Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Irre,
wer ich?
Charles
Brewer-Carías, 71 Jahre alt, 200 Expeditionen, hat den Ruf, von
allen Glücksrittern Amazoniens der genialste zu sein. Und der
wahnsinnigste. Die Lebensbeichte eines Überlebensgroßen
Roland Schulz, GEO,
01.06.2010
Und wenn der Tod
dann kommen sollte, bitte schön, er ist bereit. 33,74 Gigabyte hat
er für künftige Biografen gesammelt, im Falle seines Todes zu
finden auf Festplatte D:, da steht alles drin, was in seinen Augen
wichtig ist, wenn es um die Frage geht: Wer ist Charles Brewer?
Charles
Brewer-Carías, geboren am 10. September 1938, der Humboldt des 20.
Jahrhunderts.
„Nun,
ich sage gern: Ich bin der Beste“, sagt er.
Entdecker aus
Venezuela, Forschungsgebiete Zoologie, Botanik, Geologie,
Entomologie, Speläologie, Ethno-Technologie, Dental-Anthropologie.
„Sagen
wir so: Ich trage in den Tempel des Wissens, was ich kann“, sagt
er.
Anzahl an
Expeditionen: mehr als 200, Anzahl der nach Brewer benannten Arten:
25, Anzahl an Veröffentlichungen: eine atemraubende Zahl.
„Wenn
ich sterbe, liegt schon alles bereit für die wissenschaftliche
Unsterblichkeit“, sagt er.
Seine Feinde nennen
Charles Brewer einen Aufschneider, einen Wahnsinnigen, ein
Umweltschwein, einen Josef Mengele des Regenwalds.
Seine Freunde nennen
Charles Brewer einen Aufschneider, einen Wahnsinnigen, einen Helden
und legendären Entdecker, den letzten Indiana Jones.
Wer ist Charles
Brewer?
„Eine
gute Frage“, sagt er. „Wo fangen wir an?“
Er sitzt im
gedämpften Licht seines Büros, umzingelt von Büchern, überall
Regale, Kisten, Kartons. Sein Schreibtisch ist von Papier
verschüttet, Schicht auf Schicht, Landkarten, Notizzettel,
Zeitungsartikel. Auf dem einzigen Flecken festen Bodens in dieser
Abraumhalde seiner Arbeit steht sein Computer. Charles Brewer wühlt
sich durch einen Stapel, zieht ein Blatt hervor, noch einen Beweis
für seinen Nachlass: Brewer ist Rekordhalter im Feuermachen.
„Ich
entzünde ein Feuer in weniger als drei Sekunden“, sagt er.
Er kramt aus einem
Karton ein Brettchen mit Zunder, einen hölzernen Bohrstock und einen
Flitzebogen, kniet sich auf den Betonboden seines Büros. „Auf die
Plätze!“, ruft er. Er windet den Bohrstock in die Sehne des
Bogens. „Fertig!“ Er presst den Bohrstock in den Zunder. „Los!“
Er reißt den Bogen, der Bohrer frisst sich in den Zunder, Rauch
steigt auf. Er bläst in die Glut, Flämmchen züngeln empor.
„Weniger als drei Sekunden!“, ruft er. Dann tritt er die Glut
aus. „Aber nichts verraten“, sagt er. Seine Frau mag es nicht,
wenn er im Büro Feuer macht.
Rekorde, die Charles
Brewer laut Lebenslauf erzielt hat: Erster Fallschirmabsprung eines
Zivilisten über Venezuela, längste botanische Expedition des 20.
Jahrhunderts, venezolanischer Meister in 50 Meter Freistil (Klasse
über 60 Jahre).
Beschwingt zwängt
er sich zurück zum Computer. Er ist 71 Jahre alt, aber so drahtig
wie ein Jüngling. Er beginnt, mit der Computer-Maus durch das Meer
der Dokumente zu pflügen, die er für die Unsterblichkeit sammelt,
wer ist Charles Brewer, wo soll er da nur anfangen? Ein Klick mit der
Maus, da ist ein Foto, er neben George Bush – nein, unwichtig,
weiter. Ein Klick, Foto, im Dschungel, er im Kanu auf dem Weg nach –
egal, weiter. Klick, eine Kanone auf dem Meeresgrund, Klick, ein Mann
mit Machete, Klick, Indianer, Klick, Klick, Klick. Er verweilt
nirgends. Er erklärt nichts. Er jagt nur durch Erinnerungen.
Irgendwann steht er auf und rupft aus seinen Bücherbergen einen
Bildband. Titel: Roraima. Autor: Charles Brewer. Es geht ihm um sein
Vorwort: Brewer ist in der ganzen Welt anerkannt als einer der
größten Entdecker aller Zeiten.
„Ich
denke, das sollte man als Grundlage einer Beschreibung meines Lebens
nehmen“, sagt er. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er in dem
engen, mit Flinten, Surfbrettern und Funkgeräten vollgestellten
Gang, der sein Büro mit dem Haupthaus verbindet. Er lebt auf den
Hügeln von Caracas, ganz oben, Quinta Bucare. Hier, wo die Stadt
fern und der Wald nah ist, hat er vor 13 Jahren ein Landhaus gebaut,
groß genug, seine Schätze und seine Familie aufzunehmen. Allerdings
musste er auf Drängen seiner Frau Fanny eine Wellblechbaracke
hinters Haus stellen, weil sein Büro überquoll. Sie sind
übereingekommen, dass er seine 24 wichtigsten Macheten auf dem
Wohnzimmertisch stapeln darf, dass die Blasrohre kurz vor dem Klo bei
den Kästen mit den Riesenkäfern hängen und auch der skelettierte
Alligatorkopf bleiben kann, aber der Rest musste raus. Brewer schreit
durchs Haus: „Ich fahre in den Club!“ Von irgendwoher antwortet
eine Frauenstimme.
Tiere, die Charles
Brewer im Haus beherbergt: sechs Hunde, eine Wasserschlange, eine
Boa, drei Singvögel (tot) im Eisfach des Kühlschranks.
Er steuert seinen
alten Toyota wie ein Rallyefahrer durch den Straßenverkehr. Er fährt
einhändig, nur die Linke am Lenkrad. „Die Rechte muss immer frei
sein“, sagt er, da schnellt seine Hand schon an den Gürtel, zieht
ein Springmesser, lässt es aufschnappen. Er sticht in Richtung des
offenen Seitenfensters. „Du hast nur Zeit für einen Stoß. Du
musst den Hals treffen. Deswegen: Rechte immer frei!“ Er lächelt.
Er deutet nach draußen. „Als ich klein war“, sagt er, „wuchs
hier überall nur Zuckerrohr.“
Charles Brewer war
acht Jahre alt, da notierte er lange Listen in seine Schulblöcke,
Ausrüstungslisten für Expeditionen. Biografen mögen diese Blöcke
bitte dereinst im Karton „Internat“ finden.
Als er 14 Jahre alt
war, grub Brewer hinter dem Haus seiner Eltern Scherben aus, die das
Naturkundemuseum als Fundstücke 944 bis 963 katalogisierte.
Biografen: Fundquittung eingescannt erhalten.
Im Alter von 19
Jahren begann Brewer auf Wunsch des Vaters ein Studium der
Zahnmedizin; „ich war der beste Student des Studiengangs, das
sollte man ruhig aufschreiben.“ Charles Brewer war 23 Jahre alt, da
fuhr er im Einbaum den Rio Erebato flussaufwärts, um im Regenwald
die Kieferstellung der Ye’kuana zu erfassen, eines Volkes in
Amazonien, bitte, Biografen: wichtiger Wendepunkt.
Sprachen, die
Charles Brewer spricht: Englisch, Spanisch, Französisch,
Italienisch, Ye’kuana, Yanomami.
Er erreicht das
ehrfurchtgebietende Gelände des „Caracas Country Club“ mit
quietschenden Reifen. Auf dem Parkplatz nur Prunk, sein Auto ist der
einzige Kleinwagen in einem Spalier verspiegelter Scheiben. Schon
sein Großvater, ein englischer Diplomat, war Mitglied in diesem
Club, der als exklusivster des ganzen Landes gilt. Charles Brewer
betritt die mit Ehrentafeln behängte Eintrittshalle, steuert die
Umkleiden an, sagt: „Ich werde oft gefragt: Kennen Sie auch den
japanischen Botschafter? Dann sage ich: Ja sicher – aber nur
nackt.“
Es ist Mittagszeit,
in der Umkleide stehen Männer mit schneeweißen Badetüchern um den
Bauch. Sie sind für eine rasche Runde Golf in der Mittagspause da,
ein bisschen Schwimmen, vielleicht auch Fitness. Flüsternd erklärt
Brewer, wer wer ist, da hinten, Bruder des früheren Vizepräsidenten,
dort, zwei europäische Botschafter, der daneben: macht in Öl. „Hier
sind alle sehr reich. Alle außer mir.“
Schätze, die
Charles Brewer in seinem Leben suchte: Kriegskasse des Count Jean
d’Estrées, Hort der Inkakönige, Schatz von Eldorado.
Als Brewer die
Trainingshalle betritt, ruft er: „Hier drin ist doch nicht einer,
nicht ein einziger, der mich schlagen kann!“ An den Hantelbänken,
auf den Laufbändern, überall grüßen sie ihn grinsend. Brewer
tritt zu einem Mann mittleren Alters, der zwei Zehn-Kilo-Hanteln
stemmt, immer im Wechsel, langsam und ausdauernd. „Dich lass ich
leiden, mein Freund“, sagt Brewer. Er greift sich ebenfalls
Hanteln, stellt sich neben seinen Widersacher, guckt, ob auch alle
gucken. Dann stemmt er die Hanteln in schnellem Wechsel, drei-,
vier-, fünfmal, lässt sie wie beiläufig sinken, sagt: „Du kannst
es ja nicht mal so schnell wie ich.“ Sein Widersacher lächelt.
„Darf ich vorstellen: mein Nachfolger“, sagt Brewer.
Tief im Regenwald
erlebte der junge Zahnarzt Charles Brewer in der Tat, was bislang nur
Traum gewesen war: Expeditionen in Gebiete jenseits der
Kartengrenzen, alle Ausrüstungslisten, die er nun verfasste, wurden
Wirklichkeit. Als Foto, das diese Zeit in Biografien bebildern soll,
wünscht sich Brewer: Ziehen eines Zahns, Dschungel von Wasaña.
Zurück in Caracas
erregte Brewer die Aufmerksamkeit amerikanischer Wissenschaftler,
denen die Abenteuerlust dieses Zahnarztes mit Kontakten in höchste
Kreise entgegen kam. Sie standen vor einer Expeditionsreihe, die ohne
Beispiel war: Eine Gruppe Forscher sollte, finanziert von der
Atomenergiebehörde der USA, in das Amazonasgebiet vordringen. Die
Leiter: James Neel, Genetiker, und Napoleon Chagnon, Anthropologe.
Ein Ziel: eine vergleichende Studie zwischen der Bevölkerung von
Hiroshima und Nagasaki und einem Volk, so unberührt, dass es nie von
radioaktiver Strahlung kontaminiert worden war – die Yanomami,
Ureinwohner des Regenwalds. Es war Mitte der 1960er Jahre. In Brewers
Zukunft lagen nur die Zahnlöcher reicher Venezolaner. Er sagte
sofort zu.
Wieder im Regenwald,
erlebte Brewer, was er in Biografien als wichtigste Zeit seines
Lebens gewürdigt sehen will. Sie waren jung, Amazonien war wild, und
alles, was sie taten, taten sie im Namen der Wissenschaft. Sie jagten
von Dorf zu Dorf, verteilten Macheten, Angelhaken, Äxte, sammelten
Blutproben, Gebissabdrücke, Ahnenlinien. Am Ende verfasste Chagnon
das Buch „The Fierce People“, das die Yanomami als Gesellschaft
erbarmungsloser Krieger zeigte und zum Standardwerk der Anthropologie
wurde. Auch Charles Brewer kehrte als Berühmtheit heim. Er war mit
einem Fallschirm über dem Regenwald abgesprungen, um einen in Wahn
verfallenen Anthropologen zu retten; ein Himmelfahrtskommando, das
seinen Ruf festigte, unter allen Haudegen der Expedition der härteste
zu sein. Bei Zweifel, Biografen: Brewer empfiehlt Artikel „La Gran
Aventura“, Autor: Charles Brewer.
Zeit, die Charles
Brewer im Dschungel verbracht hat: 1961 Mai, Juni, Juli, Dezember,
1962 Januar, Oktober, November, Dezember, 1963, „lassen wir das.
Zeit bedeutet nichts. Ich werde oft gefragt: Und wann waren Sie dann
endlich wieder zurück aus dem Regenwald? Ich sage dann: Ich bin
nicht zurück. Meine Seele ist immer noch dort.“
Sie trainieren eine
Stunde, Hanteln und Geräte. Charles Brewer spricht auf seinen
Nachfolger ein, es geht um Basislager, Helikopterstunden, einen
Termin in wenigen Wochen. Der Mann, den Brewer Nachfolger nennt,
finanziert dessen Expeditionen. Brewer sieht in ihm den einzigen, der
Geist und Willen eines Entdeckers in sich hat. Er ist Autohändler.
Er sagt, Brewer sei eine Legende. Er sagt auch, es sei eine Schande,
dass diese Legende betteln müsse, um seine Expeditionen und oft
sogar seinen Lebensunterhalt bezahlen zu können. Allerdings sagt er
das nur, wenn Brewer gerade unter der Dusche ist.
Brewer duscht
allein. Beim Anziehen dreht er sich zur Seite wie ein verschämter
Junge. Er will nicht, dass jemand die faustgroße Beule oberhalb
seiner Scham sieht. Leistenbruch. „Mein Arzt sagt, ich muss das
operieren lassen“, sagt er, als sein Nachfolger außer Hörweite
ist. „Ist mir egal.“ Brewer hat Angst, eine Operation könnte die
geplante Expedition verschieben. Selbst seiner Frau gaukelt er
Gesundheit vor. „Alles eine Frage des Willens“, sagt er. „Mein
Kopf befiehlt. Mein Körper hat zu folgen.“
Krankheiten, die
Charles Brewer im Dschungel durchlitt: Dum-Dum-Fieber, Ruhr,
„Pilzlunge“, Malaria mehrmals, „irgendwann habe ich aufgehört
zu zählen.“
Brewer zieht sich
mit der Sorgfalt eines Mannes an, der sein Äußeres als Signal
versteht. Er schlüpft in seine Hose, Khaki, knöpft sein Hemd,
Khaki, schließt seinen Gürtel, schweres Leder, darauf gestanzt eine
kleine Messingplakette, auf der in geschwungener Schrift geprägt
steht: „Charles Brewer C.“ Am Schluss zwirbelt er sich die
Spitzen seines Schnurrbarts zurecht, noch ein prüfender Blick in den
Spiegel, ein Kontrollgriff ans Messer, dann ist er bereit. Er hat
noch einen wichtigen Vortrag heute.
Posten, die Brewer
nach Rückkehr aus dem Regenwald angetragen wurden:
Fallschirmausbilder, Survival-Trainer, Minister für Jugend und
Sport.
Charles Brewer war
40 Jahre alt, als ihn die Republik Venezuela 1979 als Minister
vereidigte. Erste Amtshandlungen umfassten: Einrichtung temporärer
Fußgängerzonen, Aufstellung von Jugendbrigaden zum Zivilschutz an
abgelegenen Landesgrenzen, Bau von befestigten Lagern zur
paramilitärischen Ertüchtigung der Brigaden, „das war so eine
Mischung aus Kibbuz und Fremdenlegion“.
Charles Brewer war
42 Jahre alt, als er mit 50 Freiwilligen nach Guyana vordrang, um
territoriale Ansprüche Venezuelas geltend zu machen, „wir haben
auch Beweise gesichert, dass die Kubaner dort geheime militärische
Basen unterhielten.“
Brewer war 43, als
er wegen dieser Invasion und anderer eigenmächtiger Auftritte als
Minister zurücktreten musste, „ich war einfach zu erfolgreich.“
Auf dem Weg zum
Parkplatz stoppt Brewer plötzlich und zieht sein Messer. „Guazuma
ulmifolia!“, ruft er und beginnt, von einem Baum einen mannslangen
Ast abzusäbeln. „Die Yanomami nennen es Pochoroa“, sagt er. „Das
beste Holz der Welt, um Feuer zu machen, steht schon in den
Manuskripten von Sir Francis Drake.“ Als er den Ast zum Auto
schleift, kommen ihm Clubmitglieder entgegen, die Golfwägelchen
hinter sich herziehen. Er ergötzt sich an ihren Blicken. „Hier
dreht sich alles um Status“, sagt er und stopft den Ast in den
Kofferraum. „Aber ich habe meinen eigenen Status.“
Orden, die Charles
Brewer für Verdienste zum Ruhme Venezuelas verliehen bekam:
Ehrenkreuz der Landstreitkräfte, Orden für Verdienste zur See,
Orden del Libertador Primera Clase.
Aus dem Amt gejagt,
zog sich Charles Brewer 1983 ins Amazonasgebiet zurück. Seine
Ehefrau hatte ihn verlassen; sie war es leid gewesen, dass er seine
Abenteuer allem vorzog, selbst der Geburt seines ersten Kindes. Seine
Arbeit in einer Arztpraxis lag lange zurück. Sein Vermögen war
versickert.
In Amazonien
angekommen, arbeitete Brewer als Taucher, Goldsucher, Mittelsmann für
Minenkonzerne, Kundschafter für Expeditionen, Fabrikant des
Überlebensmessers „Explora Marto-Brewer“, das sich in eine
Sonnenuhr, Harpune oder Säge verwandeln ließ. Allem aufgeschlossen,
lebte Brewer nicht übel von Handel und Wandel. Er hatte Kontakte. Er
kannte Land und Leute. Er kam zurecht.
Biografen: Brewer
empfiehlt, nur mit höchster Neutralität an diesen Lebensabschnitt
zu gehen. Es scheint, als habe es in Amazonien der 1980er Jahre zwei
Charles Brewer gegeben.
Auf der einen Seite
Charles, den Dschungelspe-zialisten, den Wissenschaftler und Medien
aus aller Welt nutzten, um Zugang zum Zauber des Regenwalds zu
erhalten; auch GEO verschaffte er eine Expedition zu den Tepui, den
Tafelbergen im Süden Venezuelas. Krönung seiner Arbeit: eine
botanische Expedition zum „Cerro de la Neblina“, dem Nebelberg an
der Grenze zu Brasilien, die mit Unterbrechungen von 1983 bis 1987
dauerte und neue Arten dutzendweise entdeckte; einige bekamen Brewers
Namen. „Ich traue mich zu sagen: eine der wichtigsten Expeditionen
der Welt!“
Auf der anderen
Seite Señor Brewer, Gründer von „Minas Guariche“, einer
Minenfirma mit seltsamen Konzessionen, die im Ruf stand, Gold ohne
Rücksicht auf Gesetz, Mensch oder Natur zu gewinnen. Schwerpunkt der
Arbeit: die Claims „Triunfo II“ und „Triunfo III“ im
Bundesstaat Bolívar, offener Tagebau, Umweltschäden massiv, „das
sind Lügen, alles Lügen! Das haben Marxisten und
Befreiungstheologen in die Welt gesetzt, um mich zu vernichten!“
Arten, die zu Ehren
Brewers nach ihm benannt wurden: Tityus breweri, Skorpion,
Colostethus breweri, Giftpfeilfrosch, Hemitriccus margaritaceiventer
breweri, Vogel aus der Familie der Tyrannen, die ihren Namen der
Aggressivität gegenüber Eindringlingen im eigenen Revier verdanken.
Alle Schüler sind
in der Aula versammelt, als er eintrifft, die gesamte Unterstufe
drängt sich in den Sitzreihen. Die Direktorin der Internationalen
Schule von Caracas bittet um Applaus für Mister Brewer, bekanntester
Entdecker unseres Landes. Kinderaugen suchen seine Gestalt. Ein
echter Entdecker, wie er wohl aussehen mag? Er enttäuscht sie nicht.
Er steigt erhaben zum Rednerpult hinauf, ganz in Khaki, lässt sich
das Mikrofon reichen, blickt so lange schweigend auf die Kinder, bis
auch das letzte Tuscheln erstirbt. „Was ich euch heute erzählen
werde, werdet ihr niemals vergessen. Ein Geheimnis.“ Hinter ihm
leuchtet auf einer Leinwand ein Foto auf. Der Regenwald. „Das
Geheimnis des Entdeckens.“
Die Kritik an der
Art von Brewers Arbeit begann verhalten. Man warf ihm vor, sich um
nichts als seinen Ruhm und Reichtum zu scheren, außerdem sei er ein
Aufschneider, der noch jeden geselligen Bummel als Expedition
verkaufe, gern an internationale Prominenz. Dann nahmen die Vorwürfe
zu. Der Verdacht: Seine Expeditionen, besonders die verdächtig lange
zum Nebelberg, seien nichts als Tarnung. In Wahrheit sei Brewer kein
Entdecker, sondern ein illegaler Goldschürfer. Auch seine Arbeit mit
dem Anthropologen Napoleon Chagnon geriet in die Kritik. Als Brewer
und Chagnon 1991 mit einem Helikopter in einem Yanomami-Dorf
landeten, filmte ein mitreisendes Fernsehteam, wie Yanomami die
Ankömmlinge mit erhobenen Bogen umstellten und beschuldigten, ihrem
Volk Tod gebracht zu haben. Als ein Yanomami mit einer Axt auf
Chagnon einschlägt, fängt Brewer den Schlag ab und streckt den
Angreifer mit einem Fausthieb zu Boden.
Prominente, die mit
Charles Brewer den Regenwald besuchten: David und Peggy Rockefeller,
Max Kennedy, Prince Charles, die Popgruppe „Los del Río“, Sänger
des Welthits „Macarena“.
In der Aula herrscht
atemlose Stille, Charles Brewer spricht. In seinem Rücken detonieren
Fotos, es sind Flüsse, Gipfel, Höhlen, er erzählt von seinen
Expeditionen und den Gefahren, die er überwand. Auf einmal erscheint
das Foto eines Fingers. In der Haut eine Wunde, die von den Eiern
einer Fliege befallen ist. Die Kinder kreischen auf. Ein kleines
Mädchen meldet sich. Ob er das auch schon mal gehabt habe? „Aber
sicher“, sagt er. „Mehrmals. Das gehört dazu. Und wisst ihr
was?“ Er dreht sich auf der Bühne um seine eigene Achse, reckt
seinen Po ins Publikum: „Ich hatte es sogar schon mal hier.“
Großes Gejohle. „Und das ist das Schlimmste, wisst ihr warum?“
Kichern. „Weil du jemanden rufen musst, um es dir rausschneiden zu
lassen.“
Im Jahr 2000
veröffentlicht der US-amerikanische Journalist Patrick Tierney das
Buch „Darkness in El Dorado – How Scientists and Journalists
devastated the Amazon“, wie Wissenschaftler und Journalisten
Amazonien verwüsteten. Das Buch stellt die These auf, der
Anthropologe Napoleon Chagnon und sein Team hätten durch ihre Arbeit
in den 1960er Jahren riesigen Schaden unter den Yanomami angerichtet.
Ihr Vordringen im Stil eines Feldzugs, ihre Geschenke von Äxten und
anderen Gegenständen aus Stahl, ihr herrisches Auftreten, all das
habe erst erzeugt, was sie später als ureigenes Verhalten der
Yanomami beschrieben: Aggressivität, Kampf, Krieg. „Ach ja, alles
klar. Dann weiß ich ja, wohin die Reise geht. Ganz ehrlich: Ich habe
es nicht nötig, mir das anzuhören“, sagt Brewer.
Beleidigungen, mit
denen Brewer bedacht wurde: Irrer, Klugscheißer, Konterrevolutionär,
Faschist, ernstlich meschugge.
In der Aula
erscheint im Licht der Leinwand das Bild eines kleinen Jungen in
Schuluniform. Charles Brewer blickt hinauf auf sein Ebenbild in
jungen Jahren: „Das Bild habe ich ausgewählt, damit ihr versteht:
Man muss viel studieren.“ Er dreht sich zu den Kindern. „Ich habe
meine Sinne immer alle bereit. So bin ich. Das muss man lernen. Das
müsst ihr lernen. Das ist Entdecken.“ Danach gratuliert die
Direktorin, großartiger Vortrag, und sein Umgang mit Kindern, ob er
einmal Lehrer gewesen sei? „Ich bin kein Lehrer“, sagt er. „Ich
bin Lehrmeister. Ich unterrichte dadurch, dass die Leute mir folgen.“
Der Vorwurf des
Journalisten Tierney, der Genetiker Neel hätte unter den Yanomami
außerdem absichtlich eine Masern-Epidemie unzureichend bekämpft, um
die Verbreitung innerhalb einer jungfräulichen Population zu
erforschen, stellt sich als falsch heraus. Der grundlegende Vorwurf
aber bleibt: Machos gehen in den Dschungel, stellen eine Welt auf den
Kopf und kommen als Helden der Wissenschaft wieder heraus. „Ich
schwöre: Wenn ich diesen Typen sehe, ich haue ihm sofort eine rein.“
Beleidigungen, mit
denen Charles Brewer Kritiker bedachte: Traumtänzer, Arschloch,
Kommunist, Schwulette, Umweltschützer.
Auf der Fahrt nach
Hause ist Charles Brewer aufgewühlt. Die vielen Kinder, ihre
Begeisterung. Er glaubt, er hat jetzt eine Antwort auf die Frage: Wer
ist Charles Brewer? „Ich bin Enzyklopädist“, sagt er. „Ich
sehe Dinge, die niemand sonst zu sehen vermag. Für mich ist die
ganze Welt ein offenes Buch.“
Tierneys Vorwürfe
lösen einen Sturm der Entrüstung aus. Medien greifen die Geschichte
auf, Wissenschaftler ergehen sich in Gefechten über Schuld und
Unschuld ihrer Kollegen, schließlich richtet die American
Anthropological Association eine Untersuchungskommission ein. Die „El
Dorado Task Force“ hält fest, Chagnon hätte gegen die ethischen
Maßstäbe seines Berufsstandes verstoßen. Auch in Venezuela werden
Anschuldigungen aus Tierneys Buch aufgegriffen, Ziel ist Brewer.
Biografen: Brewer
betrachtet Unschuld als bewiesen, siehe Festplatte D:, Dokument
HEREMOTECA TOTAL_Chagnon.doc, Verfasser: Charles Brewer.
Die Kinder
beschäftigen Brewer. Er hat in ihren Augen etwas gesehen, das ihm
gefiel. „Ich glaube, es gibt eine Entdecker-Ader“, sagt er. „Eine
unstillbare Neugier. Vielleicht kommt ja jeder Mensch mit dieser
Neugier auf die Welt. Aber dann geht sie verloren.“ Er blickt aus
dem Fenster. „Viele hören irgendwann im Leben auf, sich zu
wundern. Sie glauben, schon alles zu wissen. Das ist in meinen Augen
wie tot zu sein mitten im Leben.“
Im Brennpunkt der
Anschuldigungen stehen Brewers Aktivitäten als Minenbetreiber. Sein
Interesse an den Yanomami sei nicht der Wissenschaft, sondern einem
Zinnvorkommen geschuldet. Brewer zerstöre nicht nur die Natur,
sondern auch die Menschen, die für ihn arbeiteten. „Genug! Dieses
Buch ist eine Satanisierung! Dieser Grünschnabel wollte uns zu den
Josef Mengeles des Regenwalds machen! Das sind Lügen!“ In
Venezuela kursiert gar das Gerücht, Brewer und Chagnon hätten einen
Yanomami ermorden lassen.
Menschen, die
Charles Brewer in seinem Leben tötete: Julio César Peña Quintero,
19 Jahre alt, den Brewer sechs Wochen vor seinem 65. Geburtstag mit
einer Schrotflinte erschoss, nachdem Peña mit zwei weiteren
bewaffneten Räubern in Brewers Haus eingedrungen war, ihn verprügelt
und ihm dann in die Schulter geschossen hatte.
Charles Brewer sitzt
auf seiner Veranda. Er ist wütend. Er beherrscht sich. Er geht ins
Haus, bleibt fort, kehrt zurück. In seiner Hand hat er ein Buch. Er
zwingt sich, höflich zu bleiben. Er zeigt das Manuskript, Skizzen
und Fotos. Sie erklären Spiele, wie Kinder sie spielen, mit
Blättern, Steinen, Bindfäden, Brewer hat sie bei den Yanomami
gesammelt. Warum hat er das nicht veröffentlicht? „Warum habe ich
das nicht veröffentlicht?“ Seine Stimme wird sofort laut. „Ich
habe es einer Menge Leute gegeben! Keiner beachtet es!“ Er schreit
jetzt. „Sie hassen mich! Und ich, ich habe das Geld nicht, um es zu
veröffentlichen!“ Er schleudert sein Manuskript über die
-Veranda. „Hier, veröffentlicht ihr es doch!“
Aus dem Haus tritt
Fanny Brewer. Sie ist seine zweite Ehefrau, eine stolze, schöne
Frau, über deren Herkunft Brewer vor Jahren in einem Interview
orakelte, sie sei eine Prinzessin, direkt aus dem Dschungel.
Daraufhin rief seine Schwiegermutter an und stutzte ihn zurecht.
Fanny und Charles haben sich bei einem Turnwettkampf kennengelernt.
Im Dschungel lebten sie lediglich zusammen. Als Fanny Brewer ihren
Mann in seiner Wut sieht, sagt sie: „Oha. Volle Deckung!“ Ein
kleiner Witz, unter Eheleuten. Er erstickt Brewers Wut sofort.
Ehrentitel, die
Charles Brewer zuerkannt wurden: Assoziiertes Mitglied der
Botanischen Gärten von New York und Ciudad Bolívar.
„Ich
arbeite ohne Pause“, sagt er. „Ich habe einzigartige
Forschungsansätze. Ich habe einige der besten Arbeiten der Welt
geschrieben. Aber ich werde abgelehnt.“ Brewers Art und, im
Venezuela von Hugo Chávez, seine Herkunft haben es mit sich
gebracht, dass er verfemt ist. „Ich sitze wie in einem Schwarzen
Loch.“ Der Vergleich gefällt ihm. „Egal, wie viel Licht ich
aussende, nichts dringt nach außen. Ich werde nie den Respekt
bekommen, der mir gebührt.“
Spitznamen, mit
denen venezolanische Medien versuchten, Brewer zu beschreiben: Don
Quijote des Dschungels, Discovery Charles. Pionier der Tausend
Heldentaten.
Wer ist Charles
Brewer? „Manchmal denke ich: Ich bin der Letzte meiner Art."
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