Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Der
König der unteren Zehntausend
Harald Ehlert
gründete die Berliner Treberhilfe, die sich um Obdachlose kümmert.
Seit bekannt ist, dass er sich einen Maserati gönnte, gilt er als
Schmarotzer. Doch kann es sein, dass er mehr Gutes bewirkt hat als
all die bescheidenen Sozialarbeiter?
Von Henning Sußebach
und Stefan Willeke, Zeit, 01.07.2010
Harald Ehlert, den
einige seiner Genossen ein »Genie« nennen, andere ein
»größenwahnsinniges Arschloch«, will der Welt noch einmal
beweisen, dass er ein guter Mensch ist, als diese Sache mit dem
Renault passiert. Er will einsteigen, aber der Autositz lässt sich
nicht umklappen. Mit seinen kräftigen Händen reißt Ehlert am Sitz,
hämmert dagegen, aber nichts tut sich. Bei Sixt haben sie ihm dieses
verdammte Mietauto gegeben, das einen seriösen Eindruck machte,
einen silbergrauen Familienvan mit drei Sitzreihen, die Ehlert nicht
gehorchen wollen. Er dampft vor Zorn.
Es ist ein
wolkenloser Tag in Berlin, Ehlert hat sich seine Ray-Ban-Sonnenbrille
ins wallende Haar gesteckt, einen Rollkragenpullover über den
mächtigen Körper gespannt, ein Leinenjackett darübergezogen. Er
steht da wie Marlon Brando im Mafiafilm Der Pate, schaut auf seine
goldene Armbanduhr und knurrt: »Meister, was ist das für eine
Scheiße mit diesem Sitz?«
Herr Meister ist
seit Jahren Ehlerts Chauffeur. Er fuhr auch den schwarzen Maserati,
in den sein Chef sich fallen ließ wie ein König in seine Sänfte.
Eine hart erprobte Beziehung ist zwischen den beiden entstanden, die
keine Abweichungen aushält. Wenn Ehlert spricht, ist Meister still.
Wenn Meister fährt, sagt Ehlert, wo es langgeht. Fragt man Meister
etwas Harmloses über seinen Boss, wispert er ängstlich: »Ich sage
nichts. Ich würde ja auch nichts sagen, wenn ich Frau Merkel fahren
würde.«
Das klingt
übertrieben, aber es ist etwas Wahres daran. Der 48 Jahre alte
Harald Ehlert, Gründer und Chef der Treberhilfe in Berlin, war in
der deutschen Hauptstadt so etwas wie ein Herrscher der unteren
Zehntausend. Im vergangenen Jahr kamen fast 4000 Menschen in seinen
Heimen unter: Frauen, die von ihren Männern aus dem Haus geprügelt
worden waren, Herumtreiber, die ein Bett brauchten, Junkies, die sich
auf dem Straßenstrich verkauften.
Auf Parkbänken,
unter Spreebrücken – dort waren Ehlerts 28 Notunterkünfte und
Obdachlosenheime stadtbekannt. Nur die normalen Leute haben keine
Notiz davon genommen, bis vor vier Monaten herauskam, dass Ehlert auf
Kosten seiner Firma einen Maserati fuhr und sich zuletzt 332.000 Euro
Jahresgehalt und eine Sonderzahlung von 90.000 Euro genehmigt hatte.
422.000 Euro insgesamt – fast doppelt so viel wie die Kanzlerin.
Der Chef einer gemeinnützigen Gesellschaft, die sich um Obdachlose
kümmert, gönnt sich ein Jetset-Leben?
Berlins
Sozialsenatorin Carola Bluhm stellte Strafanzeige wegen des Verdachts
auf Untreue. Staatsanwälte begannen zu ermitteln. Der Paritätische
Wohlfahrtsverband schloss die Treberhilfe aus. Ehlerts Parteifreunde
aus der SPD gingen auf Distanz. Die Zeitungen schrieben vom
Maserati-Harry . Und weil sich der Verdacht der Prasserei wie ein
Schatten über die Branche gelegt hatte, gingen sogar bei der
Berliner Tafel weniger Spenden ein.
Ehlert trat als
Geschäftsführer der Treberhilfe zurück, setzte einen Treuhänder
ein, der Maserati wurde abgeschafft, und die Sache schien klar zu
sein: Da hat sich ein übler Schmarotzer jahrelang auf Kosten der
Ärmsten bereichert. Endlich ist er erledigt.
So einfach wäre der
Fall, wenn der ermittelnde Staatsanwalt in Berlin jetzt nicht sagen
würde: »Vielleicht muss er am Ende noch das Bundesverdienstkreuz
kriegen.«
Wenn einer der
Sozialdemokraten, die sich mit Ehlert überworfen hatten, nicht
plötzlich einräumen würde: »Er ist ein vorbildlicher Denker, fix
im Kopf. Im Kern hat er recht.«
Viele solcher
Stimmen erheben sich mit einem Mal, und die Frage, um die sie
kreisen, lautet: Kann es sein, dass ein größenwahnsinniges
Arschloch mehr Gutes bewirkt hat als all die sanften Samariter unter
den Sozialarbeitern?
Nachdem Harald
Ehlert den Autositz endlich bezwungen hat, steigt sein Rechtsanwalt
vorn in den Wagen, ein Strafverteidiger, der ihn vor Prozessen
schützen soll. Hinter ihm breitet sich Ehlert aus. Er fährt die
Fensterscheibe herunter, legt den rechten Arm heraus, greift nach der
Thermoskanne im Fußraum und gießt sich einen Becher Kaffee ein.
»Das Gute und das Schöne, das ist mein Thema«, sagt Ehlert und
lacht. »Ich finde, das Gute soll zum Schönen finden. Warum soll,
wer Edles tut, nicht von Schönem umgeben sein?« Wo bleibe da die
Logik?
»Meister, fahren
Sie los«, sagt er dann.
Und Meister fährt
los, aus dem aufgeräumten Berliner Zentrum ins lebendige Schöneberg,
wo Ehlert zu jeder Kreuzung eine Geschichte hat. Mal sagt er: »Hier
machen wir Spritzentausch.« Mal: »Da ist Kondomausgabe.« Über der
Stadt scheint ein unsichtbares Netz zu liegen. Dieses Werk will
Ehlert zeigen, all die Arbeit der achtziger Jahre, der neunziger und
des neuen Jahrtausends. Überall habe er die Treberhilfe wachsen
lassen, einen Verein, den Ehlert ein »Sozialunternehmen« nennt, mit
260 Angestellten, in einer Stadt, in der er »einen riesigen Markt«
für das Geschäft mit der Hilfe sieht.
Ehlert will das
alles an einem einzigen Tag erzählen, in einer rasenden Fahrt – zu
»historischen Stätten«, wie er sagt. Doch um die Hast dieses
Mannes zu begreifen, der sein Leben vom Auto aus besichtigen will,
muss man erst einmal 30 Jahre zurückblenden. In die Zeit, in der
gerade die Biografie der Christiane F. erschien: Wir Kinder vom
Bahnhof Zoo.
Es ist der Sommer
1981, als ein junger, langhaariger Mann in Detmold eine Gitarre und
ein paar Taschen in seine alte Ente quetscht, um Ostwestfalen zu
verlassen. Harald Ehlert hat gerade Abitur gemacht – »irgendwas um
Note 3«. Er ist ausgemustert worden, trägt Latzhosen und Wollpullis
und malt sich ein Landhippieleben auf dem Bauernhof aus, doch die
Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen hat ihn nach
Berlin vermittelt: Erziehungswissenschaften, Schwerpunkt
Sozialpädagogik.
Ehlert, Sohn eines
Finanzbeamten und einer Zahnarzthelferin, hat seine Jugend damit
verbracht, an Mopeds herumzuschrauben und mit der christlichen Jugend
auf Freizeitfahrt zu gehen. Auf dem humanistischen
Leopoldinum-Gymnasium seiner Heimatstadt, das heute stolz all die
berühmten Absolventen auflistet, darunter den Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts, bleibt Ehlert damals eher allein. Ein
Beamtenkind unter vielen Fabrikantensöhnen und Töchtern aus
besseren Kreisen. Wen seiner Mitschüler man heute auch fragt, man
bekommt zur Antwort: »Der war nicht in meiner Clique.«
An eines aber
erinnern sich alle: dass es Ende der siebziger Jahre dieser Harald
ist, der hitzige Diskutant, der an seiner 400 Jahre alten Schule den
ersten Leistungskurs für Sozialwissenschaften erkämpft – und ihn
dann mit Mathematik kombiniert. Kann es das geben: einen Linken, der
Spaß am Rechnen hat?
In Berlin vertieft
sich Ehlert ins Sozialrecht, studiert Jugendsoziologie und
Kriminalisierungstheorien und tauscht seine Hippieklamotten schnell
gegen eine schwarze Lederkluft, weil er sich in Latzhosen doch etwas
naiv vorkommt. 1983 schiebt Ehlert als Praktikant Nachtschichten in
einer winzigen Obdachlosenunterkunft in Schöneberg, gegründet von
einem Pfarrer und einer Prostituierten, betrieben von Gutmenschen,
die ihre Sache schlecht machen – findet er: »An die 30
Ehrenamtliche, mal da, mal nicht, total unkoordiniert.«
Die Helfer haben
keine Ausbildung und die Obdachlosen keine festen Ansprechpartner. Im
Haus mit den sechs Betten herrscht ein Kommen und Gehen. Niemand
drängt die Obdachlosen, mal eine Bewerbung zu schreiben. Niemand
bringt mal was zu Ende. Niemand weiß, was aus den Heimbewohnern
wird. Spricht der junge Sozialarbeiter Ehlert über diese Art von
Betreuung, hört man sofort seine Verachtung heraus. »Niemand weiß,
wo der Bahnhof ist, aber jeder will darüber reden.«
Ehlert ist damals
21, ehrgeizig und zäh. Er setzt sich an den Kohleofen und spielt
Gitarre. Er entert das Heim durch ausdauernde Anwesenheit und redet
auf den Sitzungen so lange, bis niemand mehr widerspricht. 1988
übernimmt er den Laden und benennt ihn in Treberhilfe um. Dann geht
es Schlag auf Schlag: 1989 ein neues Wohnprojekt im Stadtteil
Schöneberg, 1991 eine neue Notunterkunft im Wedding und eine neue
Geschäftsstelle, 1992 ein neues Heim in Mitte, 1993 das nächste
Haus in Adlershof. Immer mehr Heime, immer mehr Betten. Das lohnt
sich nur, wenn diese Betten auch belegt sind – nicht anders als in
einem Fünf-Sterne-Hotel. Ehlert muss die Leute von der Straße
holen. So kühl und konsequent hat es noch kein Berliner
Sozialarbeiter angepackt. Ehlert irritiert seine Kollegen mit
Begriffen wie »Expansion«, »Wertschöpfung« und
»Immobilienmanagement«. Er glaubt, dass Wohlfahrt und
Wirtschaftlichkeit zusammenpassen.
Für das, was 1994
im Deutschen Bundestag geschieht, könnte er das Drehbuch geschrieben
haben. Ein Gesetz wird geändert – nichts, was die breite
Öffentlichkeit interessieren würde, dafür liest sich die Novelle
des Paragrafen 93 im Bundessozialhilfegesetz zu kompliziert: Von nun
an sollen die Ämter den sozialen Diensten nicht mehr all ihre
Ausgaben einfach erstatten. Vereine wie die Treberhilfe werden jetzt
mit Tagessätzen für jeden Obdachlosen bezahlt, den die Behörden an
ihre Heime vermitteln. Nur wer weniger Geld ausgibt, als er vom Staat
bekommt, wird überleben. Und wer nichts bekommt, weil die Ämter ihm
keine Bedürftigen schicken, ist tot.
Mit diesem Gesetz
hat der Staat die Verwaltung der Armut privaten Anbietern überlassen.
Der Staat, sagt sich Ehlert, das bin jetzt ich. Wann immer die
Zeitungen über ein neues soziales Problem berichten, erfindet Ehlert
ein »Produkt«, mit dem man es lösen könnte: Als sich Meldungen
über Kindstötungen häufen, gründet er das Projekt
»Kinderperspektive« zur Betreuung von überforderten Müttern. Er
eröffnet die »Villa Chance« für obdachlose Kinder. Er erfindet
eine »Soziale Task Force«, eine Gruppe von Streetworkern, die
Deutsch, Türkisch und Arabisch sprechen. Ehlert lässt Flyer drucken
und treibt seine Leute zu Besuchen und Anrufen bei Ämtern. Sie reden
dort über Notunterkünfte wie Handelsreisende über Staubsauger.
Wenn Sozialarbeit ein Markt ist, soll sein Unternehmen eine Marke
sein. Immer neue Projekte schiebt er an und gibt ihnen eingängige,
ambitionierte Namen: »Helpline Team«, »Spektrum«, »Aktiv«,
»Mobil«. So viel auf einmal hat sich wohl niemand in einer
Sozialbehörde je einfallen lassen. Wahr ist aber auch: Ehlert sucht
sich die lukrativsten Problemfelder. Die mit einem verlockenden
Verhältnis von kleinem Aufwand und großem Gewinn. Er pickt sich die
Rosinen heraus.
»Berlin ist der
größte Markt zwischen Paris und Moskau!«, ruft Ehlert durch den
Renault. Eine Stadt der Glücksritter und Pechvögel, letzte Zuflucht
für die Gescheiterten aus der Provinz – das Silicon Valley der
Fürsorgeindustrie. Ehlert sagt, er habe schon überlegt, ob sich
einige Ideen nicht exportieren ließen, »da muss sich Deutschland
nicht auf Ingenieurleistungen beschränken«. Ehlert muss nicht
aussprechen, wofür er sich hält: In diesem Silicon Valley der
Sozialprogramme ist er der Bill Gates.
Doch nun sitzt
Ehlert in einer engen Familienkutsche, gießt sich Kaffee nach und
hat Angst vor den eigenen Leuten. Kein Büro der Treberhilfe, an dem
Meister vorüberfährt, will Ehlert betreten. Er telefoniert lieber,
das ist ungefährlich. »Der Laden ist hochsensibilisiert«, raunt
Ehlert. Seine Schande ist die Schande der ganzen Firma. Die
Angestellten sind wütend auf ihn, seit er mit diesem Maserati ihre
Arbeit in Verruf gebracht hat.
Dabei haben sich
Leute, die das Sozialwesen gut kennen, nie über die Arbeit der
Treberhilfe beklagt. Sie tun es bis heute nicht. »Die Treberhilfe an
sich hat nicht umsonst einen guten Ruf«, sagt Thomas Dane, Vorstand
des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg. »In all den Jahren ist
nie einer gekommen und hat sich über Ehlert beschwert«, sagt
Michael Müller, der SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus.
Vermutlich ist auch
Mario Lanze, 48, kein schlechter Zeuge. Rauchend sitzt er im Bezirk
Wedding auf einer Bank vor dem Panorama Nord, einem Heim der
Treberhilfe. Sein Gesicht wirkt verquollen, das Gebiss nicht ganz
komplett. Das Leben hat ihm übel mitgespielt, er dem Leben aber
auch: 17 Jahre Möbelträger, Rücken kaputt, von sich aus gekündigt.
Lanze hat dann noch auf einem Friedhof gearbeitet, für 1,50 Euro die
Stunde, dann entglitt ihm der Alltag. Miete nicht bezahlt,
wohnungslos. »Da war ich am Arsch«, sagt Lanze.
»Meinetwegen kann
er vier Maseratis fahren. Mir hat es an nichts gefehlt«
Das Sozialamt
vermittelte ihn in eine private Pension, in der sich zehn Männer
eine Küche und ein Bad teilten. Lanze erinnert sich »an
Warteschlangen wie aufm Amt, ob vorm Klo oder in der Küche. Und
dauernd das Geschrei: Mach hinne!« Ging er auf die Toilette und
vergaß, sein Zimmer abzuschließen, wurde er bestohlen. Mal waren
seine Zigaretten weg, mal Duschgel, mal Milch, mal Eier. »Wenn du da
keinen eisernen Willen hast, gehst du ein«, sagt Lanze. »Da
verlernst du das Leben.«
Lanze war in einem
der Heime gelandet, die Harald Ehlert »Läusepensionen« nennt –
weil sich der Besitzer nicht kümmert, weil ihm egal ist, wenn es nur
»Kornfrühstück« gibt. Für jeden Tag, den Lanze in dem
heruntergekommenen Haus verbrachte, zahlte das Sozialamt dem
Betreiber 14,78 Euro – und fragte nicht, was der damit machte.
Eines Morgens fehlte
Lanzes Nachbar in der Warteschlange vor dem Bad. Er hatte sich auf
seinem Zimmer totgesoffen, mit 38 Jahren.
Lanze floh. Er hatte
von einem Haus der Treberhilfe gehört, »da haben alle gesagt: Das
ist wie ein Hotel«. Für ein Hotel ist das Panorama Nord viel zu
karg, aber es gibt hier Zwei-Personen-Appartements mit Küche und
Bad, dazu einen Aufenthaltsraum, in dem die Kinder ihre Geburtstage
feiern können. Es gibt zwei Computer mit Internetanschluss, Drucker
und Fax. Und es gibt eine Pförtnerloge, die rund um die Uhr besetzt
ist, zwölf Stunden davon mit einem Sozialarbeiter, der dauernd
drängt, sich am Computer einen Job und eine Wohnung zu suchen. »Hab
ich geschafft«, sagt Lanze, »bald zieh ich um.«
Lanze erzählt von
seiner Zeit in diesem Haus wie aus einem Märchen. Allein die
Weihnachtsfeier 2009: »Erbsensuppe mit ordentlich Würstchen,
Kaffee, Kinderpunsch und für jeden einen Beutel mit Klappkalender
und Kugelschreiber.« Das Wort Würde ist ihm nicht geläufig, aber
es ist das, was er umschreibt.
Der Tagessatz im
Panorama Nord liegt bei 14,50 Euro. Das Heim ist im Schnitt zu 95
Prozent belegt, von 85 Prozent an wird Gewinn gemacht.
Ehlert, den Boss,
sah Lanze zum ersten Mal vor einem halben Jahr, auf der
Weihnachtsfeier. Der Maserati fuhr vor, aus der Rückbank wuchtete
sich ein schwarzer Mann mit Stetson-Hut, und Lanze dachte: »Na, da
hat wohl einer im Lotto gewonnen.« Als wenige Monate später
Fernsehteams vor dem Heim standen und die frisch gestrichene Fassade
filmten, als sei damit irgendetwas zu belegen, hätte Lanze ihnen
gern in die Mikrofone gesprochen: »Meinetwegen kann der Ehlert vier
Maseratis fahren – mir hat es hier an nichts gefehlt.« Allerdings,
sagt Lanze, habe von ihm niemand etwas wissen wollen. »Die hatten
überhaupt keine Fragen.«
So ging das
tagelang. Reporter kamen und gingen, filmten und schwiegen.
Irgendwann hat dann einer der Heimbewohner ein Fernsehteam des rbb
mit einem Besenstiel vom Hof gejagt.
Wen der Maserati
anekelt, der mag Leuten wie Lanze ungern zuhören. Aber interessant
ist, dass dieser einfache Mann, der Ehlerts Arbeit allein an sauberen
Betten und abschließbaren Zimmern bemisst, ihn freispricht. Man kann
auch Rolf fragen oder Petra, man kann sich mit Manfred unterhalten
oder mit Nadine, man kann durch Ehlerts Obdachlosenheime reisen, die
Zahnlosen, Zerfurchten und Gebrochenen um ihre Meinung bitten –
immer wieder hört man einen Satz: Der Mann im Maserati hat uns
gutgetan. Er ist besser zu uns gewesen als die freudlosen
Sachbearbeiter in den Ämtern. Ehlert hat uns eine Idee vom kleinen
Aufstieg gegeben. Mit einem sauberen Zimmer fängt das Leben an.
Jene, die so über
ihn sprechen, erinnern sich daran, wie das Panorama Nord ausgesehen
hatte, bevor Ehlert es vom Bezirksamt übernahm: Kabelbrände hatten
die Decken geschwärzt, der zweite Fluchtweg war mit Birken
zugewuchert.
Der Architekt
Siegfried Hertfelder hat mehrere Häuser für Ehlert umgebaut, er
sagt, er sei erstaunt gewesen über die Besessenheit dieses Bauherrn.
Ehlert liebte zentrale Lagen für seine Heime, »nicht verschämt am
Feldrand« – stattdessen mit einer riesigen
Treberhilfe-Leuchtreklame an der Fassade, wie bei einem
Flughafenhotel.
»Mit dem saß man
bis tief in die Nacht und hat diskutiert, wie gute Architektur für
Obdachlose aussieht: eine, die sie willkommen heißt, aber nicht zu
lange hält.« Stundenlang referierte Ehlert über die Wirkung warmer
Wandfarben, Hertfelder versuchte dann, ihn von seinem »Hang zum
Toskanischen« abzuhalten. Gern erzählt der Architekt von Ehlerts
Toilettentheorie: »Mehr als zwei Menschen sollen sich ein Bad nicht
teilen dürfen – wenn der eine da nicht die Klobürste benutzt,
kann der andere immer sagen: Jetzt mach aber mal!« Jeden
Fassadenentwurf habe Ehlert sich zeigen lassen, jede Fliese ließ er
sich vorlegen.
Jahr für Jahr kauft
Ehlert Häuser, nimmt Kredite auf, seine Treberhilfe wächst. Je
größer das Unternehmen, desto härter wird sein Zugriff. In einer
Welt der weichen Worte will er harte Fakten. Sechs Jahre lang tüftelt
er an einem Computerprogramm, in das seine Sozialarbeiter
Informationen eingeben müssen: Wie schätzen Sie das
Konfliktverhalten des Klienten ein? Wie hoch ist seine Motivation? In
Ehlerts Programm wird jeder Klient zur Verlaufskurve, alle Arbeit
nachprüfbar. Das ist die eine Hälfte des Programms. Die andere
versteckt sich hinter dem Button »Umsatz-Kontrolle«: Dort ist
jederzeit ablesbar, ob eine Einrichtung der Treberhilfe gerade Gewinn
macht oder Verlust. Ob sie gut belegt ist oder schlecht. Irgendwann
haben die Computer in den Treberhilfe-Außenstellen keine Festplatten
mehr, alle Daten laufen in 14 Großrechnern in der Zentrale zusammen.
Dort klickt sich Ehlert durch die Live-Bilanzen seiner Filialen.
Heimleiter, die ihre Häuser nicht über dem roten Strich halten,
haben plötzlich ein Problem.
1999 drängt Ehlert
in die Politik. Er hat die Treberhilfe nach seinen Vorstellungen
geformt, jetzt kandidiert er für die Berliner SPD bei den Wahlen zum
Abgeordnetenhaus. Er lässt Plakate drucken, die einen siegessicheren
Mann im weißen Anzug zeigen. Er tritt noch sozialdemokratisch
stilecht in Genossenschaftssiedlungen auf, aber auch schon im
Internet. Im Abgeordnetenhaus zieht Ehlert in den Hauptausschuss ein,
das entscheidende Gremium für Finanzen. Es gibt nicht viele Leute in
der Berliner SPD, die eine Bilanz lesen können, schon deshalb wird
Ehlert geschätzt. Und er neigt dazu, sich selbst zu überschätzen.
Nach einer Fraktionssitzung sagt er über den späteren Bürgermeister
Klaus Wowereit: »Jetzt habe ich es dem Klaus aber mal richtig
gezeigt.«
Es scheint, als
wolle er ausprobieren, ob er ein noch größeres System nach seinen
Vorstellungen formen kann.
Dann aber, Ende des
Jahres 2000, ist er plötzlich verschwunden. Niemand in der Partei
weiß, wo Ehlert steckt. Der Abgeordnete ist abgetaucht, über
Monate. Nur einer Genossin in seinem Heimatbezirk Schöneberg
vertraut er sich an: Angelika Schöttler, Tochter eines früheren
Bürgermeisters von Berlin-Schöneberg. Sie weiß, dass Ehlert
schwere Herz-Kreislauf-Probleme hat. An der Nordsee erholt er sich.
Als er nach Berlin zurückkehrt, sagt er den Genossen bloß: »Ich
hatte eine Krise.«
Schon zuvor hatte
Ehlert auf einige seiner Genossen seltsam verloren gewirkt. Ein
einsamer Mann, der manchmal eine Freundin zu Parteifesten mitbrachte,
ganz selten über die beiden Töchter aus seiner zerbrochenen Ehe
sprach – und über seine frühere Frau nie. Wie er wirklich denkt,
wie er wirklich ist, bleibt selbst den wenigen Freunden verborgen,
die sich abends mit ihm auf ein Bier treffen.
Wie sieht er sich
selbst? »Ich bin mobil zwischen verschiedenen Welten«, sagt Ehlert,
jeder sehe in ihm einen anderen: die Betriebswirte den
Sozialarbeiter, die Sozialarbeiter den Betriebswirt. Man kann Ehlert
fragen, wie seine Töchter über ihren Vater denken, und er
antwortet, er wisse es nicht genau. Jeder Frage, die tiefer in ihn
eindringen könnte, entzieht er sich durch Flucht ins Ungefähre.
Auf seine Genossen
wirkt Ehlert ruhelos, gehetzt, ein Mann ohne Mitte. Ihm fehlt die
Geduld für endlose Sitzungen, mit der Geselligkeit in piefigen
Vereinsheimen kann er wenig anfangen. Er benötigt die Politik aus
geschäftlichen Gründen, aber er ist zu sehr verliebt in messbare
Erfolge, als dass er bereit wäre, sich für die Politik
krummzulegen. Die Partei verliert das Vertrauen in ihn und stellt ihn
2001, bei den nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus, nicht mehr auf.
Ehlert versucht es
nun auf der untersten politischen Ebene, wird ins Bezirksparlament
von Schöneberg gewählt, wo seine Vertraute Schöttler zur
Jugendstadträtin aufsteigt. Sie ist noch unsicher in diesem Amt.
Eine Angestellte im Chemiekonzern Schering war sie, zuständig für
Datenverarbeitung, und Ehlert sagt ihr, was wichtig ist. Er braucht
Aufträge. Als die Treberhilfe weiter wächst, geht er kaum noch zu
Parteiversammlungen, scheidet 2005 aus dem Bezirksparlament aus,
kümmert sich ganz ums Geschäft. Einige seiner Heime sind bis zu 98
Prozent belegt, im Schnitt.
Ehlert besucht die
wichtigen Leute in den Bezirksrathäusern persönlich, geht dorthin,
wo Monat für Monat Millionensummen vergeben werden. Ihm fällt es
leicht, das Vertrauen fremder Menschen zu gewinnen. Er betritt ein
trauriges Amtszimmer, und plötzlich hat dieses Zimmer eine Farbe und
einen Klang. Er wirkt ganz anders als diese Sorgenonkel von der
Caritas und der Arbeiterwohlfahrt, die immer so aussehen, als müssten
sie das Leid der Welt allein schultern.
Der Staat will sich
jetzt wandeln. Er will nicht länger die Bedürftigen durchfüttern.
Der Staat will die Rückkehr ins Leben fördern. Aus
unterschiedlichsten Quellen fließt Geld, aus dem Berliner Senat, den
Bezirksämtern der Stadt, aber niemand kann sagen, ob es sinnvoll
verteilt wird. Es sind schon Kommissionen an der Frage gescheitert,
wie viele Milliarden der Staat für soziale Dienste ausgibt. Ein
undurchschaubarer, wachsender Markt. Und Ehlert wächst mit.
Man kann die Ausmaße
sehen, wenn man den schnaufenden Harald Ehlert im Renault neben sich
sitzen hat. Das Plastiktischchen, das er ausgeklappt hat, damit er
seinen Kaffeebecher abstellen kann, schneidet ihm in den runden
Bauch. So sehr ist er aus der Form geraten, dass ihn einige seiner
Mitschüler zuerst gar nicht erkannten, als in diesem Frühjahr die
Maserati-Fotos in den Zeitungen auftauchten. Was war er für ein
schlanker Bursche, als er vor 20 Jahren die Treberhilfe übernahm.
Mit dem Erfolg kamen die Zigaretten, erst wahllos irgendwelche
Marken, dann als SPD-Kandidat im Wahlkampf das milde, modische
Bekenntnis: täglich zwei Schachteln Gitanes, die weißen, passend
zum Anzug. Danach die Herzprobleme, die Abkehr vom Nikotin, der
Vorsatz, gesünder zu leben. Das Geschäft mit der Armut lief
prächtig, der Hunger nach Geltung nahm zu, aus dem Hunger wuchs
Gier, aber die Gier machte ihn nicht mehr satt. Er stellte eine
Sekretärin ein, die ihm Schnittchen schmiert.
»Meister«, ruft
Ehlert nach vorn, »sehen Sie mal zu, dass Sie rechts rauskommen,
sonst machen wir hier gleich ein Staupicknick. Ich will aber in die
Monumenten!«
Die
Monumentenstraße. Dort kauft Ehlert 2009 ein heruntergekommenes Haus
– die frühere Grundschule seiner ältesten Tochter. Er ruft sie an
und sagt, dass er etwas Schönes daraus machen wird. Ehlert denkt
jetzt in noch größeren Dimensionen. Als Barack Obama 2008 zum
amerikanischen Präsidenten gewählt wurde, gratulierte Ehlert in
Lokalzeitungen mit halbseitigen Anzeigen: ein Sozialarbeiter im
Weißen Haus! Nun liegen da diese 17.000 Quadratmeter Grundstück
inmitten Berlins. Ehlert will die Schule abreißen und fünf neue
Häuser bauen – er nennt sie »Maisons de Socialité«: ein
Familienzentrum, ein Jugendhilfezentrum, ein Obdachlosenheim, eine
Schule, in der seine Klienten gemeinsam mit den Kindern des Viertels
lernen sollen. Und eine neue Zentrale für die Treberhilfe, im
Obergeschoss ein riesiges Büro für ihn. Alles durchzogen von
Kiesgärten, aufgeheitert mit Springbrunnen. Seine Vertraute, die
Jugendstadträtin Schöttler, ist begeistert.
Als Meister in der
»Monumenten« angekommen ist, steht da nur ein Bauzaun, dahinter die
Asbest-Ruine der Schule. Ehlert schreitet das Grundstück ab wie ein
Farmer seinen Claim. Er nennt das hier »die Unvollendete«. Selbst
im Scheitern will er groß klingen.
Was wäre hier
entstanden, wenn der Maserati nicht dazwischengekommen wäre? Eine
soziale Stadt in der Stadt? Ein Denkmal für einen Sozialunternehmer?
Ehlert hat aus der
Treberhilfe einen Immobilienkonzern gemacht, ein verschachteltes
Gebilde, das nur noch er selbst durchdringt, das im vergangenen Jahr
rund 15 Millionen Euro umsetzte – und davon eine Million als
Überschuss auswies. Da hat Ehlert, der Autoliebhaber, seinen drei
Prokuristen längst schon BMW-Z4-Cabrios als Dienstwagen gegönnt.
Heimleitern, die mehr als 70.000 Euro im Monat umsetzen, stellt er
BMW-Geländewagen zur Verfügung. Sein eigenes Gehalt erhöht er sich
in manchen Jahren um bis zu 50 Prozent. Ehlert will seinen Erfolg
sichtbar machen und eine Debatte lostreten: »Muss sich Moral mit
Hässlichkeit umgeben?« In Interviews bezeichnet er sich voller
Wonne als »Mischung aus Dagobert Duck, Mutter Teresa und Horst
Schimanski«.
Und er kauft die
Villa am See.
Es ist vor fünf
Jahren, nach einer seiner Krankheiten. Ehlert macht eine Spritztour
durch Brandenburg und kommt zum Schwielowsee bei Potsdam. Im
weltvergessenen Caputh findet er eine spitzgiebelige kleine Villa,
steingewordene Beschaulichkeit, gut fürs Herz. An diesem See hat
einst Albert Einstein gewohnt und gesagt: »Komm nach Caputh, und
vergiss die Welt.« Einsteins Satz wird Ehlerts Satz. Die Villa liegt
40 Kilometer von der Zentrale seiner Treberhilfe entfernt. Die
Mitarbeiter könnten pendeln, denkt Ehlert, »sonst hätten wir noch
die ganze Beherbergung dabei«. Abends am Wasser will er seine Ruhe.
Die Treberhilfe
kauft das Haus. Ehlert lässt zwei Pavillons am See errichten, für
Schulungen seiner Sozialarbeiter. Im Dachgeschoss der Villa lässt er
sich eine Wohnung ausbauen, für die er Miete an die eigene Firma
zahlt. Für die stillen Stunden kauft er sich ein Paddelboot.
Will man den
Staatsanwalt sprechen, der die Ermittlungen gegen Ehlert leitet, muss
man ein schäbiges Haus betreten. In einem ausrangierten
Gesundheitszentrum läuft man an einer Gedenktafel vorbei, die an den
Erfinder des Penicillins erinnert, ein paar Treppen hoch, einen
trostlosen Korridor entlang. Wenn hier die Staatsmacht wohnt, die
gegen einen Wohltäter mit Dienstvilla am See ermittelt, dann kann
man sich gut vorstellen, dass diese Macht große Freude daran hätte,
den Verdächtigen zu überführen.
Aber da sitzt
Ulf-Hartwig Hagemann an seinem Schreibtisch, Oberstaatsanwalt,
Hauptabteilungsleiter C, und reibt sich ratlos die Hände. Bis zu
fünf seiner Kollegen arbeiten sich gerade am Fall Ehlert ab. »Wir
behandeln das Verfahren vorsichtig«, sagt Hagemann, das Finanzamt
prüft auch. »So etwas haben wir noch nie gehabt.«
Untreue? Hm, sagt
Hagemann, falls Ehlert für seine Wohnung in der Villa nur eine
kleine Miete gezahlt hat, dann war das wohl keine Untreue, eher ein
Steuerdelikt.
Über den Verein
Treberhilfe sind das Seegrundstück und die Villa als Vermögenswerte
in die GmbH eingebracht worden. »Aber was ist das rechtlich? Eine
Schenkung? Eine Schenkung an eine gemeinnützige GmbH ist steuerfrei.
So sieht es jetzt aus.« Der Maserati, Listenpreis 114.000 Euro? Ein
vom Finanzamt anerkannter Firmenwagen. Viele andere Geschäftsführer
sozialer Dienste fahren schwere BMW- und Mercedes-Limousinen, auch
nicht viel preiswerter.
422.000 Euro im
Jahr, 35.000 pro Monat – Untreue? Wohl nicht, sagt der Ermittler,
ein unabhängiger Wirtschaftsprüfer hat ein Gutachten erstellt.
Ehlerts Gehalt liegt demnach an der obersten Grenze, sei aber so eben
noch angemessen. Andere Geschäftsführer sozialer Dienste in Berlin
verdienten im Monat 10.000 bis 15.000 Euro, aber sie erledigten
diesen Job oft zu zweit, das sei zusammengenommen auch nicht viel
billiger.
Was zum Teufel hat
Ehlert anders gemacht als die anderen? Das fragt sich Hagemann die
ganze Zeit. Wie ist es ihm gelungen, mit so wenigen Mitarbeitern so
viel Profit zu machen? Wo andere sich die Arbeit teilen, Kleinkram
delegieren, hat Ehlert alles an sich gerissen – und seine
Sozialarbeiter zum unbedingten Gewinndenken gezwungen. Aber ist das
strafbar? Hat es etwas zu bedeuten, fragt sich der Ermittler, dass
Ehlert seinen Angestellten 100 bis 200 Euro im Monat weniger zahlte
als im Branchenschnitt? »Machen das viele andere nicht auch?«
Seinen Prokuristen hat Ehlert über die Jahre sogar kräftig die
Gehälter erhöht. Es gebe, sagt der Staatsanwalt, keinen
Angestellten der Treberhilfe, der Ehlert wegen schlechter Bezahlung
angezeigt habe.
Untreue? Wurde
überhaupt ein Schaden verursacht? »Da sind wir im philosophischen
Bereich«, sagt der Staatsanwalt, »Untreue ohne Schaden ist nicht
denkbar. Und versuchte Untreue gibt es nicht, fahrlässige Untreue
auch nicht. Irgendwo müsste der Schaden doch sein.«
Hat Ehlert seinen
Laden bloß besser geführt, zum Nutzen der Obdachlosen, zu seinem
privaten Vergnügen obendrein? Ehlert hat sich hoch verschuldet, er
hat für seine Firma etwas riskiert. Ist es illegal, wenn sich ein
raffinierter Unternehmer aus den Gewinnen bedient, nachdem er
Tausende Obdachlose bedient hat?
Der Staatsanwalt
fragt: »Und wenn Ehlert einfach nur cleverer war?«
Harald Ehlert hat
das Gute in obszöner Offenheit mit dem Schönen vermengt, sich an
der Symbolik einer Wirtschaftsbranche vergangen, die ihr Bild der
selbstlosen Helfer pflegt. Für die Männer mit den traurigen Augen,
die an der Spitze von Wohlfahrtsverbänden stehen, ist ein Mann mit
dem Lachen eines Zirkusdirektors nichts als eine Provokation. Harald
Ehlert hat Gutes getan, aber seinen Lustgewinn nicht gut genug
versteckt. Zu diesem Schluss kann man kommen, wenn man die Fragen,
die sich der Chef der Ermittler stellt, zu einer Antwort verdichtet.
Der Staatsanwalt sagt: »Und wenn Ehlert einfach nur cleverer war?
Vielleicht muss er am Ende noch das Bundesverdienstkreuz kriegen. Ich
weiß es nicht.«
Der Mann ist ein
Rätsel. Auch für seine Mitarbeiter wird er immer undurchschaubarer.
Nachdem Ehlert in die Villa am See gezogen ist, verändert er sich,
und mit ihm die Treberhilfe. Jede Woche pendeln Angestellte zwischen
Berlin und Caputh, um von Ehlert geplante Fortbildungen zu
absolvieren. Zum Abschluss der Kurse verteilt er selbst entworfene
Zertifikate – im Briefkopf ein Bild der Villa. Einmal in der Woche
treffen sich die Führungskräfte zur Tagung am See, um 9.30 Uhr geht
es los. Doch manchmal hat Ehlert sein Frühstück erst um 11 Uhr
beendet, kommt um 12 Uhr und verabschiedet sich zehn Minuten später
»zu einem Anschlusstermin«.
»Führerhauptquartier«
nennen seine Leute die entlegene Villa, »Wolfsschanze«. Ehlert,
sagen sie, habe sich nur noch für Zahlen interessiert. Die Bilanzen
bestimmen von nun an sein Seelenleben, lösen Verzückung aus – und
Jähzorn. Wer nicht liefert, was der Chef will, wird rausgeschmissen.
In manchen Monaten gibt Ehlert mehr für Abfindungen aus als für
sein eigenes Gehalt. Von 2007 bis heute war Ehlerts Treberhilfe an 43
Prozessen vor dem Berliner Arbeitsgericht beteiligt.
Da ist Manfred B.,
der Betriebsrat, den Ehlert nicht akzeptieren will und deshalb zur
Gartenarbeit abkommandiert, zum Unkrautzupfen und Fegen.
Da ist Benjamin K.,
ein junger Sozialarbeiter, der nach sieben Monaten kündigt – und
von dem Ehlert 4157,73 Euro Ausbildungskosten für seine
Fortbildungen am See zurückfordert.
Da ist Georg K., der
Mann für die EDV, dem Ehlert in diesem Frühjahr aufträgt, die
Ergebnisse einer Google-Suche zu seinem Namen so zu steuern, dass der
Maserati nicht mehr sofort auftaucht. Dem EDV-Mann gelingt das nicht
– Rausschmiss.
Und da ist Tobias
Vogel, ein Sozialpädagoge, den Ehlert anfangs liebte wie einen
Ziehsohn. Vogel hatte lange eine Kneipe geführt, er dachte wie ein
Selbstständiger. Er sagt von sich, dass er »eher für Handkante als
Helfersyndrom« stehe und dass er gut »mit den 40- bis 50-jährigen
Damen auf den Ämtern« gekonnt habe. Hier ein paar Komplimente, da
»Aldi-Champagner für 13,99, zu Karneval ein paar Pfannkuchen« –
und die Betten im Heim waren wieder voll. Als er Ehlert um eine
Gehaltserhöhung bat, habe der geantwortet: »Der Fisch bestimmt
nicht über den See, in dem er schwimmt.«
So umgeben Ehlert
bald nur noch Höflinge, die ihm sein Reich schöner schildern, als
es ist. Die ihm draußen in Caputh verschweigen, dass sie kaum noch
investieren, um ihn mit glänzenden Bilanzen zu erfreuen. Die nicht
zu sagen wagen, dass sie, um ihre Häuser auszulasten, auch
Obdachlose aufnehmen, die in einer Psychiatrie oder in einer
Entziehungsklinik besser aufgehoben wären.
Dass zu viel des
Guten manchmal schlecht ist.
Der 12. Februar
dieses Jahres ist der Tag, an dem sich Harald Ehlert sein Grab
schaufelt, und er ahnt nicht einmal etwas davon. Er tut das, was er
immer tut: Aufgeregt läuft er durch das Rathaus von
Berlin-Schöneberg, hat sich mit zehn Leuten gleichzeitig zum
Gespräch verabredet. 200 Gäste sind auf seine Einladung hin zu
einer Konferenz gekommen. Einige von ihnen waren auch schon auf der
letzten Sommerparty der Treberhilfe, als Feuerwerksraketen zu den
Klängen von Frank Sinatras My Way den Nachthimmel bemalten.
SPD-Funktionäre
sind erschienen, CDU-Leute, auch ihr Berliner Generalsekretär, ein
Mann vom Bund der Steuerzahler, der Chef der Diakonie, der
Arbeiterwohlfahrt, eine Dame von der HypoVereinsbank. Ehlert hat
einem Wirtschaftsprofessor der Universität Mannheim und der
Unternehmensberatung Kienbaum Datenreihen der Treberhilfe überlassen,
damit sie den »Social Profit« ausrechnen, den gesellschaftlichen
Effekt seiner Sozialarbeit: Was nützt es dem Staat, wenn er Geld für
die Betreuung von Obdachlosen gibt? Es nützt dem Staat dann etwas,
wenn die Obdachlosen dauerhaft in ein normales Leben zurückfinden,
keine Kosten mehr verursachen. Das ist Ehlerts neueste Idee: Er sucht
nach einer Maßeinheit für den Erfolg und den Misserfolg von
Sozialarbeit.
Für jeden Euro, den
die Treberhilfe vom Staat bekommt, kriegt der Staat 1,15 Euro zurück.
Das sind die Ergebnisse, die sich Ehlert von Wissenschaftlern
ausrechnen ließ. 15 Prozent Nutzen, die Zahl dieses Tages, eine
glänzende Zahl für Ehlert, für andere eine furchterregende. Was
würde passieren, wenn die Sozialbehörden nur Anbieter mit einem
»Social Profit« auswählten? Dem Berliner SPD-Chef Michael Müller
ist nicht wohl bei dem Gedanken. Er sitzt in der Konferenz und sagt:
»Wenn sich diese Haltung durchsetzt, wird es dramatische
Veränderungen geben.« Wie soll der »Social Profit« in einem
Altenheim ausfallen? Ein 90-Jähriger wird nie wieder 20 sein. Wie
soll der »Social Profit« eines Sterbebegleiters steigen?
Einerseits will
Ehlert möglichst viele Menschen aus der staatlichen Hilfe befreien,
andererseits möglichst viele Plätze in seinen Unterkünften
belegen. Das ließe sich nur miteinander verknüpfen, wenn immer mehr
Obdachlose in Heime kämen und zugleich immer mehr von ihnen gerettet
würden, aber nur, damit am nächsten Tag noch mehr Obdachlose die
Unterkünfte füllen. Eine Kaskade des Elends, verbunden mit einer
Kaskade der Elendsbekämpfung. Ein Perpetuum Mobile aus lohnenden
Problemfällen, ein System, wie es auch die Finanzmärkte verrückt
macht. Was Ehlert sich da ausgedacht hat, ist die Utopie eines
kapitalistischen Streetworkers: ein Megalopolis der Penner.
Als die Konferenz zu
Ende geht, hat er viele neue Gegner. Dieser Mann ist einfallsreich,
gerissen und vielleicht gefährlich. Das wissen jetzt alle, die in
Berlin den sozialen Markt beherrschen. Als die frühere
Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing das Rathaus verlässt, sagt
sie sich: »Jetzt hat er die anderen sozialen Dienste richtig unter
Druck gesetzt.« Ehlert habe sich »unsere Sozialmafia zum Feind
gemacht«, sagt ein Berliner Sozialdemokrat, »er hat dem Kartell der
Verschwender gezeigt, dass man Rendite erwirtschaften kann«.
Es mag Zufall sein,
dass wenige Tage später die Affäre Ehlert losbricht. Der Maserati
wird zum Titelthema in Boulevardblättern, Ehlert zum bundesweit
bekannten Widerling. Daran wäre nichts Erstaunliches, wenn die
Neuigkeit vom Maserati wirklich eine Neuigkeit wäre. Aber der
Tagesspiegel hatte schon im Dezember 2008 auf einer ganzen
Zeitungsseite über Ehlert und den Sportwagen berichtet, doch niemand
regte sich auf. Was ist jetzt anders?
»Anscheinend fühlen
sich Leute von Ehlert bedroht«, sagt die Jugendstadträtin
Schöttler. Eine Nachricht, die auf fruchtbaren Boden fällt,
entfaltet ihre Wirkung. Und Ehlert verliert die Kontrolle, über
sich, über sein Unternehmen. Am Anfang entdeckt bloß der
Gerichtsreporter des Berliner Kuriers eine kleine Ankündigung einer
Verhandlung. Der Maserati ist von der Polizei geblitzt worden, der
Halter soll ein Fahrtenbuch führen. Da geht die Affäre los. Ehlert
veranstaltet abenteuerliche Pressekonferenzen, in denen er den
Maserati als Auto für »soziale Stadtrundfahrten« in
Hartz-IV-Gebieten präsentiert. Der Maserati muss ihn um den Verstand
gebracht haben. Er macht sich lächerlich, hält an dem Auto fest,
bemerkt seine Blamage nicht einmal.
Die Geschichte
könnte an dieser Stelle zu Ende sein, aber sie geht weiter, weil mit
einem Mal Ehlerts Lebenswerk zu zerfallen droht, und ob die Retter,
die sich als solche ausgeben, wirklich die Retter sind, kann niemand
eindeutig sagen. Der Chef im Aufsichtsrat der Treberhilfe, der
Vorstand der Diakonie, redet plötzlich schlecht über die
Treberhilfe. Die Diakonie, das große evangelische Sozialwerk, ist
ein Konkurrent der Treberhilfe, einerseits. Andererseits ist die
Berliner Diakonie auch ein Dachverband für 440 Sozialbetriebe, auch
für Ehlerts Firma. Noch ist das so – bis die Diakonie im Juni
beschließt, die Treberhilfe aus dem Verband zu werfen.
Da gibt es ihn
schon, einen Mann von der Diakonie, der zum Geschäftsführer des
eilig gegründeten Vereins Neue Chance berufen wird, der plötzlich
gebraucht wird, weil Sozialarbeiter der Treberhilfe aussteigen und
bei ihm anheuern wollen, im Haus der Diakonie. Man kann darin eine
freundliche Geste der Solidarität sehen – oder den Versuch einer
feindlichen Übernahme. Rainer Krebs heißt der Geschäftsführer für
die Wechselwilligen, Ehlerts Laden wäre eine leichte Beute.
Einen
»Umsatzeinbruch« der Treberhilfe, ja, so etwas könne er sich jetzt
vorstellen, sagt Krebs. Das Vertrauen der Ämter in Ehlerts Firma
habe extrem gelitten. Krebs sagt das sehr bedächtig, stockend, fast
so, als müsse er sich gegen eine Müdigkeit wehren, die auf seine
Augenlider drückt. Sein ausgestreckter Arm liegt wie tot auf einer
Stuhllehne. Er kennt viele Paragrafen des Sozialgesetzbuches, er ist
seit 30 Jahren dabei, und wenn man ihn nach seinem Auto fragt,
antwortet er lächelnd: »Ein Golf-Kombi. Ich nenne ihn Rolf. Rolf,
den Golf.«
Harald Ehlert hat
seine Autos nie getauft. Er hat sie gemustert wie ein Juwelier seine
Diamanten.
»Ich find’s nicht
dekadent überprotzt«, sagt Ehlert über die Villa am See
»Meister, nehmen
Sie die Autobahn!«, ruft Ehlert, und Meister weiß schon, wohin der
Chef jetzt will. Gleich sind sie am Ziel. Caputh, Schwielowsee, ein
lauer Wind in den Weiden, zwitschernde Vögel. Eine Hausangestellte
versucht, das große Tor zu öffnen, als der Wagen des Chefs
vorfährt, aber das Schloss klemmt. Das ist sie also, die Villa,
Ehlerts Zuhause. »Eine Premiere«, sagt er, »hier war noch nie ein
Journalist.« Die Kamerateams, die ihm auflauerten, habe er nicht
hereingelassen. Die Leute von Spiegel TV seien so aufdringlich
gewesen, dass er sie fast überfahren hätte. Fast überfahren, mit
einem Zwölf-Zylinder-Jaguar. Mit seinem privaten Cabrio.
Ehlert führt in die
Pavillons, in denen seine Fortbildungen stattfinden, kleine
Schmuckstücke, Massivholz, Marmor, ungleich wuchtiger als die Räume
des Diakonischen Werks. »Ich war nicht ganz unbeteiligt an dem
Entwurf«, sagt Ehlert. »Ich find’s nicht dekadent überprotzt.«
Für die Berliner Staatsanwälte wäre dies das Paradies. Die Villa
des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Starnberger See ist allerdings
bedeutend prächtiger.
In den beiden oberen
Etagen der Villa liegt Ehlerts Wohnung, 89 Quadratmeter – 89,5, von
einem Gutachter bestätigt, Material für die Ermittler. In diesem
Dachgeschoss hält Ehlert sich auf, wenn er nachts um zwei am Telefon
sitzt und Geschäftspartnern Rückrufbitten auf die Anrufbeantworter
spricht.
Die Sonne ertrinkt
blutrot im See, es ist schon Abend. Noch eine Frage, Herr Ehlert: Was
haben Sie falsch gemacht in Ihrem Leben?
Ehlert lehnt sich in
seinem Korbsessel zurück, sein Anwalt schaut ihn prüfend an. Ehlert
zögert, ungewöhnlich lange. »Nichts. Nichts habe ich falsch
gemacht.« Vom Maserati hätte er sich vielleicht früher trennen
sollen, sagt er, lobt dann aber wieder dessen
»Arbeitsplatzfähigkeit«. Der Wagen habe ja zwei Arbeitsplätze in
sich geborgen, »vorne der Fahrer, hinten ich«.
Für ein paar
Tausend Obdachlose hat Ehlert Heime gebaut, sich aber mit einem
Maserati von ihnen abgesetzt. Er hat die Funktionäre der
Sozialverbände mit diesem Auto erzürnt. Obwohl er die Gesetze der
Branche kennt, hat er mit einem falschen Fahrzeug die Zukunft seiner
260 Angestellten aufs Spiel gesetzt. Nichts falsch gemacht?
Harald Ehlert sinkt
noch tiefer in den Sessel, so als müsse er noch eine Weile über die
rätselhafte Frage nachdenken. Dann sagt er: »Non, je ne regrette
rien.« Nein, ich bereue nichts.
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