschaffen möchte, sollte
besser auch Vegetarier sein, denn in jedem Schnitzel auf dem Teller
steckt mehr tierisches Leid als in einem toten Toro Bravo.
SIEG ÜBER DIE
NATUR
Es ist bereits der
fünfte Durchgang des Tages in San Luis de la Paz, als Cristians
Mentor und Meister, José María Luevano, so formvollendet mit dem
Stier tanzt, dass man den Blick nicht abwenden kann. Das Tier jagt in
wilden Kreisen ein Gespenst hinter der roten Capote, vom schmächtigen
Torero dirigiert wie eine Marionette, während dieser selbst fast
reglos und nur Zentimeter von ihm entfernt in der Mitte steht. Die
absolute Animalität des Stiers, vollkommen dominiert durch den
strengstmöglichen Willen des Mannes.
«Im Stierkampf
wiederholt sich ri- tuell der Sieg des Menschen über ein Tier, das
ihm menschheitsgeschichtlich betrachtet noch bis vor Kurzem überlegen
war, ein Sieg über die Natur.» Das sagt Julio Téllez Garcia,
mexikanische Stierkampf-Koryphäe, der seit 38 Jahren immer Montag
abends die Fernsehsendung «Toros y Toreros» moderiert. Matadores,
sagt Téllez, seien zeitlose Wesen aus einer anderen Welt, ausserhalb
jeder gesellschaftlichen Ordnung stehend, lebende Mythen, «und die
besten von ihnen wa- ren echte Bohémiens, Betrunkene, Wahnsinnige,
Verliebte, Frauenhelden», Künstler eben. Téllez hat Cristian
Hernández als Novillero ein paar Mal kämpfen sehen, «ein riesiges
Talent, ein wunderbarer Junge», aus dem, wie er glaubt, einmal ein
ganz Grosser hätte werden können. Julio Téllez Garcia kann sich
nicht erklären, «wie dieser Junge von einem Tag auf den andern zum
Feigling werden konnte».
HUNDERT PROZENT
BIO
Draussen vor der
Arena in San Luis de la Paz steht der Metzgerwagen. Auch der letzte
tote Stier des Tages wird von zwei geschmückten Pferden aus der
Arena geschleift und direkt auf dem staubigen Grund von fünf
Fleischern zerlegt. «Das Fleisch schicken wir nach Mexico City»,
sagt einer der blutverschmierten Männer. Öko-Restaurants in der
Hauptstadt seien wild auf Kampfstiersteaks, weil diese Tiere
keinerlei Hormone oder andere Substanzen erhalten. «100 Prozent
Bio!»
Eine Woche nach dem
13. Juni meldet sich ein spanischer Fernsehsender bei Cristian, man
möchte ihn in einer Live-Sendung in Madrid dabei haben, Flug und
Aufenthalt bezahlt. Spanien ist das Traumziel in der Karriere jedes
jungen südamerikanischen Toreros, und obwohl sich Cristian die Reise
dorthin anders vorgestellt hatte, nimmt er die Einladung an. Auf
seiner Facebook-Seite postet er Touristenschnappschüsse. Später,
wieder zu Hause in Mexiko, erreicht Cristian Hernández die Anfrage
eines Stierkampfveranstalters, ob er sich eine Rückkehr in den Ring
vorstellen könne, er biete 65 000 Pesos für einen Auftritt, 5000
Franken. Cristian versteht, dass man ihn jetzt als Torero sin huevos
vermarkten kann. Er lehnt ab.
Doch für immer
ausschliessen will er es nicht, sein Comeback. Er spricht von ein
paar Monaten Pause, um Gras wachsen zu lassen über die Schande. Zwar
hat er soeben ein Studium begonnen, Industrie-Kaufmann, er könnte,
denkt er, in ein paar Jahren Geschäftsführer werden in einem
lokalen Betrieb. Aber manchmal hört er dann wieder diese Stimme,
seine Berufung, die ihm sagt, du kannst etwas Aussergewöhnliches
sein. Du kannst ein Stiertöter sein.
Der Himmel ist
tiefgrau, als der Novillero Cristian Hernández in der Plaza de Toros
in Mexico City ankommt, bald wird es regnen. Es sitzen kaum tausend
Leute auf den Rängen, das riesige Stadion wirkt ausgestorben. Um
halb vier kämpft er gegen seinen ersten Stier. Das Tier gehorcht ihm
nicht, erlaubt ihm nicht zu zeigen, was er kann. Er will die Sache
schnell hinter sich bringen, doch das Schwert dringt kaum zur Hälfte
ein. Auch herausziehen geht nicht, der Stier ist unberechenbar,
unnahbar. Das Volk pfeifft, ruft die üblichen Beleidigungen. Erst
nach Ablauf der erlaubten Frist haucht der Bulle schliesslich sein
Leben aus, technisch gilt der Kampf für Cristian als verloren. Dann
hat er zwei Stiere lang Pause und sieht, dass es den Kollegen auch
nicht viel besser ergeht. Verdammte Toros. Verdammter Tag.
Dann, direkt vor
seinem zweiten Auftritt, setzt eine Sturzflut ein, wie Mexico City
sie in der Regenzeit öfter erlebt. Der Sand wird zu Schlamm. Augurio
stürmt aus dem Tor, ein prächtiges Tier, doch ohne die geringste
Lust zum Paartanz mit dem Tod. Der Kerl macht, was er will. Dass der
Picador ihm mit seiner Lanze schon heftiger zugesetzt hat als üblich,
scheint ihn nicht weiter zu stören. Nur ein einziger Banderillero
setzt seine Stöcke in den Stierrücken, den andern beiden ist das
Terrain zu rutschig, sie bleiben in Deckung. Bereits verlassen die
ersten Zuschauer unter Pfiffen das Stadion, wegen des Regens und der
miesen Show. Cristian tauscht die Capote, das grosse rote Tuch, gegen
die handlichere Muleta ein, die nur in der Schlussphase zum Einsatz
kommt, und ergreift sein Schwert. Jetzt steht er im Ring, durchnässt,
die Schuhe im Dreck, dumpf hört er die Schimpftiraden von den
Rängen, weit weg steht das Tier. Er ist müde. Er sieht keinen Sinn.
Er hat Angst.
«Was soll ich
tun?», fragt Cristian seinen Freund und Assistenten, Pedro
Escamilla, der hinter der Holzwand steht.
«Töte ihn», sagt
dieser. «Töte ihn einfach irgendwie.»
Cristian Hernández
blickt auf den Stier, sieht, wie er mit den Hufen scharrt, hört, wie
er schnaubt.
Dann rennt er davon.
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