Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Im
Glauben gescheitert
Öffentliche
Reue und ein Rücktritt: Die historische Krise der katholischen
Kirche
Gustav Seibt, SZ,
23.04.2010
Nichts beleuchtet
den Einschnitt, den die Skandale um den Missbrauch Schutzbefohlener
für die katholische Kirche bedeuten, so scharf wie das Bild von
Priestern, die sich in der Öffentlichkeit für diese Taten
entschuldigen und bei den Opfern um Verzeihung bitten; oder wie ein
Bischof, der wegen öffentlich sichtbar gewordener Unwahrhaftigkeit
seinen Rücktritt anbieten muss.
Denn die Kirche
hatte für Verfehlungen ihrer Amtsträger seit jeher
selbstverständlich ihre internen Foren, zunächst Beichte und Bußen,
aber auch die innerkirchliche Gerichtsbarkeit der verschiedenen
Inquisitionen. Und das ist nicht nur eine rechtliche Frage im
Verhältnis von Kirche, bürgerlicher Gesellschaft und Staat; die
innere Verschlossenheit der kirchlichen Strafmechanismen war
natürlich aufs Engste mit dem Selbstverständnis der Kirche und
ihrem Begriff von Sünde verbunden. Beides hatte auf dem Marktplatz
der bürgerlichen Öffentlichkeit nichts zu suchen.
Die Kirche rechnete
nämlich zu allen Zeiten mit der Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit
ihrer Träger. Größe und göttliche Substanz der apostolischen
Kirche sollte ja gerade darin bestehen, dass ihr der menschliche
Makel der irdischen Vertreter nichts anhaben konnte: Das
priesterliche Charisma war nach strengen Regularien nicht zuletzt
durch interne Bußmechanismen gesichert und außerhalb des
kirchlichen Raums keinesfalls auch nur diskutierbar. Die katholische
Kirche ist etwas Überindividuelles, darin nicht unähnlich den
Kommunistischen Parteien. Nur findet der Mechanismus der Selbstkritik
und Selbstreinigung, den der Kommunismus in der gelenkten
Öffentlichkeit von Parteigremien vollziehen ließ, in der Kirche
traditionell unter völligem Ausschluss von Öffentlichkeit statt. So
ging der katholische Priester seit Urzeiten noch vollständiger in
seiner Organisation auf als der kommunistische Parteifunktionär in
der seinen.
Wenn nun ein
Pfarrer, ein Abt oder ein Bischof auf Pressekonferenzen, durch Briefe
oder im Internet persönliche Verantwortung übernehmen, Bedauern
ausdrücken und Reue bekunden oder gar, wie jetzt Walter Mixa, auf
ihr Amt verzichten wollen, treten sie aus dem überindividuellen
Schatten der Institution heraus. Sie machen sich als Einzelwesen
kenntlich, und zwar nicht nur als Sünder vor Gott, sondern als Täter
vor einem säkularen Publikum. Es geht auf einmal um die
"Glaubwürdigkeit" der Kirche vor der Welt. Das aber ist
schon tödlich: Es ist ein in der bisherigen Kirchengeschichte
vollkommen unüblicher, nach klassischem Verständnis ungeheuerlicher
Vorgang, dessen umstürzende Qualität erst allmählich begriffen
wird. Er ähnelt gewissen bizarren Vorgängen beim Untergang der
kommunistischen Regime vor zwanzig Jahren, als ein Machthaber wie
Erich Mielke auf einmal vor live mitfilmenden Kameras stammelnd
versicherte: "Ich liebe euch doch alle." Auch hier
verschwand der Funktionär hinter dem nun allerdings sichtlich
desorientierten Individuum.
Was hat sich für
die Kirche durch die Missbrauchsfälle verändert, dass einzelne
ihrer Amtsträger zu so revolutionären Schritten genötigt sind?
Traditionell konnte sie alle Sünden vor allem als Verfehlungen wider
Gott behandeln; eine Rechenschaftspflicht gegenüber der säkularen
Öffentlichkeit bestand dagegen nicht. Und der für solche
gotteswidrige Sündhaftigkeit zuständige Urteils- und
Strafmechanismus konnte daher in keinem irdischen Gesetzbuch oder
diesseitigem Moralkodex beschlossen sein. Sünden sind Vergehen,
deren Behandlung mit irdischer Gerechtigkeit nichts zu tun haben
brauchte, auch nichts mit den Interessen von Geschädigten oder
Opfern, denn hier ist Gott selbst der Verletzte; nur Gott kann
Genugtuung verlangen und Verzeihung gewähren.
Und das vollzieht
sich im Rahmen jener sakral-kirchlichen Riten und Verfahren, bei
denen es auf die persönliche Qualität der Personen, die sie
vollziehen, auf keiner Ebene ankommt, solange die Qualität des
religiösen Charismas rituell, also formal gesichert ist. Ein
potentiell sündhafter Priester kann im Beichtstuhl einen anderen
sündhaften Mitpriester im Namen Gottes absolvieren, wenn beide die
gesetzlichen Vorgaben in allen Punkten einhalten. Denn es geht ja um
Gott, nicht um die Menschen.
Nach diesen
Kriterien wurden selbstverständlich auch sexuelle Verfehlungen
behandelt. Bei ihnen handelte es sich aus katholischer Sicht um ein
Problem der Täter, die sich versündigt hatten, nicht um eine Sorge
der Opfer. Das unschuldige Opfer ist vor Gott ohnehin gerechtfertigt,
also hatte die Kirche sich vor allem um die Täter zu kümmern, um
ihr Seelenheil und ihre Errettung vor ewiger Verdammnis. Was heute
nur noch wie Täterschutz oder wie Selbstschutz der Institution
Kirche anmutet, ist eigentlich das traditionelle Kerngeschäft der
Kirche, die Sicherung des Seelenheils möglichst aller Menschen, vor
allem der Sünder und Verbrecher.
Dieses theologisch,
ja logisch schlüssige Konzept gerät allerdings im Fall des
Kindesmissbrauchs durch die Erkenntnisse der modernen Psychologie und
Psychiatrie ins Wanken. Denn die Sünden der Täter verletzen ja
nicht nur Gott, sie schädigen ihre Opfer nicht nur punktuell, sie
stellen also nicht einfach eine isolierte Ungerechtigkeit dar,
sondern sie haben oft genug die Kraft, die Seele von ganz jungen
Menschen irreversibel zu schädigen. Das macht ihre irdische
Unverzeihlichkeit aus. Sie berühren die selbstgesetzte Kernaufgabe
der Kirche, die Seelsorge, in einer so dramatischen Weise, dass der
Rückzug auf die Gotteswidrigkeit dieser Art von "Unkeuschheit"
als nicht mehr ausreichend erscheint.
Martin Mosebach hat
soeben in einem Artikel in der Welt zum fünften Jahrestag der
Papstwahl Benedikts XVI. darauf hingewiesen, dass es das Neue
Testament selbst gewesen ist, "das den Schutz der Kinder vor
geschlechtlichem Missbrauch in einer Welt verkündigte, die Bedenken
gegen erotische Beziehungen mit Kindern nicht kannte; der Schutz der
Kinder ist genuin christliche Botschaft - ein Priester, der sich
dagegen vergeht, hat deshalb keineswegs nur sein Gelübde gebrochen,
sondern ist auch in seinem Glauben gescheitert". Selbst diese im
katholischen Rahmen unüberbietbar harte Diagnose könnte aber immer
noch als innerkirchliche Sorge angesehen werden; denn dem für sein
Leben geschädigten Opfer mag das Glaubensscheitern seines Peinigers
am Ende doch eine nachgeordnete Sorge bleiben. In einzelnen schweren
Fällen kann der Missbrauch die Qualität von Mord annehmen, bei
Weiterleben der Opfer.
Es handelt sich also
um einen nicht ausgleichbaren Zwiespalt zwischen dem Innen und Außen
der Kirche, und zwar nicht nur auf rechtlicher, sondern auch auf
moralischer Ebene. Und diesem Zwiespalt kann die Kirche, die sich als
ein Spieler unter mehreren im Raum der säkularen Gesellschaft
bewegt, heute nicht mehr ausweichen. Die damit bezeichnete
Vertrauenskrise trifft sie im Kern ihres Selbstverständnisses als
Institution. Wie angeschlagen es ist, zeigt eben der Umstand, dass
die allermeisten unfreiwilligen Rücktritte aus hohen kirchlichen
Ämtern, in den Vereinigten Staaten, in Irland und jetzt in
Deutschland, mit den Missbrauchsskandalen zusammenhängen.
Der im Glauben
gescheiterte Priester steht auf einmal in aller Öffentlichkeit nackt
da, er stammelt eine persönliche Entschuldigung und zieht
Konsequenzen wie ein auf Zeit und Abruf gewählter Politiker. Das
Christentum hat vielleicht die Kraft, das auszuhalten, doch wie steht
es mit der Kirche? Dass sie in einer ihrer größten Krisen steht,
ist nicht nur die Wahrnehmung einer steril aufgeregten
Öffentlichkeit. Der Vorgang bedeutet nicht nur, wie Alois Glück,
der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken,
feststellte, eine "riesige Vertrauenskrise, wie sie seit
Jahrhunderten nicht da war", sondern vor allem auch eine
beispiellose Demütigung. Denn wie anders wäre der Satz des
evangelischen Kirchentagspräsidenten Eckhard Nagel zu verstehen, die
Würde des Menschen mache nicht Halt vor Kirchentüren? Die
Menschenwürde, das war einmal eine christliche Erfindung.
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