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Barbara Supp „Der Krieg in Untergriesbach

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Der Krieg in Untergriesbach

Geboren im Bayerischen Wald, gefallen in Afghanistan: Ein junger Mann zieht in den Krieg und stirbt. Das Kriegerdenkmal bekommt eine neue Inschrift, das Dorf ringt mit der Frage: Muss man sich in Deutschland wieder an den Krieg gewöhnen?


Von Barbara Supp, Spiegel, 37/10


Der Krieg kam an einem Donnerstag nach Untergriesbach, es war der Tag, an dem ein "Eagle IV" der Bundeswehr an einer Brücke bei Baghlan in eine Sprengfalle fuhr, mit dem Stabsunteroffizier Josef Kronawitter an Bord, und zwölf Tage hat es gedauert, bis man ihn endlich begraben konnte. Dreimal haben sie für ihn den "Guten Kameraden" gespielt, weil dreimal andere Leute zu trösten waren, in Masar-i-Scharif die Kameraden, in Ingolstadt die ganze Bundesrepublik, in Untergriesbach dann die Mutter, der Vater, die Schwester, die Oma, die Freundin, das Dorf.

Gegen Abend war es, als bei seinen Eltern in Untergriesbach Besuch vor der Tür stand, ein Pfarrer, ein Militärseelsorger, ein Hauptmann, ein Bataillonskommandeur, und die Kronawitters sind ihnen nicht an die Gurgel gegangen, sie waren höflich, ansprechbar noch im Schock. Maria Kronawitter ist keine, der man es ansieht, wenn sie nicht mehr kann.

Es sind seltsame Tage, es ist die Zeit, da die Schulkinder neue Wörter lernen, "gefallen", was ist das? Woran merkt man: Jetzt ist "Krieg"?

Ihr Sohn sei "gefallen für Deutschland". Maria Kronawitter, Ende vierzig, sommersprossig, jünger wirkend, sitzt an ihrem Küchentisch im Bauernhaus und spricht die Anführungszeichen mit. Nicht ironisch, verwundert eher. Was ist das, was da mit Untergriesbach, mit Deutschland, mit ihrer Familie passiert? Unwirklich, das alles. Das kleine Leben in Untergriesbach spielt auf großer Bühne jetzt, denn der Sohn von Josef und Maria Kronawitter zog nach Afghanistan und starb.

Es ist Krieg, und in einem hellblauen Rathaus im südlichen Bayerischen Wald sitzt Hermann Duschl, 44, Nebenerwerbslandwirt und Bürgermeister der Marktgemeinde Untergriesbach, befreundet mit Familie Kronawitter, er ist manischer Bücherleser geworden, über den Krieg, über Afghanistan, er spricht darüber, was dieser Krieg mit Deutschland macht und mit seinem Dorf. Spricht vom Sterben, spricht von der Trauerfeier in Ingolstadt, gut vier Monate her, aber sie steckt ihm in den Knochen.

Ingolstadt. Vier Soldatensärge aus Afghanistan, vier Familien und vierfaches Leid und der ganze Kirchenraum ein Elend, dass alle eigentlich nur schreien wollen, du lieber Gott, sagt Duschl, wie hält man das aus, auch als Redner, was sagt man da.

Eine Deutung zu finden, darum geht es bei einer Trauerfeier im Krieg. Eine Deutung, die dieses Sterben rechtfertigt, das im Auftrag des Staates geschah. Es ist ein politischer Tod, wissentlich in Kauf genommen, kein Unfall, keine hereingebrochene Katastrophe. Ein Ringen um Deutungshoheit, das war es, als der Verteidigungsminister in Ingolstadt sprach; ein Versuch, die Deutschen und das Dorf und die Familie mit diesem Sterben zu versöhnen. Er kann diesen Krieg letztlich nicht führen, wenn ihm das Volk nicht die Unterstützung und die Soldaten gibt. Es war richtig, das war seine Botschaft. Die Toten wollten unsere Freiheit schützen. Verzeiht, aber diese Toten werden nicht die letzten sein.

Ein Staatsakt war es, beinahe, mit einer Kanzlerin, die direkt den Folgen ihrer Regierungspolitik begegnet, das geschieht ja nicht oft, in Ingolstadt war es so.

Eine Kanzlerin, der man ein paar Dinge erklären müsste, dachte Duschl, der Bürgermeister, man stand beieinander nach der Trauerfeier, als die Särge verladen wurden, und Duschl nutzte die Chance. Frau Merkel, sagte er, wir akzeptieren diesen Tod nicht. Sie sollten die Stimmung bei uns im Ort sehen.

Die Stimmung - man trauert, und alle Welt schaut zu. Alle reden, schockiert und ungläubig, alle im Ort kennen den Toten, flüchtig wenigstens, aber oft wissen sie nicht, was sie sagen sollen zu seiner Familie, es ist schwierig mit diesem Tod, die Leute wissen nicht, ob sie die Trauernden ansprechen sollen, oft weichen sie aus.

Es gibt keinen anonymen Tod auf dem Dorf, und dieser hier war es schon gar nicht, und Sepps Mutter war ganz froh, dass ihre Familie nicht im Telefonbuch steht. Natürlich schlichen Fotografen durch den Ort, aber mit denen seien sie fertig geworden, sagt Maria Kronawitter an ihrem Küchentisch und lächelt kurz, das Lächeln steht ihr, aber sie lächelt manchmal so, als ob sie sich dafür Erlaubnis holen müsste, sie, die im Mittelpunkt der Tragödie steht.

Anstrengend ist es, sie hat es erlebt, wenn man trauernd unter großer Beobachtung steht, und die Leute haben die Erwartung, einen immer weinen zu sehen. Immer. Aber man muss auch mal Blumen gießen und die Hunde füttern und die Küche aufräumen. Man weint nicht immer. Nicht am Stück.

Ingolstadt: Es war unwirklich, sagt sie. Es war nicht wahr. Wahr war es einen grausamen Moment lang, als die Nationalhymne brauste, als man die Särge nach draußen trug. Es ging, so schien es, um ihren Sohn.

Um Josef Otto Kronawitter, 24 Jahre alt, vier Wochen war er im Krieg, dann war er tot.

Stabsunteroffizier Josef Otto Kronawitter, stationiert in Ingolstadt, Gebirgspionierbataillon 8, 2. Kompanie. Sohn einer Hausfrau und eines Schichtarbeiters in der Zahnradfabrik. Ein Stück Wald ist noch übrig geblieben von der Zeit, als die Kronawitters Bauern waren, Sepp war gern bei der Arbeit im Wald. Er hat Zimmerer gelernt und wurde danach zum Bund eingezogen, und es gefiel ihm, und gutes Geld gab es auch, und er erklärte: Mama, i bleib dabei. Und wenn's nach Afghanistan gehn, geh i mit.

Für acht Jahre hat er sich als Zeitsoldat verpflichtet, 2004, als man noch glauben konnte: Afghanistan, das ist ein "Stabilisierungseinsatz". Das heißt Brunnen graben, Schulen bauen. Er war bei den Pionieren, wo sie gern Handwerker nehmen. Holzarbeiter, Autobastler, Motorradfahrer, so wird er beschrieben von denen, die an ihn erinnern. Bescheidener Bursche, sagen sie, fröhlicher Kerl.

Kampfmittelaufklärer hat er gelernt, das erzählte er seiner Mutter und ver-mied die Wahrheit, wie gefährlich das sei.

Die Soldaten sprachen längst von Krieg, nur die verantwortlichen Politiker nicht, als für den 16. März dieses Jahres der Marschbefehl kam. Kurz, sagt seine Mutter, habe er geschwankt, damals. Er wusste, dass seine Freundin schwan-ger war. Die Mutter hat auf ihn eingeredet, lange eingeredet, natürlich hat sie das. Aber, sagt sie, "es musste seine Entscheidung sein".

I hob des glernt. I kann meine Kamaraden net im Stich lassn, sagte er.

Ein "erzwungenes freiwilliges Ja", dieses Ja der Zeitsoldaten, so nennt es ein freundlicher Herr namens Kurt Oberndörffer, 65 Jahre alt, Hauptfeldwebel der Reserve, ausgeschieden nach 16 Jahren Bundeswehr. Maßgebliches Mitglied im Untergriesbacher Soldaten- und Kriegerverein, der plötzlich eine Bedeutung bekommen hat, die es lange Jahre nicht gab.

Krieg - das war für den Verein wie für das ganze Deutschland eine vergangene Geschichte, zu Ende gedeutet, mit Ritualen bewältigt.

Bisher bestand der Verein aus ein paar Veteranen, die wenig vom Krieg sprachen; je Schlimmeres sie erlebt hatten, desto eiserner schwiegen sie. Und aus Ehemaligen der Bundeswehr, für die das Kämpfen eine abstrakte, mit dem Ende des Kalten Krieges immer theoretischere Möglichkeit geworden war, der man mit Manövern begegnete, Rotland gegen Blauland, spielerisch, mit den Mitteln einer Verteidigungsarmee.

Eine Armee, die für Sicherheit stand, für Einkommen, Karriere, und je schlechter die Konjunktur war, desto lieber ging man zur Armee. Bisher jedenfalls.

Der Kriegerverein, bisher jedenfalls, war dazu da, Geselligkeit und Schießübungen zu organisieren, das Kriegerdenkmal zu pflegen, und wenn ein Kamerad starb, geleitete man ihn mit Salutschüssen ins Grab.

Und jetzt - jetzt gibt es einen neuen Toten und einen neuen Namen fürs Denkmal, zum ersten Mal seit 65 Jahren.

Kurt Oberndörffer hat den Krieg nicht erlebt oder irgendwie doch, der Krieg ist schuld, dass er seinen Vater nur von einer Inschrift auf einem Kriegerdenkmal kennt.

Deshalb ist es ihm so wichtig, das Denkmal. Ein Ort, zu dem man gehen kann.

Es steht am Dorfeingang von Untergriesbach, ein granitgrauer Klotz mit bayerischem Löwen, mit den Namen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, fast jeder Familienname aus der Ortschaft ist zu finden, der Name Kronawitter siebenmal. Beim achten Kronawitter wird man dazuschreiben: gestorben in Afghanistan.

Gestorben am 15. April gegen 14.30 Uhr Ortszeit bei Baghlan.

Zwei Jahre noch, dann wäre er ins Dorf zurückgekommen als Zivilist.

Aber an jenem 15. April sitzt er in einem "Eagle IV", der sich als letztes Fahrzeug eines Konvois Richtung Westen bewegt, Richtung Rückzugsgebiet der Taliban, die dieses Gebiet massiv verteidigen, wie man weiß. Josef Kronawitter ist Teil der Operation "Taohid", das heißt "gemeinsam" und steht für die Absicht der Isaf, afghanische Regierungstruppen das Kriegführen zu lehren. Er muss gewusst haben, was kommen kann. Wer in so einem Konvoi fährt, ist auf Kämpfe und Anschläge gefasst.

Mittag ist vorbei, als der Konvoi die Dutch Bridge erreicht, sie quert den schlammigen Fluss bei Baghlan. Vorn fahren die Afghanen, dann die Isaf, Schweden, Belgier, Kroaten, Deutsche. Der Konvoi stoppt, Vorgesetzte konferieren. Auf der Straße steht als letzter der "Eagle IV", geländegängig, achteinhalb Tonnen schwer und gepanzert, er schützt vor Gewehren, vor Granatsplittern, auch vor Minen.

Er schützt nicht vor einem ferngezündeten Raketensprengkopf, der direkt unter ihm explodiert.

Fünf Verwundete, vier davon schwer, das ist die Bilanz unter den Soldaten, die nicht im "Eagle" saßen. Für die Männer im Fahrzeug gibt es keine Hilfe mehr.

Ein Kriegerdenkmal soll die Antwort geben: Darum sind diese Männer tot. Es steht für den politischen Kontext dieses Sterbens, und das in Untergriesbach hat mit den üblichen deutschen Kriegerdenkmälern gemeinsam, dass es an etwas erinnert, das vorbei ist. An etwas, das ist die ewige Hoffnung, aus dem ein Volk gelernt haben kann.

Die neue Inschrift am Denkmal könnte eine Fußnote sein. In der Hoffnung, dass es eine Fußnote bleibt.

Oder, sagt Kurt Oberndörffer, ehemals Fallschirmjäger, später Jurist geworden, oder man stellt ein neues Denkmal auf. Falls noch mehr neue Namen kommen. Ein Beschluss über so ein neues Denkmal würde verhandeln, was es in ganz Deutschland zu verhandeln gilt: ob man sich an den Krieg gewöhnen muss. Ein neues Denkmal, sagt Oberndörffer, und er sagt es nicht so, als ob ihn diese Aussicht freuen würde, könnte eine Weltkugel tragen. Damit man den Leuten immer erklären kann, wo jetzt schon wieder einer stirbt.

Er kann sich gut vorstellen, dass Sepp Kronawitter der Meinung war, er beschütze seine Heimat, so lernt man das ja bei der Bundeswehr. Er sitzt im Halbschatten eines Untergriesbacher Straßencafés und versucht den Durchgangsverkehr der B 388 zu übertönen und zu erklären, was er von diesem Einsatz in Afghanistan hält. Nämlich nichts.

Schlechte Ausrüstung, ja, aber das allein ist es nicht. Nichts gelernt aus der Geschichte. Wie Vietnam. Solche Wörter kommen von diesem freundlichen Herrn im Straßencafé, und dass man mit Befremden wahrnehme, wenn ein hoher Militär in Masar-i-Scharif bei der Trauerfeier sage: Jeder Tote macht uns noch entschlossener in unserer Mission.

"Für die Leute hier gilt das nicht", sagt der Hauptfeldwebel d. R. Oberndörffer. "Nein, hier gilt es nicht."

Jeder im Ort kann miterleben, wie dieser Tod ein Familienleben verändert, ihm eine öffentliche Bedeutung gibt, die sich niemand wünschen kann. Wie der Tod Sachfragen aufwarf, ganz plötzlich. So wie die, wo man den Sepp begraben sollte, denn im Familiengrab der Kronawitters, gleich bei der Kirche, war nur noch ein Platz frei, und die Oma war schon 90. Es war ihr Platz. Deswegen haben sie dann doch das Angebot der Bundeswehr angenommen, die dem Sohn ein neues Grab bezahlt.

Kein Vorwurf ist an diesem Küchentisch im Bauernhaus zu hören, gegen niemand. In einer braunbeige gefliesten Küche, umschwirrt von einem sehr großen Hund und einem sehr kleinen, sortiert ein Ehepaar sein Leben. Sie wollen nicht Symbol sein und sind es schon, Opfer eines richtigen Krieges für diejenigen, die Guttenberg und Merkel glauben, für die anderen Opfer eines falschen.

Eine Mutter, die manchmal vom Sohn redet, als ob er noch lebte. Ein Vater, der seine Hände nicht immer still halten kann. Eine Tante, zu Besuch angereist, die daran denkt, dass der Name des Neffen auf dem Kriegerdenkmal stehen soll wie ein Toter von 1914 oder 1945. Es ist seltsam, man könnte sich einbilden, es gäbe den Sepp noch irgendwo und er käme wieder, Soldaten sind ja sowieso immer unterwegs. Die Inschrift am Denkmal wird es als Tatsache stempeln, dass er fehlt. Die Tante sagt: "Es ist irreal."

Es war ein Tod. Es war eine Tragödie. So wie jeder jähe Tod.

Sagt der Pfarrer, im kühlen Pfarrhaus der Kirche St. Michael, die barock und hellgelb den Ort überragt. Erwin Blechinger, priesterlich dunkel gekleidet, Tabak schnupfend, hat sein Handy in Griffweite, er hat Dienst als Notfallseelsorger und hat Erfahrung damit, wenn ein Kleinflugzeug runterkommt oder ein schwerer Unfall ist auf der Autobahn. Plötzliches, verfrühtes Sterben immer wieder, und er fragt sich, ob er zu diesem Sterben in Afghanistan einen Unterschied machen soll.

Die Wut der Überlebenden kennt er. Die Ohnmacht. Oder eine Kühle manchmal, über die man staunt.

Diesmal war niemand kühl, und die Alten spürten den Schock am schlimmsten, die Alten, die wissen, was Krieg ist, und deren Kopf jetzt wieder im Krieg versinkt und die sagen: Jetzt geht es wieder los.

Man gewöhnt sich nie dran. Dass jemand stirbt. Er ist Seelsorger und nicht Politiker, das Politische an Sepp Kronawitters Tod hat er, so sagt er selbst, "a weng beiseitegschobn". Er tröstet sich, wenn er sich zum Nachsinnen zwingt, mit einem Satz aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in dem es heißt, ein Soldat im Dienst für sein Vaterland stehe im Dienst für Sicherheit und Freiheit und trage zum Frieden bei. Er möchte nicht ausschließen, dass dieser Krieg dem Weltfrieden dient oder dienen soll, er möchte da nicht weiterzweifeln, schon um der Kronawitters willen. Er sagt: "Dass der Krieg da unten unsinnig sei, das möcht ich als Angehöriger nicht hören."

Es hilft ihm in seinem Zweifel zu glauben, dass Kronawitter den Einsatz in Afghanistan sinnvoll fand. Zu glauben, dass der Einsatz sinnvoll ist. Wenn nicht, dann müsste er aufschreien, wie es der Bürgermeister tut.

Die Oma vermisst er. Die Zenz, Kreszenz Kronawitter, er kannte sie vom Rosenkranz am Herz-Jesu-Freitag, vom Rosenkranz und vom Ratschen, sagt der Pfarrer, ein starker Charakter war sie, eine fromme Frau. Und ziemlich gesund, eigentlich, sie hätte noch nicht sterben müssen. Die Zenz sagte, sie würde gern tauschen mit dem Sepp, eigentlich sei sie doch dran, und vier Wochen nach dem Sepp war sie tot.

Sie hat dem Pfarrer erzählt, dass der Sepp sich von zu Hause Süßigkeiten schicken ließ, für die afghanischen Kinder.

Vielleicht, sagt er, ist es ja nur das, was übrig bleibt. Ein Kind, das lacht, weil es ein Bonbon kriegt.

Der Pfarrer sagt, am besten denke man: Dem da oben, dem Toten, geht es gut. Ich muss mich jetzt um mich selbst kümmern. Aber leicht ist es nicht.

Jede Trauerfeier, sagt er, ist ein kleiner Weltzusammenbruch.

Sepp Kronawitter, gestorben bei einem Sprengstoffanschlag in Baghlan, kam im Zinksarg nach Untergriesbach, es war nicht möglich, ihm ins Gesicht zu schauen, um sich zu verabschieden, wie es sonst in der Gegend üblich ist. Seltsam war, wie jemand von der Familie am Abend vor der Beerdigung die Kondolenzbriefe durchschaute und eine komische Karte sah, "Gruß aus Afghanistan". Sie kam vom Sepp und war abgeschickt am Tag vor seinem Tod. Ich hab euch lieb, stand darauf. Sonst nichts.

Und in der Kirche tags darauf spielten sie Herbert Grönemeyer, und der Kriegerverein spielte seine Lieder und verzichtete auf seine Salutschüsse, und der Hauptmann kam mit "Kleinem Ehrengeleit" als Abschied für einen "Untergebenen, den sich jeder Chef nur wünschen konnte", und der Bürgermeister Herrmann Duschl war nicht in der Lage, seine Rede zu halten, und gab sie an den Landrat weiter, ein Bürgermeister, der mit den Tränen kämpft, noch jetzt, Monate später.

Es ist Sommer, und Duschl kann sich nicht an den Soldatentod gewöhnen, will es nicht. Er selbst hat die "15 wunderbarsten Monate in meinem Leben" bei der Bundeswehr verbracht, Superkameradschaft, Abenteuer, aber wenn er jetzt Schulabgänger trifft, dann freut er sich, wenn nur noch ein Einziger sagt: Ich geh zum Bund. Und nur zum Wehrdienst. Und wenn Duschl zum Gelöbnis eingeladen ist, dann ist das kein Volksfest mehr, man merkt die andere Stimmung, und er denkt, "junge Leut, was wollt ihr mit den Gewehren?", und schafft es nicht, ihnen direkt in die Augen zu schauen.

Ein Sinn von Kronawitters Tod, so denkt er, könnte vielleicht sein, dass die Deutschen früher rausgehen dort unten. Vielleicht schreibe er jetzt Briefe an Angela Merkel, sagt er, um ihr zu erzählen, was der Krieg mit seinem Dorf macht und dass Raphael Josef Otto geboren ist, Sepps Sohn.

Er will ihr Dinge erklären. Er hat es ja versucht, in Ingolstadt.

Hat sie was begriffen?

Er sagte: Frau Merkel, Sie sollten die Stimmung hier sehen. Die Gemeinde Untergriesbach akzeptiert den Tod dieses Soldaten nicht. Dieser Tote ist einer zu viel. Frau Merkel, hören Sie auf.

Sie schien ihm durchaus bewegt zu sein. Wenn die Kanzlerin das Gesicht verzieht, findet er, dann ist das so, als ob jemand anders weint.

Er ist sich nicht sicher, ob sie wirklich etwas gesagt hat. Sie hat etwas gemurmelt.

Es klang wie "komplexe Situation".

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Barbara Supp


Barbara Supp, 1958 in Suttgart geboren, studierte in Tübingen Amerikanistik und Romanistik, wurde dann aber doch nicht Lehrerin in Schwaben, sondern besuchte die Henri-Nannen-Schule in Hamburg und ging danach zum SPIEGEL, wo sie heute als Reporterin für das Ressort Gesellschaft schreibt. 1995 erhielt sie für "Herr Bui möchte bleiben" einen Kisch-Preis.
Dokumente
Der Krieg in Untergriesbach

erschienen in:
Der Spiegel,
am 13.09.2010

 

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