Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Schmidtismus
Von Georg Diez,
SZ-Magazin, 02.07.2010
Es gibt ein Foto aus
dem Jahr 1978, das ist so Helmut Schmidt, dass man fast lachen muss.
Schmidt ist da zu sehen, der Kanzler, der harte Hund, mit seinen
etwas mädchenhaft zur Seite gekämmten Haaren, seine Gesichtszüge
sind weich, er trägt eine dunkle Strickjacke und hält seine
Pianistenhände sanft gefaltet. Sein Blick ist nach unten gerichtet,
auf das Schachspiel, das vor ihm steht. Schmidt gegenüber sitzt
Loki, seine Frau, mit ihren kurzen, dunklen Haaren und dem
energischen, leicht herrischen Gesicht. Sie ist am Zug. Sie spielt
mit Weiß. Neben den beiden steht eine große Kanne Tee, ein
Fernglas, eine Zuckerdose, ein Milchkännchen, ein leeres Weinglas
und ein Whiskeyglas, in dem noch etwas Flüssigkeit zu sein scheint.
Es wird wohl Sonntag sein, denn das Foto war Teil einer Kampagne von
Kanzler Schmidt, eines „Experiments“, so nannte er es selbst.
Schmidt wollte den Deutschen einen „fernsehfreien Sonntag“
vorschlagen, um das „zwischenmenschliche Gespräch“ zu fördern.
Da war er, der
Volkspädagoge Schmidt, der ewige Soldat, der störrische
Sozialdemokrat, der stolze Kleinbürger, der seine Stadt vor der Flut
retten will, das Land vor der menschlichen Kälte und das Bürgertum
vor dem Untergang. Unterstützung kam damals von der
Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann und vom heute
umstrittenen Pädagogik-Professor Hartmut von Hentig, Kritik gab es
vom Gewerkschaftsboss Heinz Oskar Vetter, der nicht wollte, dass
Arbeitnehmer „in ihrer Freizeit bevormundet werden“, und von Inge
Meysel, die sich in „Bild“ über den „erhobenen Zeigefinger des
Kanzlers“ beschwerte.
Da war er, der
widersprüchliche, der besserwisserische, der bockige Schmidt, der
von seinen Genossen nie geliebt wurde, als er Kanzler war, und der
heute so populär ist, dass seine Bücher wie von selbst auf der
Bestsellerliste festkleben: Der Interviewband „Auf eine Zigarette
mit Helmut Schmidt“ mit „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di
Lorenzo, der Gesprächsband „Unser Jahrhundert“ mit dem
Historiker Fritz Stern, seine Erinnerungen „Außer Dienst“ –
und im Herbst drohen die nächsten Bücher, diesmal über Schmidt und
über Loki. Zu seinem 90. Geburtstag Ende 2008 wurde er gefeiert, als
gelte es, die Bonner Republik noch einmal hochleben zu lassen. Und in
diesen wüsten Wochen einer schwarz-gelben Taumelkoalition thront er
über Merkel, Gabriel, Wulff und selbst Gauck wie eine Mischung aus
Otto von Bismarck und dem Grantler aus der Muppet-Show.
Was ist da also
passiert? Wann hat das angefangen? Was hat es zu bedeuten, dass die
Deutschen sich gerade auf ihn einigen können, den historisch so
unglücklichen Zwischenkanzler, den Kanzler der Ölkrise, des
RAF-Terrors, des Misstrauensvotums, eingeklemmt zwischen Willy
Brandt, der die deutsche Einheit vorbereitete mit seiner Ostpolitik,
und Helmut Kohl, der die Einheit vollendete – Geschichtsgrößen
beide, zwischen denen der Krisenkanzler Schmidt eigentlich zu
verschwinden droht? Fehlt den Deutschen das epische Gespür für die
Statur dieser beiden? Macht ihnen das Angst? Ist es einfach so, dass
Brandt tot ist und Kohl sehr krank? Oder wollen die Deutschen
jemanden wie Schmidt, eben nicht den Emigranten Brandt und nicht den
Europäer Kohl, sondern den Wehrmachtssoldaten Schmidt, der erst so
spät vom Holocaust erfahren haben will? Den Pragmatiker, der doch so
oft wie ein Pastor klingt, selbst wenn er sagt, er sei gar nicht
religiös? Den Ex-Kanzler, der sagt, er sei ein Kleinbürger, was
aber so gar nicht mehr stimmt und auch noch nie gestimmt hat?
Angenehm und auch
etwas überraschend ist dabei, dass die Deutschen Helmut Schmidt
seine Arroganz nicht übel nehmen, entweder weil sie sich manchmal
ganz masochistisch gern an den Ohren ziehen lassen oder weil sie
wissen, dass das, was Schmidt sagt, eh keine Konsequenzen mehr hat.
Schmidt ist in gewisser Weise ein Orakel ohne Agenda, vernehmlich vor
allem als Dauergrummeln. Seine Stellung gleicht darin der des anderen
grand old Grantlers unserer Tage, Marcel Reich-Ranicki, der so
hochmütig ist wie Schmidt, der auch nie geliebt wurde, ganz im
Gegenteil, und der jetzt erst, im hehren, aber auch harmlosen Alter
verehrt und gefeiert wird. Bei beiden wird immer wieder betont, dass
sie ja „sagen, was sie denken“, was heute wohl tatsächlich eine
Seltenheit geworden ist. Bei beiden wird immer wieder darauf
hingewiesen, dass sie mit klaren, einfachen Sätzen und Urteilen
hantieren, was in einer komplexen und von Feigheit verstellten Welt
wohl befreiend wirkt. Man könnte es die Freiheit des Alters nennen,
die immer auch eine Narrenfreiheit ist, und wirklich hat der ganze
Schmidtismus etwas sehr Großväterliches.
Es sind eben vor
allem die Enkel, die Schmidt für sich entdeckt haben, die sich für
Schmidt begeistern – in der Politik haben sich diese Enkel nie
formiert oder einen Namen gegeben, es gab immer nur die Enkel Willy
Brandts: Aber eine Ironie der Geschichte ist es nun, dass die
Rückkehr des Helmut Schmidt ins öffentliche Bewusstsein
ausgerechnet zu der Zeit begann, als der Brandt-Enkel Gerhard
Schröder 1998 ins Kanzleramt einzog.
Schröder war dabei
nicht nur phänotypisch eine Art Schmidt ohne Zigarette. Er war wie
Schmidt aus dem Norden, er war wie Schmidt mehr und mehr mit seiner
Partei über Kreuz, einer Partei, die nun damit leben muss, dass ihre
zwei letzten Kanzler für sie derart zu rechts waren, dass links von
der SPD zwei neue Parteien entstanden: Helmut Schmidts Vehemenz in
Sachen NATO-Doppelbeschluss führte zur Gründung der Grünen 1980,
Gerhard Schröders Konsequenz bei der Agenda 2010 führte zum
Aufschwung der Linken. Schmidt war dabei, mehr als Schröder, nicht
nur eine Antifigur, sondern auch eine Lachfigur, so wie ihn etwa
Loriot zeigte, Zähne bleckend, Lippen leckend, wie er mit
philosophischem Ernst und dem ganzen Gewicht von Hegels Weltgeist auf
den Schultern die Probleme mit seiner Wasserrechnung erklärt.
Wie also verwandelte
sich dieser Mittelmann, dieser Technokrat, der so viel weniger
schillernd war als der im Vergleich zu ihm fast kennedyhafte Willy
Brandt mit seinen Frauengeschichten und seinem Alkohol? Warum wirkte
die doch auch angestrengte Normalität von Helmut Schmidt im
Vergleich zu Helmut Kohl massiver Spießigkeit auf einmal weltläufig?
Und welche Rolle spielte der Umzug von Bonn nach Berlin im Jahr 2000,
der das Land so fundamental änderte und eine mediale Enge und
Entropie erzeugte, in der Helmut Schmidt erst wirklich glänzen
konnte?
Was mit dem Umzug
jedenfalls einsetzte, war die Historisierung der alten
Bundesrepublik, woran das Fernsehen entscheidend beteiligt war. 1997
wurde Heinrichs Breloers Film „Das Todespiel“ über die
Entführung des Arbeitsgeberpräsidenten Schleyer gezeigt, 2003
folgte „Im Schatten der Macht“ über den Rücktritt Willy
Brandts, 2005 und 2006 dann wurde das Helmut-Schmidt-Event-Event
abgefeiert in „Die Nacht der großen Flut“ und „Die Sturmflut“,
2008 schließlich waren wieder die Terroristen dran mit „Mogadischu“.
Manfred Zapatka, Markus Boysen, Ulrich Tukur und Christian Berkel
spielten jeweils Helmut Schmidt. All diese Filme stellten die
vergehende Bonner Republik als gefährdetes Land da, mal durch die
Tiden, mal durch Terroristen, all diese Filme fanden in Schmidt
jemanden, der handeln konnte. Über die Tage im Großen Krisenstab
während der Schleyer-Entführung sagte Schmidt damals den
Schmidt-Satz: „Wir haben uns letztlich alle so gut verstanden, weil
wir alle Offiziere waren.“
Schmidt stand für
den Brückenschlag der Deutschen zu sich selbst, über die Schuld
hinweg. In diesem Zusammenhang ist es auch ganz interessant, ein
wenig in Schmidts aktuellem Bestseller zu lesen, der
Jahrhundert-Plauderei mit Fritz Stern. Wie immer ist Schmidt hier
offen und forsch, er wird aber seltsam verdruckst, ja ausweichend,
wenn es um Fragen des Zweiten Krieges geht. Fritz Stern, der
höfliche, alte Jude, will nicht zu sehr insistieren, aber es wundert
ihn doch, dass Schmidt etwa eine „besondere“ Verantwortung
Deutschlands für Polen nicht sehen will. „Die Verwüstung Polens“,
hakt Stern nach, „ich meine –.“ Und Schmidt fängt an, von den
drei Teilungen Polens im 18. Jahrhundert zu erzählen und die Schuld
der Deutschen im historischen Nebel verschwinden zu lassen.
Ähnlich nebulös
verhält sich Schmidt, als Stern ihn fragt, ob er wirklich schon vor
dem Kriegseintritt Russlands 1941 pessimistisch war, was den
Kriegsausgang betraf, und ob er wirklich nichts vom
Konzentrationslager Dachau wusste, das immerhin 1933 errichtet wurde.
„Helmut, entschuldigen Sie, wenn ich es so sage“, beharrt Stern.
„Dazu gehört ein gewisser Wille, es nicht zu sehen.“
Sehr viel
meinungsfreudiger ist Schmidt da, wenn es um Hitlers
Wirtschaftspolitik geht. „Die Nazis haben von 1933 bis 1936 ein
ökonomisches Kunststück vollbracht, das sonst niemandem in der
ganzen Welt gelungen ist“, sagt er und fügt noch mehrmals hinzu:
„Wenn Hitler 1936 erschossen worden wäre, würde er heute als Held
der Wirtschaftsgeschichte dastehen.“
Interessant sind
diese Sätze nicht wegen des substantiellen Unsinns, sondern weil sie
deutlich machen, wie Helmut Schmidt wahrgenommen wird, wie er gehört,
gelesen, bewundert wird: Weniger für das, was er sagt, als für die
Art, wie er es sagt. Es ist sein Stil, der fasziniert, nicht der
Inhalt. Er kann über Atomkraft diese Meinung haben (er ist dafür)
und über den Afghanistaneinsatz jene Meinung (er ist dagegen), diese
Meinung bleibt doch im öffentlichen und publizistischen Kontext
seltsam still und wirkungslos, verglichen jedenfalls mit der großen
Popularität, die ihm als Person, die ihm als Kanzler-Performer gilt,
mit seiner Schiffermütze, seinem Schnupftabak, seinem Schnodderton.
Schmidts Bedeutung
im merkelmüden, köhlerverkaterten, gabrielgelangweilten,
verrüttgerten, kraftlosen Krisendeutschland 2010 ist also eine
symbolische – er wird wahrgenommen eben nicht als historische
Figur, für das, was er als Krisenmanager vielleicht vorgeben könnte,
was von ihm zu lernen oder nicht zu lernen wäre als jemand, der die
erste Ölkrise meistern musste, der den Aufstieg des asiatischen
Rivalen Japans sah und einen Kapitalismus, bei dem es weniger auf
Rohstoffe ankam und mehr auf Technologie. All das wäre ja heute mit
China und Klimakrise nicht uninteressant. (An die Klimakrise glaubt
er übrigens nicht.)
Aber Schmidts
Funktion ist eine andere. Seine Sonne begann zu strahlen, nachdem
Kohl den Schatten frei gemacht hatte. Er wuchs in den Schröderjahren
zugleich als Gegenschröder und Schröderblaupause. Er wurde umgarnt
von medialen Enkeln wie Sandra Maischberger, die den Altenkult für
sich zum Markenzeichen machte. Er gewann immer mehr an Strahlkraft,
je ausformulierter die Sehnsucht nach Normalität, Bürgerlichkeit
und Patriotismus wurde. Er wurde groß, weil er 80 wurde und dann 90,
er wurde groß, ohne historische Größe zu erlangen, er wurde groß
in einer Zeit, in der die Enge in diesem Land zunahm, was seltsam
ist, weil die Enge mit der Großstadt Berlin zusammenhängt, wo die
Regierung und all die Lobbyisten und Journalisten heute sitzen.
Helmut Schmidt ist ein Produkt der Berliner Republik und jener
Berliner Hauptstadtpresse, die so gelangweilt ist von sich selbst,
ihren Winkelzügen, ihrer Verhaktheit, dass sie sich jemanden wie ihn
ausgesucht hat, um sich selbst immer mal wieder vorzuführen, wie es
gehen könnte.
Helmut Schmidt ist
damit das, was er immer war. Er ist der Stellvertreter. Er gewinnt
seine Funktion nicht aus sich selbst, sondern aus dem, was um ihn
herum ist. Es ist das merkwürdige, auch medial erzeugte Berliner
Vakuum, das Schmidt, Hamburg, Bonn so wachsen lässt. Es ist die
Empfindlichkeit eines Horst Köhlers, es ist die Mutlosigkeit einer
Angela Merkel, es ist die Kampfunlust eines Sigmar Gabriel, die den
kühlen Schmidt heute fast cool wirken lässt. Er ist im
Angstjahrzehnt der Nullerjahre gewachsen. Er hat im allgemeinen
Wabern Gestalt gewonnen. Die Linken mögen ihn nicht, die Rechten
mögen ihn nicht, was gar kein schlechtes Zeichen ist.
Die
Sehnsucht nach Helmut Schmidt ist die Sehnsucht nach Politik.
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