Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Da
kann ja jeder kommen
Unser Autor
beendet gerade seinen Zivildienst, als die Mauer fällt und im Osten
der Pflegenotstand ausbricht. Er will helfen, reist kreuz und quer
durch die DDR, aber keiner will ihn haben. 20 Jahre später macht er
die Reise nochmal.
Von Alex Rühle,
Süddeutsche Zeitung, 07.11.2009
Einige Wochen nach
dem Mauerfall machte Hajo Friedrichs die „Tagesthemen” auf mit
einem Bericht über die katastrophale Situation in den Krankenhäusern
und Pflegeheimen des Ostens. Ganze Abteilungen mussten damals
schließen, weil so viele Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte in
den Westen gingen. Ich erinnere mich noch an das Bild einer Ärztin,
die in einem endlosen, linloleumglänzenden Gang stand und sagte, sie
sei inzwischen alleine in diesem Trakt. Das Ganze hatte für mich als
Westzuschauer was von Liveberichterstattung aus Rumänien. Noch am
selben Abend fasste ich den Entschluss, rüberzufahren in den Osten
und dort in irgendeinem Krankenhaus zu helfen. Ich hatte meinen
Zivildienst gerade hinter mir und einige Monate Zeit, bevor das
Studium losging. Warum ich das machen wollte, vermag ich 20 Jahre
später nicht mehr genau zu sagen. Vielleicht kann man in Umkehrung
eines mittlerweile ziemlich ausgelutschten Zynikerbonmots sagen: Ich
war jung und brauchte kein Geld.
Der Zug nach
Nürnberg war damals rappelvoll, in dem nach Hof und Saalfeld saß
ich dann fast alleine. Der deutsch-deutsche Grenzverkehr war in jenen
Wochen eine Einbahnstraße: Allein in den ersten zwei Wochen des
neuen Jahres meldeten sich 20 818 DDR-Bürger bei den bundesdeutschen
Behörden, die im Westen bleiben wollten. Am 12. Januar, dem Tag, an
dem ich fuhr, teilte Bayerns Sozialminister Gebhard Glück mit, dass
Übersiedler künftig keine Entschädigung mehr für zurückgelassenes
Vermögen oder Hausrat erhalten, man könne schlichtweg nicht alle
bezahlen.
Aus
meinem damaligen Tagebuch (alle kursiven Stellen in diesem Text
stammen aus dem Tagebuch): 12.
Januar 1990 – sitze im grasgrünen Reichszug, der nach Plaste
riecht. Mit mir im Abteil ein älteres sächisches Paar, er liest die
tz, auf der Titelseite steht: ,,Riesige Nachfrage in der DDR nach
Pornos und Erotikartikeln.‘‘ Tja, hätt ich wohl anders packen
müssen. Ich hab nur eine Tasche voller Umweltbroschüren im
Rucksack. Backpflaumen für Tante Bärbel, falls ich bis Dresden
komme. Ansonsten dieses Tagebuch, Pulli, Schlafsack, und obendrauf
die Ängste von Mami und Papi, die gestern nachmittag auf mich
einredeten: mordende SED-Verbände, Neonazihorden, neidische
DDR-Bürger! Und wo willst du überhaupt wohnen?
Das mit dem Wohnen
war das Beste an der Reise. Mein Plan war, mich vom Bahnhof aus
durchzufragen zur Kirche, so ein Pfarrer muss einen doch
unterbringen. Zumal einen, der umsonst das Gesundheitswesen der DDR
retten will. Aber ob nun in Saalfeld, Erfurt oder Arnstadt, Weimar,
Eisenach, Jena oder Leipzig – ich kam kein einziges Mal bis zum
Pfarrer, immer sagte der Erste oder Zweite, den ich nach dem Weg zur
Kirche fragte, ach kommse mit zu uns.
,,Entschuldigen Sie
die Störung, mein Name ist Alex Rühle, spreche ich mit Herrn
Demmler?‘‘ – ,,Ja.‘‘ – ,,Haben Sie eine Tochter namens
Kathi?‘‘ – ,,Was wollen Sie denn?‘‘ – ,,Sie werden sich
nicht an mich erinnern, aber ich hab mal vor 20 Jahren bei Ihnen
übernachtet. Ich bin gerade im ICE, fahre die Strecke jetzt nochmal
ab und wollte fragen, ob ich bei Ihnen vorbeikommen darf.‘‘
Abends, beim zweiten Bier, in der Küche in Saalfeld, in der ich vor
20 Jahren schon einmal saß, sagt Herr Demmler: ,,Als Sie vorhin
anriefen, dachte ich zuerst, Sie wollen mir etwas andrehen, ein Abo
oder so was. Wir haben erst mal unsere Tochter angerufen, ob die sich
an Sie erinnert.‘‘
Das Gedächtnis ist
wie ein streunender Hund, keine Ahnung, wo es seine Marken setzt: Ich
erinnere mich an die Bachstatue in Arnstadt. An die Kirche in
Eisenach, in der an meinem ersten Abend in der Stadt eine Versammlung
war, auf der der Pfarrer sagte, man solle bitte nicht mit den Füßen
applaudieren, das halte die Statik nicht aus. Das war ein
beeindruckendes Bild für die bebende Spannung, die über diesen
ersten Tagen der Reise lag. Und ich erinnere mich an Kathi, die
damals 17-jährige Tochter von Demmlers, mit der ich an meinem ersten
Abend im Osten gleich demonstrieren ging.
Wir laufen durch
Braunkohle- und Trabbidunst, vorbei am Stasigebäude und an Kathis
Schule. Sie zeigt mir ihr Klassenzimmer, in dem statt des Honnibilds
nur noch ein verräterischer Staubschatten zu sehen ist. Zu Hause bei
Demmlers geht’s um die SED und die arroganten Bundis, und Herr
Demmler fragt, was es mit diesem Aids auf sich habe, ob das jetzt
auch zu ihnen komme. Als ich ihnen was von dem Schokoladevorrat
schenke, den Mami mir kurz vor der Abfahrt noch in den Rucksack
gestopft hat, komm ich mir blöde und gönnerhaft vor. Als würden
wir alte Rollen spielen, reicher Bundi, dankbarer Zoni.
20 Jahre später
stellt Frau Demmler Mon Cheri und Smarties hin, ,,all die Sachen,
die’s bei Ihrem letzten Besuch noch nicht gab”, und Herr Demmler
sagt, der Westen sei an dem Tag in Saalfeld angekommen, an dem es
erstmals Bier im Konsum gab. Frau Demmler erzählt von ihrem ersten
Westbesuch mit D-Mark, auf dem Oktoberfest, im Herbst 1990, morgens
hin, abends zurück. ,,Wir haben uns nichtsahnend ins Käferzelt
gesetzt, weil das das einzige Zelt war, in dem noch Tische frei
waren. Und ich weiß noch, wie sauer ich auf meinen Mann war, dass er
mit dem kostbaren Westgeld Eurostar fahren musste‘‘, sagt Frau
Demmler. ,,Das hab ich doch sofort bereut‘‘, ruft er. ,,Wie elend
hoch das war! Wie die gekreischt haben in den Wagen. Ich wollte
unbedingt wieder raus aus der Schlange, aber ich wurde in den Wagen
geschoben, festgeschnallt mit einem Riesenbügel und dann – der
reine Horror.‘‘ Am Wochenende danach war Wiedervereinigung. Da
fing die Achterbahn erst richtig an.
Meine
Reise durch den Osten war damals keine Achterbahn, dafür waren schon
die uralten Busse und Züge zu langsam. Aber es wurde eine groteske
Irrfahrt: Sie wollten mich alle nicht haben. Ich habe es in acht
Kliniken, einer psychiatrischen Anstalt und einem Altersheim
versucht. Jedesmal hielt mir der Personalleiter händeringend einen
Vortrag, wie dramatisch die Situation sei. Wenn ich dann sagte, na,
da kann ich doch helfen, ich will kein Geld, such mir selber eine
Wohnung und kann pflegerisch so dies und das, war erst mal Stille.
Dann hieß es, da gebe es noch keine Gesetze, da müsse man warten,
bis es neue Vorschriften gebe. Wenn ich sagte, dann halt ohne
Vertrag, hieß es, das sei illegal. Am besten war der Mann im
thüringischen Landeskrankenhaus in Erfurt: Nachdem
er mir lang und breit schilderte, was für ein Drama es sei, alle
hätten rübergemacht, mittlerweile sei die Dialyse geschlosssen, das
müsse ich mir mal vorstellen, die einzige Dialyse in Thüringen,
sagte er auf meinen Vorschlag: ,,Na, also da könnt’ ja nu’ jeder
kommen.‘‘ Mann Leute, dann halt nicht.
Jeder, dem ich die
Geschichte erzähle, lacht. Habe ich damals auch. Diese Ossis.
Überfordert von der Situation. Verunsichert. Obrigkeitshörig.
Deformiert von der Planwirtschaft. Aber man müsste mal die Probe
aufs Exempel machen und durch westdeutsche Kliniken gehen mit dem
Ansinnen, dort kostenlos und ohne Arbeitsvertrag so dies und das zu
arbeiten. Niemals würde das klappen. Nirgends. Sozialgesetzgebung.
Arbeitsrecht. Unfallversicherung. Haftpflicht. You name it, they have
it.
Das
Gute daran war: Durch diese bizarre Komplikation kam ich durch lauter
Städte, die normalerweise nicht auf der Erlebnispayroll eines
Zwanzigjährigen stehen. Ich stand in Saalfeld, gleich am ersten
Abend, in dem Kreis, der das örtliche Stasigebäude umzingelte,
hielt Kathis Hand in der Linken, die raue Pranke eines Töpfers in
der Rechten, und dachte, so fühlt sich also der Mantel der
Geschichte an. Ich hab die Grünen von Eisenach mitgegründet, das
heißt, die haben sich natürlich ohne mich gegründet, aber da ich
der Einzige war an dem Abend, der Westgeld hatte, bin ich am Tag nach
der Gründung nach Herleshausen rüber, in den Westen, und habe dort
die erste Büroausstattung für die Partei gekauft, Eddings,
große Papierbögen, und am Abend haben wir Plakate gemalt, die ich
heute morgen in einigen Geschäften aufhängte: ,,Düster, Dreckig,
Rauchverhangen‘‘ oder ,,11.59 für unsere Umwelt‘‘.
Ich bin dann noch zweimal über diese Grenze in den kommenden Tagen,
was tut man nicht alles für die Partei, beim dritten Mal blaffte
mich der Grenzer an, ich solle mich jetzt mal entscheiden, rüber
oder nüber, endlos werde er dieses Hin und Her nicht mehr mit
ansehen.
Ich
wusste beim Tagebuchschreiben natürlich nicht, dass ich die Tour 20
Jahre später aus journalistischen Gründen nochmal machen würde,
auf der Suche nach Ortsflair und ehemaligen Gastgebern. Wie soll man
in Leipzig eine Frau finden, die in meinem Tagebuch nur als Silke
auftaucht, Silke,
die überall, in allen Zimmern, auf allen Tischen und Fensterbänken
Blumentöpfe stehen hat, weil sie das Grau so ankotzt?
Oder die namenlose Kleinfamilie in Arnstadt, in deren unbeheizter
Wohnung ich mir einen Schnupfen holte? Von der weiß ich immerhin,
dass sie eine Tochter namens Sophie hatte, ich habe nämlich einen
Dialog beim Frühstück festgehalten:
Sophie: Papa, ist
Arnstadt in der DDR?
Vater: Na klar,
alles hier ist DDR.
Sophie: Versteh
ich nicht.
Vater: Macht
nichts, wenn du groß bist, gibt’s eh keine DDR mehr.
Als ich jetzt in
Arnstadt um halb sechs Uhr abends nach dem Weg zum Personalbüro des
Krankenhauses frage, erlebe ich eine Art Déjà-vu meines damaligen
Versuchs, hier zu arbeiten: ,,Entschuldigen Sie, wo ist denn hier die
Verwaltung?‘‘ – ,,Da ist jetzt keiner mehr. Ich bring Sie hin,
aber was wollen Sie denn da?‘‘ – Auf dem Weg zur Verwaltung
fange ich an zu erzählen, die Frau unterbricht mich: ,,Ach, Sie
wollen wohl hier arbeiten?‘‘ – „Nein, ich hab 1990 . . .‘‘
– ,,Hier is nix frei, das kann ich Ihnen glei soochn.‘‘ –
,,Ich will ja gar nicht hier arbeiten.‘‘– ,,Schauen Sie‘‘ –
sie drückt die Tüklinke runter – ,,schon zu. Müssen Sie montags
um acht wiederkommen. Aber ich glaub wirklich, es ist besser, Sie
gehen zum Arbeitsamt.‘‘ Weg ist sie.
Es herrscht ähnlich
vergilbtes Licht wie damals, aber da kann ja der Osten nichts dafür,
November ist November, 20-Watt-Beleuchtung allerorten und eine Art
Sachzwangwetter, kühl, bewölkt und zugig. Ich komme natürlich in
komplett andere Städte als damals, alles makellos rausgeputzt wie in
Märklinlandschaften, wenn ich in 20 Jahren wieder so eine
Ostalgietour mache, sollte ich mir Zeit nehmen und
bildungsbürgermäßig umherpilgern, so wie es all die älteren
Herrschaften hier zu machen scheinen. In Eisenach weisen japanische
Wegweiser in Richtung Bachhaus, in Saalfeld glänzt jeder einzelne
Fachwerkbalken in Xyladecor, Arnstadt hat etwas von einem
Kulturkurort, und in Erfurt strahlt nachts der Hugendubel wie ein
eben gelandetes Raumschiff über den Marktplatz. Hier liest die
großartige Berliner Reporterin Jutta Voigt am Abend aus ,,Im Osten
geht die Sonne auf‘‘, Reportagen aus den achtziger und neunziger
Jahren, zehn Jahre vor, zehn Jahre nach der Wende. In einem Text von
1991 heißt es: ,,Die SED-Ideologen legten immer Wert auf die
Feststellung, dass die Menschen im Kapitalismus ein sinnentleertes
Leben führten, weil sie keine Ideale mehr hätten. Damals entstand
ein sarkastisches Bonmot: ,Die Leute im Westen haben keine Ideale
mehr; die Menschen im Osten haben ein Ideal – den Westen.‘ Nun
ist der Traum aus. Die Ostmenschen sind genau in dem Moment aus dem
Garten Eden vertrieben worden, als sie den Fuß in ihn setzten.‘‘
Als sie das liest, fällt mir ein, was Herr Demmler am Abend zuvor
über die ersten Westwaren im Konsum gesagt hatte: ,,Fränkisches
Bier! Wie das schäumte! Das Paradies!‘‘
Die Lesung ist voll,
sicher 200 Leute sind gekommen, aber als Voigt das Publikum am Ende
fragt, wie sie sich denn an diese Zeit erinnern, schweigen alle. Der
Moderator sagt in die Stille hinein: ,,Vielleicht dreht sich das
Karussell noch immer so schnell, dass bis heute keine Zeit blieb, das
Geschehene zu verarbeiten.‘‘ Der Saal nickt stumm.
22. Januar,
Leipzig: Auf der Montagsdemo. Aufgeheizte und zugleich träge
Stimmung. Die Leute schlendern so dahin und rufen ,,SED – das tut
weh‘‘, und ,,Wir sind ein Volk‘‘. Jeder vorsichtig-moderate
Sprecher wird niedergepfiffen, alle wollen Einheit jetzt. Plötzlich
kommen dem breiten Strom etwa 100 Leute entgegen, sie halten einander
an der Hand und tragen DDR-Fähnchen. ,,Ah, die FDJ‘‘ denke ich.
Stimmt aber nicht. Das Gros der Demonstranten bildet eine Gasse und
schreit das Häuflein nieder: ,,Stalinisten!‘‘ ,,Schweine!‘‘
Am Ende des Zuges läuft ein 20-jähriger Junge mit Lederranzen und
Nickelbrille. Auf meinen fragenden Blick hin weist er mit weiter
Gebärde auf die tobenden Leute und zuckt die Achseln. Ich lauf mit
ihm mit, versteh ihn aber kaum, die umstehenden Leute brüllen derart
laut auf uns ein. Vor der Wende saß er mehrmals ein, seit Mai nahm
er an den Friedensgebeten teil, bis November stand er vorne im
Demozug. ,,Du Drecksau!‘‘ ,,Rotes Pack!‘‘ ,,Ich mach euch
fertig!‘‘ Ich hatte Angst, er sagte, er mache mit seinen Freunden
seit Anfang Januar diese Gegendemos, die Stimmung werde jede Woche
aggressiver. In dem Moment überholte uns einer und rief im
Vorbeilaufen:,,Haut ab, da hinten kommen die Skinheads.‘‘ Da bin
ich in einer Seitenstraße verschwunden.
Als
man mich am Tag danach auch im Leipziger Krankenhaus abwies, gab ich
meinen Plan, dem darbenden, weidwunden Osten pflegend zur Seite zu
stehen, auf und setzte mich in einen Zug, um meinen Onkel Wilhelm zu
besuchen, einen Orgelbauer in Moritzburg, den ich für sein
abenteuerliches Leben bewunderte. Wer hätte gedacht, dass ich so
doch noch zu meinem Hilfseinsatz komme: Im ,,Margarete-Blank-Heim‘‘
waren, kurz bevor ich kam, zwei alte Frauen aufgrund des
Pflegemangels gestorben, die eine war verwirrt in die Kälte
gelaufen, die andere war aus dem Bett gefallen und lag stundenlang
auf dem Zimmerboden. Wahrscheinlich deshalb sagte die Leiterin, Frau
Fritsche, ich könne hier arbeiten. Als
ich dann fragte, was genau ich denn tun solle, machte Frau Fritsche
eine fahrige Kreisbewegung mit den Armen und sagte lachend: ,,Na
sehnse doch. Alles.‘‘
So war ich von
morgens um sieben bis abends um fünf Pfleger und
Einsamkeitsvertreiber, schmierte Brote, trug Essen und Medikamente
aus, kaufte den drei Frauen auf Zimmer elf alle zwei Tage Eierschecke
im Cafe Kunath, spielte mit Frau Bellmann Halma, las Frau Grießbach
Turgenjew-Erzählungen vor und kaufte für Frau Schneider, eine
winzigkleine, bucklige Sorbin, ein.
Als ich Frau
Schneider ihr braunes Einkaufsnetz brachte, sagte sie mit ihrem
erdigen Akzent: ,,Alt werrden ist ekelhaft, so’n zäher Kaugummi
hinten raus. Aberr ist nich schön, jetzt zu sterben. So in all
diesem Durcheinander.‘‘ Dann fragte sie mit schwerem
Zungenschlag: ,,Sagen Sie mal, jungerrr Mann, wie alt sind Sie
eigentlich? ,,21.‘‘ Da schlug sie die Hände vors Gesicht,
blickte mit einem Augenaufschlag zur Decke und sagte fast bedauernd:
,,Ohjeohjeohje. Noch so viel Leeeben vorr Ihnen!‘‘
Wenn
es mal wieder kein Wasser gab, mussten die alten Leute Ketten bilden,
einer stand unten im Garten an der alten Pumpe, dann reichten sie
sich die Eimer die Treppen hoch, ist schwer, bei
dem Anblick nicht an die Trümmerfrauen 1945 zu denken. Heute sagte
Frau Lohse, während sich beim Eimerschleppen die knochigen
Schulterblätter durch ihr blaues Kleid pausten: „Nu, gännse nich
emol ausm Wesdn ä bor Handwärker schicken? Von ohm leefts Wasser
nei, un mir ham drodzdem keens.”
Das Altersheim in
Moritzburg gibt es nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr im Ortskern,
unten am Schloss. In dem Gebäude sind heute ein Restaurant und der
sogenannte Weltmeister Senfladen untergebracht, der so heißt, weil
er über 200 Sorten Senf anbietet, darunter ,,Poppis Erotik-Senf –
verführerisch scharf‘‘, himmelblauen ,,Trabbi-Senf‘‘ sowie
Mozart- und ,,Einstein-Senf – schmeckt genial‘‘. Draußen ist
Volksfest, das jährliche Abfischen der Moritzburger Teiche, die
Leute kommen aus ganz Sachsen her, um sich im Glühweindunst
Bratwürste ins Gesicht zu stecken, rund um den Teich stehen Buden.
Damals bin ich nach
meiner Arbeit im Heim jeden Nachmittag noch mit Frau Gretl Höckner
um diesen Teich spaziert. Gretl Höckner war eine einsame Freundin
meines Onkels, eine ehemalige Griechisch- und Hebräischlehrerin, die
fast blind war, alleine in einem Turmzimmer hauste, direkt am Teich,
und eine enorm schlagfertige Art hatte.
Heute wollte sie
mir unterm Laufen Hebräisch beibringen: ,,Also, de Grammadigg is
wirklich eefach, da stoppln Se de Wörter bloos hindernander wegg.
Wie euer Lego.‘‘ Später sagte sie den großartigen Satz: ,,Jetzt
reden sie wieder alle von Vergangenheitsbewältigung. Dafür bleibt
den Leuten hier doch gar keine Zeit, die können froh sein, wenn sie
erst mal die Gegenwartsbewältigung einigermaßen hinkriegen.‘‘
Das
neue Altersheim steht am Rande von Moritzburg, ein schöner Bau, viel
Glas, ein Teich, und direkt hinterm Haus fangen die Bärnsdorfer
Wiesen an, ein europaweit einmaliges Feuchtbiotop, das damals der
„Dresdner Hof” kaufen wollte, um einen Golfplatz zu bauen. Bisher
waren die Bärsndorfer strikt dagegen, jetzt bietet der Dresdner Hof
vier Millionen D-Mark und verspricht, bei einer Zusage eine neue
Kaufhalle zu bauen und neue Wasserleitungen zu verlegen. Und
plötzlich sind die Bärnsdorfer Feuer und Flamme. Scheint
am Ende doch nicht geklappt zu haben, es blüht und feuchtelt in den
Wiesen, weit und breit ist kein Golfplatz zu sehen.
Im Aufenthaltsraum
des Altersheims gießt eine Pflegerin Früchtetee in Thermoskannen.
Draußen im Gang fährt ein Mann im Rollstuhl auf und ab, die
Pflegerin sagt zu ihm: ,,Na, worauf warten Sie?‘‘ – ,,Aufn
nächsten Tag.‘‘ – ,,Gut so, da hammse ja nochn paar Stunden zu
tun.‘‘ Ich erzähl der Pflegerin, warum ich gekommen bin.
,,1990?! Oh je, is das lang her. Von denen lebt keiner mehr. Die
Letzte, die den Umzug noch miterlebt hat, war die Frau Glatte, die
ist letztes Jahr gestorben. Aber ich bin gerade in Eile. Ist Stress
heute. Die Zeit sitzt einem hier immer im Nacken.‘‘
Eine der Frauen,
um die ich mich kümmere, heißt Frau Schenker. Sie ist 96 Jahre alt
und wir drehen jeden Tag sowohl im Garten als auch in unserem
Gespräch dieselbe Runde: ,,Das ist aber nett, dass Sie mit mir e
bissel spazieren gehen. Ich bin ja sonst ganz alleine.‘‘ –
,,Ich finds auch nett mit Ihnen.‘‘ – ,,Und wie heißen Sie?‘‘
– ,,Alex.‘‘ – ,,Ah! Ich bin die Elsbeth. Wissen Sie, ich bin
ja sonst ganz alleine, ich weiß gar nicht, wo die alle sind. Aber
wie heißen Sie eigentlich?‘‘ – ,,Elsbeth, ich bin der Alex.‘‘
– Etwas entrüstet:,,Woher wissen Sie denn meinen Namen?!‘‘
Undsoweiter, ad infinitum. Die Heimleiterin nahm mich gestern zur
Seite: ,,Ich seh das mit Sorge, wie viel Sie sich um Frau Schenker
kümmern. Sie wecken bei dieser Frau so viele Emotionen, die längst
eingeschlafen waren, da müssen wir uns dann um diese Frau kümmern,
wenn Sie wieder weg sind. So viel Zeit haben wir nicht. Außerdem
kann die sich doch ohnehin nicht erinnern. Ein Tier spürt Liebe,
aber es hat keine Erinnerung daran, dass ich es streichle.”
Die Heimleiterin war
außerdem sehr nervös, weil ich ja illegal arbeitete. Ich durfte
nicht mit dem restlichen Personal zu Mittag essen, sondern musste
mich in einer Art begehbarem Wandschrank verstecken. Einmal hörte
ich in diesem unfreiwilligen Versteck, wie draußen auf dem Gang zwei
Frauen flüsterten: ,,Ein Durcheinander ist das, fast wie 45.‘‘ –
,,Nu, und schämen sollen wir uns auch wieder. Wüsst’ nicht, wofür
ich mich diesmal schämen sollte.‘‘
In
den 42 Tagen meiner Reise sind 74 167 DDR-Bürger in den Westen
gekommen. Am 11. Januar, dem Tag meiner Ankunft in Saalfeld, sagte
Ministerpräsident Hans Modrow, die Wiedervereinigung der beiden
deutschen Staaten stehe ,,nicht auf der Tagesordnung‘‘,
Oppositionsgruppen hätten kein Vetorecht, die Legitimation seiner
Regierung sei nicht in Frage zu stellen. In Saalfeld gingen an dem
Abend Gerüchte um, die Stasi plane eine Gegenrevolution. Am 25.
Januar legte der Westberliner CDU-Vorsitzende Eberhard Diepgen einen
Plan vor, mit dem bis zum 8. Mai 1995, 50 Jahre nach Kriegsende, der
Prozess der deutschen Einheit abgeschlossen sein soll. Noch am 6.
Februar sagte der Sprecher des Nationalen Olympischen Komitees der
DDR, die DDR werde bei den Olympischen Spielen in Barcelona
selbstverständlich mit einer eigenen Mannschaft antreten. Am selben
Tag kündigte Helmut Kohl an, nach den Wahlen vom 18. März würden
sofort Verhandlungen über eine Wirtschaftsunion aufgenommen werden.
Als ich drei Tage später mit Gretl Höckner um den Schlossteich
tippel, sehen wir eine lange Schlange vor der Bank.
Die Leute haben Angst vor einer Abwertung der Mark. Sie sind alle
wahnsinnig nervös und wollen nach Dresden fahren, um das Geld in
Sachwerten anzulegen. Schlimm.
Schlimm. Schlimm,
schlimm, schlimm. Es ist schon deshalb gut, Tagebuch zu führen, weil
man im Nachhinein sehen kann, aus was für bizarren seelischen
Gemengelagen man sich über die Jahre doch herausentwickelt zu haben
scheint. Vieles daraus ist schlichtweg unzitierbar, alle zwei Seiten
komme ich mit Albert Schweitzer oder anderem pastorisierten Zeug, es
wimmelt derart von frenetisch lebensbejahenden Schillerzitaten, dass
es oft nach protestantischem Heroismus als Depressionsverdränger
klingt. Ich würde mir im Nachhinein ein schweres Helfersyndrom
attestieren. Überflüssig zu sagen, dass ich mich in Moritzburg auch
noch für den Erhalt der Bärnsdorfer Wiesen einsetzte.
Das Haus, in dem
Frau Höckner wohnte, wird heute von einer Familie mit zwei großen
Geländewägen bewohnt, der Mann, der gerade hinterm Haus in feiner
Lodenjacke Holz sägt, sagt, er habe noch nie von dieser Frau Höckner
gehört, aber man könne sich ja heute gar nicht mehr vorstellen, wie
die damals gelebt haben, ohne fließend Wasser, mit Bollerofen, in
dem Türmchen da oben, das sei schon sehr weit weg alles.
21. Februar,
Abschiedstour durch Moritzburg und durchs Heim. Gretl schenkt mir
Marc Aurels ,,Selbstbetrachtungen‘‘, Frau Bellmann einen
Topflappen und 10 Mark: ,,Irgendwer muss Sie ja hier bezahlen.‘‘
Am Schluss sitze ich noch mit Frau Schenker in der Abenddämmerung
ihres Zimmers. Plötzlich sagt sie: ,,Ganz leer, die Straße. Es ist
niemand da. Und die Fenster sind alle dunkel.‘‘ Dann, etwas
enerviert: ,,Sagen Sie, wer sind Sie eigentlich?‘‘
Am 22. Februar,
dem Tag, an dem ich wieder abreiste, wurde gegenüber demDresdner
Hauptbahnhof die Gründung eines sächsischen
Drachenflieger-Dachverbands bekanntgegeben. Drachenflieger waren in
der DDR immer wieder Repressalien ausgesetzt, da sie im Verdacht
standen, mit ihren Sportgeräten fliehen zu wollen. Deshalb mussten
die Piloten ihr Hobby heimlich, vor allem in der CSSR betreiben.
,,Jetzt sind wir frei‘‘, ruft einer der Drachenflieger
überschwänglich ins Mikrophon. ,,Wir fliegen! Wir fliegen wieder!‘‘
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