Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Ouzo-Power
Von
Wolf Reiser, Effilee, 01.06.2010
Das
etwa 60 cm hochwachsende und weißblühende Kraut namens Anis beginnt
bereits schon Ende Juli auf dem Feld zu trocknen. Nirgendwo sonst auf
der Welt gedeiht es aromatischer und ergiebiger als auf der
drittgrößten griechischen Insel Lesbos, deren Pseudonym Mitilini
lautet und die sich in etwa 10 km Entfernung von der türkischen
Grenze befindet. Dieser Anis ist ein mittelmäßig hübscher
Doldenblütler mit aromatischer Nähe zu Dill und Fenchel. Im
Mittelmeerraum kennt man ihn seit Jahrtausenden als Gewürz- und
Heilmittel. Er soll Magen und Darm gut tun, mortale Koliken
beseitigen und, natürlich, wie fast alles dem mediterranen Boden
Entwachsende auch als Aphrodisiakum dienen. Kunstgeübte
Frauenhände widmen sich in der Gluthitze des Sommers den
Krautbüscheln, trennen samenhaltige Blüten vom Gestänge und
bündeln den Rest, der später luftgetrocknet, kühl gelagert und im
Lauf der Zeit seinen diversen Verwendungszweigen zugeführt wird.
Wir
Deutschen empfinden dieses ganze Anissegment nebst Wermut und Kümmel
als Trübung des Genussempfindens. Selbst die klebrigen Hustenbonbons
der Kirmesfeste, das knochentrockene Weihnachtsgebäck und die
teerschwarzen Laktrizschnecken können uns nicht so richtig mit dem
Orient versöhnen. Das Reich des Anis gehört zu einer anderen Welt.
Auch als er im 20. Jahrhundert in Form höchstprozentiger Liköre die
mediterannen Küsten verließ und in den Künstlerkreisen von Paris,
Wien und Berlin Freunde suchte, hinterließ er dort eine Spur der
Verwüstung. Van Gogh schnitt sich im Absinthwahn ein Ohr ab,
Verlaine feuerte auf seinen Poetenfreund Rimbaud und auch an der
Spree setzte die „grüne Fee“ die toughesten Nachteulen außer
Gefecht. Es muss durchaus etwas dran sein an diesem Anis-Plus-
Elixier – ob Chincon, Sambuca, Arak, Raki, Pastis, Mastika oder
eben auch Ouzo - um dessen massbedachte Handhabung zwischen Glück
und Wahn, Aperitif und Blue-Hour-Dröhnung sich schon die alten
Griechen besorgt zeigten.
***
Auf
meinem Flug von Athen nach Lesbos fiel mir zu diesem Thema eine
Episode ein aus dem Jahre 1988, glaube ich, eine Begegnung, die so
eigentlich nur in Griechenland stattfinden kann. Ich schrieb damals
für diverse Magazine Reportagen und Portraits über Griechenland und
traf eines Abends an der Bar des Athener Grande Bretagne Hotels Theo
Skotinos, einen etwa 45-jährigen Unternehmer aus Zypern, Import,
Export, clever, redselig, ein Mann der Levante eben. Nach einem
kurzen Small-Talk-Abtasten beorderte er beim Barkeeper zwei Gläser
„Ouzo 12“, eine sehr populäre Marke, über die ich mir aber kein
Urteil erlauben will, denn je müder die Produkte griechischer Firmen
sind, desto wacher agieren deren Advokaten, um Rufschädigungen zu
ahnden. Wir stießen an und während ich die süßliche Pampe zügig
hinunterkippte, schaute er mich mit großen Augen an. „Und?“
fragte er. „Was meinen Sie? Schrecklich, nicht wahr? Hustensaft.
Oder noch schlimmer?“ Gleichzeitig zog er ein kleines 4
cl-Fläschchen aus seiner Anzugtasche und schüttete den Inhalt in
ein frisches Glas. „Probieren Sie jetzt das! Mein Produkt! 13! Ouzo
13! Wie finden Sie das? 13!“ Das Etikett war in Farbgebung und
Schrifttyp nahezu identisch mit jenem des berühmten Ouzo 12, nur
dass da eben eine 13 stand. Voller Erregung über seinen genialen
Marketing-Coup wischte er sich die Freudentränen aus den Augen,
kicherte blöde und breitete dann mit ernster Miene eine Unmenge an
Unterlagen aus, Zahlen über Zahlen, Investitionen, Umsätze,
Prozente, Renditen und Profite. Als Deutscher und Journalist war ich
natürlich prädestiniert als neuer Partner. „Ich habe die Sonne,
das Meer, den Ouzo und Sie haben die Technologie und den Markt. Wenn
wir zwei diese Dinge zusammenbringen, werden wir reich, sehr reich.“
Als ich später, weit nach Mitternacht vom Balkon meines Zimmers aus
den pastisgelb erleuchteten Akropolismarmor betrachtete, klingelte
das Telefon. Statt meiner Frau meldete sich mein neuer Chef. „Ich
habe mit Nick gesprochen. Alles ist klar. Ich hole Sie morgen Mittag
ab.“ Tatsächlich rasten wir Punkt 12 Uhr mit seinem schwarzen
Jeep die vierspurige Syngrou-Avenue hinunter, vorbei an der
Galopprennbahn von Faliron und bogen dann in den Yachthafen von
Kalamaki ein. Dort erwartete uns schon Nick, ein Odysseus in
Reinkultur, grauhaarig, braungebrannt, vollbärtig, glückselig
bekifft und in Begleitung eines spindeldürren Schimpansen, der mich
feindselig musterte. Seine Yacht war ein prächtiges Segelboot, ein
Zweimaster, gut 20 Meter lang aus edlem Tropenholz gezimmert und im
historischen Piratenlook gehalten. Theo schüttete uns an der Bordbar
einige Wassergläser voll mit seinem Ouzo 13 und bald hatten wir alle
auf nüchternen Magen einen ordentlichen sitzen. Mit alle meine ich
auch den kastanienbraunen Schimpansen, der kräftig mitschluckte und
mir stets die frisch angezündete Zigarette aus dem Mund riß und
dann hoch oben unter der Decke feixte. Theo legte meine
Provisionsprozente fest, nahm mich dann am Arm und öffnete auf dem
Vorderdeck eine unscheinbare Holzklappe. In dem Lagerraum stapelten
sich gefühlte 20 000 Literflaschen seines Ouzo 13. Offenbar stand
dessen weltweite Einführung unmittelbar bevor und er versprach sich
speziell von diesem 12&13-Plagiats-Schachzug sensationelle
Erfolge. Auf sein Geheiß reichte ihm Nick jetzt eine Art Poesiealbum
mit Hunderten eingeklebter Polaroids. Das Werk trug den Titel „Summer
1988“ und auf den Fotos waren junge, meist blonde und sehr nackte
Mädchen zu sehen; alle in einer mächtig bedröhnten Ballermann-
Stimmung. „Ouzo 13! Schau, was der Anis aus euren Frauen macht,“
kicherte Theo listig. Nick schenkte erneut nach und der torkelnde
Affe schnappte sich tatsächlich wieder meine Karelia. „Lieber
Wolf, Ouzo, das ist Sorbas, das ist Griechenland, das ist Eros, das
ist Wahn, das ist Freiheit, das ist Weisheit“, jubilierte Theo.
Plötzlich waren wilde Schreie von den Nachbarbooten zu hören. Aus
dem Schiffsbauch stiegen dicke, schwarze Rauchwolken empor, es
knisterte gewaltig und dann schlugen uns schon meterhohe Flammen
entgegen. Offenbar hatte der pyromanische Affe die Zigarette
verloren. Wir retteten uns hinüber auf das Hafenkai und schütteten
eimerweise Meerwasser in Richtung Brandherd. Irgendwie konnten wir
das Schlimmste verhindern, bevor dann unzählige Feuerwehrautos
eintrafen. Ich habe seither nie wieder etwas von dem infernalen Trio
gehört.
Ouzo,
Wahn und Hellas. Im Jahre 2009 wurden in Deutschland rund 13 Mio
Flaschen des Anisschnaps in den Handel gebracht.
Die
meisten von uns werden Bekanntschaft geschlossen haben mit dem
milchig-trüben und recht preiswerten Aperitif in den Siebziger
Jahren an den Stränden von Matala, Mykonos oder Monemvassia mit den
Songs von Cohen, Dylan und Stevens am abendlichen Lagerfeuer, beim
Feiern all der deutsch-hellenischen Affären und dem hemmungslosen
Schmieden kühner Aussteigerträume. Der Kater, so oder so, kam stets
von ganz alleine. Da kann jeder so seine Geschichte erzählen von
diesem rettenden Glas Leitungswasser am Morgen danach, welches dann
in Sekundenschnelle die Ekstasen wieder rückwärts spulte und dies
nur ganz sehr selten zur echten Freude des Betroffenen.
Auch
wenn es Europas aktueller Finanz-Elite im Sommer 2010 den Atem
verschlagen mag: Ouzo, dieses kulinarisch eher zweitklassige Produkt
steht für den Triumph der Leichtigkeit über Fleiß und Fließband,
es ist der Sieg des wahren Menschen über das calvinistische Joch und
die milchgetrübte Melodie des ewigen Sonntags. Ouzo, das ist der
Drink des freien arkadischen Manns, des Schäfers, des Kapitäns, der
Herr ist im eigenen Hause und keinen Gott kennt, neben, geschweige
denn über sich.
Mir
fällt gerade eine andere Situation ein. Ich machte mittags im Süden
des Peloponnes Halt in einer ruhigen Fischtaverne direkt am Meer, wo
frisch gefangene Tintenfische wie Wäschestücke an einer Leine
hingen. Ein paar Tische weiter fiel mir ein Pärchen auf, beide so um
die 35 Jahre alt, lässig, heiter, im Reinen mit sich und was die
Gesprächsfetzen hergaben hatten sie etwas mit Werbung zu tun. Sie
gingen ausgesucht nett und höflich mit dem albanischen Personal um
und es machte einfach Freude ihnen zuzuschauen -umgeben von den sich
auftürmenden Hinterlassenschaften: Weingläser, Teller mit
gegrilltem Oktopus und Bärenkrebsschalen, Salatreste in goldgrünem
Öl, Pita, Tzatziki, rote Fischrogenpaste und ein paar dieser
handlichen 0.1 Liter-Ouzoflaschen. Wir kamen ins Gespräch, klar es
ging auch um Europa, den Staatsbankrott und die vielen offenen
Fragen. Sie meinte nach einer längeren Pause: „Wir haben uns heute
Morgen gegen elf Uhr dazu entschlossen, unser Büro zuzulassen, aus
diesem grausamen Athen zu fliehen und in den Süden zu fahren, was
gute fünf Stunden lang dauert. Und jetzt müssen wir gleich wieder
zurück. Aber schauen Sie, das hier ist Leben, Freude, Menschsein,
Glück.“ Der Kellner brachte uns ungefragt noch ein Fläschchen
Barbayannis vom Haus mit etwas Meze-Beilagen und dann blickten wir
vorwiegend schweigend, wie alte Vertraute auf das große griechische
Meer hinaus und teilten unser schönes Los. Also: ich habe es bei
uns in Deutschland selten erlebt, dass Menschen spontan von Berlin
nach Starnberg und zurück brettern, um dort am Ufer zu sitzen, ein
paar Schnäpse zu kippen und mit einem Zahnstocher auf Käse,
Räucherrenken und Wursthappen einstechen. Ein Wort noch dazu: der
Ouzo, den wir von unseren griechischen Wirten hierzulande manchmal
zum Rechnungsabschluß ausgegeben bekommen, erscheint einem ja als
ganz hohler Bruder. Abgesehen davon, dass es oft nur der schludrige
Fusel aus dem Sortiment der großen hellenischen Spirituosen-Tycoons
ist, fehlt ihm zu seiner wohligen Wärme der Thymianduft, das
Meeresrauschen, das Zikaden-geschrammel. Ein echter Ouzo entfaltet
seinen wahren Charakter nur im Schutz einer bestimmten Zone. Das ist
aber eine Sache von Magie und Magie sollte man nicht mit Worten
daherkommen.
Der
Flug von Athen nach Lesbos dauert etwa 45 Minuten. Die beiden
größeren Städte Mitilini mit 35 000 und Plomari mit 7000
Einwohnern streiten sich seit Jahrzehnten darum, wer sich nun als
Weltmetropole des Ouzo bezeichnen darf. Auf der Insel, so lese ich,
gibt es aktuell etwa 40 Destillerien, die von der EU abgesegnet den
„Mitilini-Ouzo“ herstellen dürfen. Darunter befinden sich
weltweit bekannte Destillerien wie Barbayannis, dann die unter dem
großen Dach von Weltkonzernen integrierten Häuser wie Epom, ein
paar unabhängige Familienbetriebe wie Giannatsis, aufständische
Garagen-Brenner sowie einige Moonshine-Panscher, die ihren
schwarzgebrannten Fusel mithilfe gefälschter Labels und Etiketten
unters Volk bringen. Natürlich werben sie alle mit hübschen
Wandmalereien, altem Handwerksadel und traditioneller
Herstellungsmethode und so sieht man vor seinem inneren Auge junge
fröhliche Mädchen in folkloristischen Trachten durch blühende
Anisfelder rauschen und alte Erntedanklieder singen, während in
einem dusteren Verhau ihre verwegenen Männer frisches Destillat aus
den alchemistischen, kupferglänzenden Brennkolben abfüllen.
Auf
meiner Suche nach dem Mythos des Ouzo besichtigte ich hier also im
Lauf der Woche einige dieser Insel-Destillerien. In der Regel treffe
ich dort auf smarte Manager, die im besten Business-Englisch über
ihre Produkte und, da sie ja Griechen sind, über deren Philosophie
referieren. Entgegen meiner naiven Erwartungen erweisen sich die
Firmen als in der Tat schmucklose Hallen mit Stechuhren,
Empfangsbüros, Neonlicht, Druckknöpfen, Leitungen, Elektrik,
seltsamen Metallkästen, Rohren, Laufbändern, Stahltanks,
Abfüllanlagen, vollautomatischen Reinigungs-komplexen, Dampfkesseln,
Chemielaboren, Lagerkellern und Fuhrparks.
Der
Vorzeige-Ouzo der Epom-Gesellschaft, Teil des Pernod-Ricard-Imperiums
am Stadtrand von Mitilini ist der „Mini“, dessen ungewöhnliches
Etikett eine verhalten-kokette, kurzberockte Tänzerin zeigt. Seit
1967 gehört man zur Union der Mitilini-Produzenten, in der die
meisten Inseldestillateure organisiert sind. Lediglich zwei der 30
Beschäftigten des Hauses kennen die genaue Rezeptur ihres Stoffs,
der seit 1924 unverändert gebrannt wird. Die Herstellungsmethode der
hochwertigen Lesbos-Schnäpse unterscheidet sich kaum voneinander.
Das staatlich abgesegnete Äthanol in einer Stärke von 96 % wird
zusammen mit frischem Inselquellwasser in einen kupfernen Brenntopf
mit 1000 Liter Fassungsvermögen geleitet. Langsames,
kontinuierliches Erhitzen produziert Dampf und nach diversen
Spiralrunden vermischt sich dieser dann mit einem Brei aus den
allgemein bekannten Zutaten: allem voran der Anissamen, dann Fenchel,
Zwiebeln, Meersalz und Mastixharz. „Und weiter?“ frage ich
„Mini“-Manager Alexandros Kouzinoglou. Der spitzt nur die Lippen
und listet dann rasch Orangenblüten, Minze, Koriander, Wacholder,
Melisse, Süßholz, Angelika, Kreuzkümmel und Walnussblätter auf.
Zum wahren Betriebsgeheimnis würden jetzt noch etwa 30 Ingredienzien
fehlen. Basta, Schnitt. Die Firmenchefs auf Lesbos machen bei all
ihrer Friedfertigkeit durchgehend den Eindruck, dass sie den Verräter
ihres Firmenmix umgehend zu einem Jubiläumsbrand verarbeiten würden.
Weiter im Text: nach ein paar Stunden wird der Dampf durch das
zugeleitete kalte Wasser säkularisiert und heraus kommt bei diesem
ersten Destillierungsschritt ein Brandy mit 80 % Alkoholgehalt.
Dessen erster Teil, der Kopf, fast purer Alkohol, wird abgetrennt,
ebenso der dritte, der Schwanz, ein stark wasserhaltiger Anteil.
Lediglich das Mittelstück, das Herz wird abgefangen, etwa 45 Tage
lang in einem Stahltank aufbewahrt und danach wieder in Berührung
mit den Kräutern gebracht und parallel in insgesamt drei
Destillierschritten auf einen Alkoholanteil von zunächst 60% und
später 43% oder verträglichere 40 % reduziert. Alexandros deutet
auf das Kupfermonstrum vor uns und bittet mich mit staatsmännischer
Kühle sofort wegen Explosionsgefahr mein Handy abzuschalten. „Sie
wissen ja, wir produzieren keinen Orangensaft hier.“ Das ist nun
auch schon der Höhepunkt des Rundgangs, denn für einen
Außenstehenden ist das Betrachten von Destillation in etwa so
spannend wie einem Schriftsteller beim Schreiben zuzuschauen. Auch
das sonstige Geschehen in einer solchen Firma, also Reinigen,
Abfüllen oder Etikettieren erweist sich nur als bedingt spektakulär.
Und als ich mir anderntags die 10 ha Anisfelder von Epom nahe Lisvori
anschaue, überkommt mich dort auch etwas Ratlosigkeit - denn im März
war dort noch nicht einmal gesäät und so haftet mein sinnferner
Blick lediglich an nassbraunen Ackerflächen.
Griechen
wäre aber nun keine richtigen Griechen, wenn sie nicht das eigene
Tun als olympische Krönung darstellten. Dies bedingt naturgemäß,
dass man an den Konkurrenten leise Zweifel äußert. Da die EU einen
Ouzo auch dann als griechischen Ouzo gelten lässt, wenn er lediglich
zu 20 % aus destilliertem Brand besteht, lässt sich dem Nachbarn
leicht vorhalten, dass er es nicht so genau nimmt mit den
zeitintensiven und sorgfältigen Destillations-schritten und auch –
so anderweitige Gerüchte - ein wenig nachhilft mit der Verwendung
von Zucker oder dem Zukauf von 6 mal billigeren, asiatischen
Sternanis-Aromen. Allemal: zum Abschluss habe ich meine Gastgeber
stets gefragt, ob sie denn, wenn sie irgendwo unterwegs wären in der
Welt und sich dort einen Ouzo bestellten ihren eigenen zweifelsfrei
herausschmecken würden. Ohne eine Sekunde zu zögern, bejahen sie
das. Man müsse nämlich nur den Ouzo auf pures Eis gießen und
einige Sekunden warten, bis sich bedingt durch die plötzliche Kälte
die ätherischen Öle entfalten und die jeweilige Kräuterkomposition
sich erschließe. Nebenbei: genau so trinkt der wahre Connaisseur
seinen Ouzo; pur, auf Eis, begleitet von einem Extraglas eiskalten
Wassers.
Ein
alter Freund von mir, der seit langen Jahren eine Ouzeria in Kalamata
betreibt, serviert dort die diversen Marken völlig beliebig in
Gläsern, auf denen nun mal zufällig der Name irgendeiner Firma
steht, ob 11, 12, 13, 14, Sans Rival, Metaxa oder Mini. Bis heute hat
noch keiner seiner Gäste mit empörtem Stiftung-Warentest-Getue ein
Glas zurückgehen lassen.
Klar,
es fehlt die ganz große Literatur in Sachen Anisschnaps, das
enzyklopädische Vermächtnis und im TV sucht man vergebens die
erbitterten Feinschmecker-Diskussionen gespickt von den blumigen
Adjektivkaskaden homerischer Weinpoeten. Dem Mythos Ouzo kann man –
selbst in seiner Heimat - von der kulinarischen Seite her kaum
gerecht werden. Das nötigt seine Produzenten dazu Touch und Esprit
der jeweiligen Marken über Äußerlichkeiten zu definieren. Das
betrifft abenteuerlichste Flaschenformen, eine verführerische
Etikettengestaltung oder eine möglichst attraktive Namensgebung; was
zu Verheißungen wie Zorbas, Zeus, Venus, Mistral, Nektar, Symposio
oder Minotaurus führt. Und fast immer sind es dieselben visuellen
Standards, die den Kunden zur Flasche greifen lassen sollen: das
Meer, die Möwe, ein fröhlicher Oktopus, ein küstennaher Tempel,
ein einsames Segelboot, ein mythologisches Wesen und natürlich die
untergehende Sonne.
Ich
verlasse Mitilini-Stadt mit dem neoklassizistischen Altstadtkern,
seinem genuesischen Kastell und den zuvorkommenden Menschen und fahre
quer durch endlose Olivenhaine, menschenleere Golfküsten, über
sattgrüne Berge mit Schafherden, Mohnfeldern und Pinienwäldern
hinüber zum Fischerstädtchen Plomari mit seinen vier Destillerien.
Ich habe mich dort bei Stathis Barbayannis angemeldet, einem der
drei Geschwister, die das vielprämierte Haus in der 6. Generation
führen. Barbayannis, das ist wie die Callas für die Oper oder
Bulgari für die Schmuckkunst. Ich bummele noch ein paar Minuten
durch die Altstadt mit ihren engen Gässchen, antiquierten Geschäften
und osmanischen Holzbalustraden. Vor jedem der unzähligen
Wirtshäuser sitzen Männer unter dem Weinlaub auf diesen wackligen
Baststühlen, lesen Zeitung, rauchen, reden, zeigen die Sorgenfalten
komplizierter Geschäfte oder klopfen Karten auf den blauen
Blechtisch. Und jeder von ihnen hat sein milchigtrübes Gläschen vor
sich stehen. Immerhin ist es ja auch schon 9.30 Uhr in der Früh.
Das
unscheinbar-kubische Hauptgebäude am Agios Isidoros-Strand ist von
den rotschwarzen Ziegelsteinruinen ehemaliger Seifenfirmen, Ölmühlen
und Gerbereien umgeben. Auch ragen noch einige brüchige Molen und
Stege ins Meer. Viel attraktiver kann man kein Ambiente für das
romantische Handwerk des Ouzobrennens inszenieren. Stathis erzählt
mir dann von der Firmengeschichte, von Odessa über Konstantinopol
nach Plomari, der permanenten Achterbahnfahrt mit Kriegen,
Rezessionen, Krisen, wieder Kriegen und die Scharmützel mit dem
türkischen Nachbarn. Zwischen 1970 und 1980 hatte die Branche wohl
ihre goldene Dekade. Trotz Junta setzte damals der Tourismus ein und
Europas Jugend begann seinen Flirt mit dem sorbasischen Griechenland.
Zu diesem Zeitpunkt schickte man bei Barbayannis fast 500 000
Flaschen jährlich auf den Weg. Dann – und da verfinstert sich
seine Miene – trat Griechenland wohl 1981 der EU bei und wurde in
der Folge überschwemmt von ausländischen Spirituosen – so dass
die Griechen bis heute einen höheren Whisky-Pro-Kopf-Verbrauch haben
als Schotten und Iren. Im Zuge der Überfremdung gerieten nach und
nach auch die geschlamperten Ouzeriabuden mit ihren verwaschenen
Marmorbecken aus der Mode und machten Illy-Espresso-Lounges und
pseudocoolen Cocktailbars Platz. Ouzo, das Symbol des freien Hellas
war so um 1990 reputationsmäßig zu einem Gesöff für halbblinde
Dynamitfischer verkommen oder einem Billigabfüllprogramm für
britische Chartertouristen. Es gab, so Stathis in jenen Jahren
verlockende Angebote jener großen Likörgiganten, die sich den
stolzen Zwerg aus Plomari ins Portfolio holen wollten. Doch man
entschied sich für ökonomische Unvernunft als Zukunftsbasis und
beließ alles beim alten. Jetzt holt er homerisch aus: „Was wir
hier machen, kann kein Außenstehender nachvollziehen. Wenn man diese
Arbeit nicht mit dem ganzen Herzen, Liebe und Seele angeht, muss man
sie sofort beenden. Wir haben alle studiert, wir könnten hinaus in
die Welt gehen und komplett andere Karrieren angehen – aber das
hier ist unsere Mission, wir haben den Anis seit 150 Jahren im Blut,
wir können nicht leben ohne das Pluppern der Brennöfen zu hören
und das Klimpergeräusch der Flaschen. Einige Male haben wir schon
den ganzen Gewinn aus unserem Olivenölgeschäft in den defizitären
Ouzo-Zweig gesteckt. Wissen Sie: Vereinfachung mag in der Mathematik
funktionieren, aber nicht bei einem Barbayannis-Ouzo. Man kann weder
am Anis sparen noch an den anderen Zutaten, nicht am Quellwasser,
nicht am Salz aus unseren Salinen und vor allem nicht an dem
traditierten Wissen und der Passion. Keiner von uns würde es wagen
nur das kleinste Detail am Geheimrezept der Väter zu ändern. Alle
sind wir durch harte Zeiten gegangen und am Ende haben wir stets
triumphiert. Seit einigen Jahren zieht das Geschäft wieder stark an,
in Griechenland, in Europa, Canada, USA, Australien. Ich weiß, dass
all diese Erfahrungen und Gefühle, das Leid, die Freude, Mut und
Hingabe in jener Essenz wohnen, die wir hier Tag für Tag herstellen.
Und ich rede nicht von einem sturen Konservatismus. Indem wir das
Risiko, die Ethik und die Konsequenz der vergangenen Generationen
fortsetzen, definieren wir uns als Avantgarde.“ Am Ende unserer
Runde komme ich wieder einmal vor so einem handgehämmerten kupfernen
Brenntopf zu stehen und blicke durch dessen Bullauge auf die
kochende, schwappende bräunliche Brühe im Innern – ganz so wie
man aus der Kajüte eines trunkenen Schiffs heraus die tobende,
stürmische, grauenvolle See bestaunt.
Am
Ende meiner einwöchigen „Tour d’ Anis“ standen in meinem
Hotelzimmer etwa 40 Literflaschen. An der Rezeption wurde ich ohnehin
ab dem ersten Tag eher misstrauisch gemustert, da ich bedingt durch
die zahllosen Kostproben während meiner langen Arbeitstage dort
allabendlich beim Schlüsselabholen eben diese
unvermeidlich-hartnäckige Kräuterfahne mit mir trug und so wenig
zum seriösen Ruf des deutschen Geschäftsmanns beitrug. Als die
griechische Fluggesellschaft für meine Extra-Kartons ein
Übergepäck-Budget von knapp 380 Euro festlegte, entschied ich mich
für die nostalgische Nachtfähre Richtung Piräus. Lange Zeit stand
ich dort an Deck, sah zu wie sich die Umrisse der Westküste nach und
nach im milchigen Grau verloren und später die Sterne am Agäishimmel
immer heller strahlten. Ich dachte an Skotinos, Nick und den Affen,
an die kontemplativen Fahrten über diese Insel, an all die kuriosen
Gespräche, das mühsame Fachgesimpel und an die unzerstörbare
griechische Kunst der Hybris. Und ich dachte an Westerwelle, Merkel
und Schäuble, wie sie tief im griechischen Sommersüden unter dem
verstörenden Vollmond bei einer Flasche Barbayannis-Blue und ein
paar frisch gegrillten Oktopussen ihre tiefsitzende Abneigung
gegenüber jenem wahnhaft-verschwenderischen Umgang mit dem Leben
über Bord werfen. Für einen Moment halt, immerhin. Weil am andern
Morgen läuft es dann ohnehin wieder alles rückwärts...
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