Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
"WAAACKÖÖÖÖN!"
Es
entstand in einer Bierlaune, jetzt ist es das größte
Heavy-Metal-Festival der Welt. 75.000 Headbanger fahren jedes Jahr
nach Wacken, um von Hass, Blut und Zerstörung zu grölen. Und um
sich lieb zu haben
Von Judith Luig,
Welt am Sonntag, 08.08.2010
Der Mann liegt auf
dem Boden. Er sieht so aus, als habe er es hinter sich. In seinem
langen Haar ist Gras und Dreck und ein pinkes Band mit
Leopardenflecken. Auf seinem Shirt steht: "I am a sick
Motherfucker", und ehrlich gesagt, sieht er auch genau so aus.
Dass um ihn herum dicht gedrängt zigtausend Menschen komplett in
Schwarz stehen, die Hände in die Luft recken und "Wacköööööön"
schreien, kriegt er nicht mit. Dass vorne auf der Bühne ein komplett
irre geschminkter Alice Cooper "I am a wicked man" kreischt
und eine als Krankenschwester verkleidete Kollegin befummelt, könnte
ihn nicht weniger interessieren. Auch die Jungs neben ihm, die sich
gerade in einen Kreis gestellt haben, um sich Deckung beim Pinkeln zu
geben - was darauf hinausläuft, dass sie sich jetzt gegenseitig auf
die Schuhe urinieren - stören ihn nicht. "Wer sich an Wacken
erinnern kann, der ist nicht da gewesen", so lautet das
inoffizielle Motto. Der Mann, der da in den Überresten eines
Maisfelds liegt, hat es also geschafft: Er ist komplett weg. Und
dadurch angekommen. In Wacken.
Uwe, der mit einem
verbeulten Stahlhelm ausgerüstet ein paar Meter weiter die Stellung
hält, formuliert das so: "Wie jeder Muslim nach Mekka pilgern
muss, so muss jeder Metal-Fan einmal in seinem Leben in Wacken
gewesen sein."
Wacken ist das
gelobte Land der Szene. "The Holy Wacken Land", so steht es
auf den Landkarten, die den 75 000 Einwohnern bei der Orientierung
zwischen Wikingerdorf, Bierbuden und Bühnen helfen sollen. Gemessen
wird das Ausmaß dieses Kosmos in Fußballfeldern: 270 sind es, um
genau zu sein. Doch wie bei jeder Verheißung, so ist auch hier der
Zugang limitiert. Schon im April waren die Karten für das 21. Wacken
Open Air ausverkauft. Zum fünften Mal in Folge. Was ein paar
Tiefgläubige nicht davon abhält vor den Himmelstoren um Restkarten
zu betteln.
Die Pilgerfahrt
beginnt schon auf der Autobahn. Egal, ob man aus Berlin, München
oder Stockholm losfährt: Sofort findet man sich umzingelt von Autos,
die mit weißem Klebeband die Buchstaben W:O:A in Runenschrift auf
ihre Rückscheibe geklebt haben. Wacken Open Air. Ab und zu streckt
ein Beifahrer die Teufelshörner-Hand aus dem Auto und schreit:
"WAAACKÖÖÖÖN" aus dem Fenster. Kurz vor dem berühmten
Dorf, als die Autos schon dichter aufeinander fahren, werden die
Schreie auch variiert. "F**ÖÖÖN" brüllt es jetzt aus
einem anderen Wagen. Dazu wieder die drohende Geste, im Fachjargon
"Standard Satan Finger". Im Dorf selbst beteiligt sich dann
auch das schwarz gekleidete Fußvolk, das das ländliche Idyll seit
Mittwoch besetzt hat, an dem Geschrei. "SYPHILIS,
HÄMORRHOIIIDÖÖÖN" brüllt einer begeistert vom Bürgersteig
zurück, der gerade drei Kilo Fleischwurst zurück zum Zeltlager
schleppt. Es bleibt unklar, ob es sich um eine Drohung oder ein
Angebot handelt.
Das größte
Open-Air-Festival der Welt in der Nähe von Itzehoe könnte das
letzte Biotop des Höhlenmannes sein. Brüllen, saufen, rülpsen, den
Bauchspeck präsentieren, in Unterhose durch die Prärie laufen, bei
jeder Gelegenheit den blanken Hintern zeigen, das gehört dazu. Sich
gehen lassen, einen fahren lassen, sich fallen lassen, das ist
Wacken. Das Festivalgelände ist am Morgen voller Männer, die
zwischen den unzähligen Fress- und Bierbuden hin und her torkeln.
Sie halten Schilder hoch, auf denen eindeutige Aufforderungen zur
Entblößung von Körperteilen und nicht jugendfreien Handlungen
vermerkt sind. Generell ist die Idee der Verschriftlichung nicht
schlecht, die meisten sehen so aus, als ob sie die Wünsche nicht
mehr selbst artikulieren könnten, trotzdem irritieren die
Aufforderungen, gehen sie doch ins Leere. So früh sind eigentlich
nur Typen unterwegs. Nach Frauen sucht man vergeblich. Nicht, dass
einen das verwundern würde bei dem Verhalten.
Heavy Metal, so
scheint es, ist die einzige Kultrichtung, die sich dem demografischen
Wandel anpasst. Je fertiger, je faltiger, je fetter - desto heavier.
Wacken, das dürfte
eigentlich das perfekte Ausflugsziel für alle Männer sein, die sich
vom Feminismus entmannt fühlen. Die Angst haben, den kleinen Jungs
würden nicht mehr Stärke und Härte beigebracht. In Wacken kann ein
Kerl sagen "Ich geh' pissen" und niemand nimmt daran
Anstoß. Eigentlich müssten ganze Uniseminare bedrohter Männlichkeit
und Kitagruppenkinder ohne männliche Vorbilder in den Norden
pilgern, um sich in Ritualen des Ganzer-Kerl-Seins zu üben.
Allerdings stellt sich das ganze Harte-Jungs-Gehabe, wenn man näher
kommt, als Pose heraus. Eigentlich haben hier alle einen
Bausparvertrag.
Vielleicht wären
solche Exkursionen trotzdem eine gute Idee, denn von Wacken kann man
tatsächlich etwas lernen. Allerdings nicht das Gemeinschaftspinkeln,
sondern wie 75 000 Menschen aus der ganzen Welt mit einem
fragwürdigen Musikgeschmack vier Tage lang fröhlich zusammen
feiern.
Man darf sich nicht
irritieren lassen, von all den "Hölle", "Hass"
und "Horror"-Schreien. Auch, dass die Bandnamen in der
Regel das Ende des Lebens oder das Ende der Welt verkünden - Ghost
Brigade, Hathors, Die Apokalyptischen Reiter, Grave Digger, Suicidal
Angels, Dead Means Nothing - kann die glückliche Grundstimmung nicht
stören. Im Prinzip ist Wacken ein großes Fest der Liebe. "Wacken
ist Frieden", sagt Tobias. Er ist um die 20, trägt
Metaller-Kluft und schwärmt von dem erfreulichen Umgang in der
Metal-Szene, sodass man fast das Gefühl bekommen könnte, es handele
sich um eine Hippie-Bewegung. "Hey, du kommst hier auf den
Zeltplatz und jeder Nachbar bietet dir sofort ein Bier an." -
Egal wie alt du bist, egal wie du aussiehst, du gehörst einfach
dazu. "Klar", pflichtet ihm sein Freund bei, "die
Gemeinschaft ist einfach toll, so sozial und herzlich." Die
beiden sind schon zum vierten Mal in Wacken. "Metal", so
erklärt Tobias, "das ist einfach eine Lebenseinstellung."
Aber ist die Musik nicht irre aggressiv? Härter! Schneller! Lauter!
"Ach was, nein, gar nicht, da muss man sich einhören."
Direkt am Eingang
vom Zeltplatz hat eine Gruppe aus Schenefeld ihr Eigenheim aufgebaut.
Schön ordentlich abgetrennt vom Rest des Platzes mit einem Zaun, der
mittlerweile vom Müll der ersten Nacht zugeschüttet ist. Sie haben
sogar ein eigenes Tor installiert mit einem Schild darüber.
"Frei.Wild" steht drauf. Ihre Lieblingsband. Es ist erst
der zweite Tag des Festivals, aber schon schmückt eine beachtliche
Mischung ausgetrunkener Jägermeister-, Wodka- und Ginflaschen das
Dach des Bauwagens. Auch diese Jungs sind vor allem wegen der
Atmosphäre da, schon zum siebten Mal. "Es ist so friedlich
hier", sagt Sven. "Metal-Fans haben einfach eine total
andere Mentalität." Sie waren auch mal bei Rock am Ring, aber
das sei nix.
In diesem Moment
zieht die perfekte Kreuzung aus Alice Cooper, Broke Back Mountain und
Naomi Campbell hüftschwenkend an dem Idyll vorbei und grüßt mit
zur Mistgabel geformten Händen zur Sofa-Landschaft. Es ist Abel, so
um die 40, der schon zum 14. Mal hierher kommt. Zum Beweis reckt er
seinen rechten Arm vor: Er ist voll mit den verschieden farbigen
Stoffbändern mit dem Kuhkopf-Skelett, die den Eintritt ins
Metal-Paradies garantieren. Neben ihm läuft Pedro, ein Katalane, der
erklärt, es gäbe zwar auch viele Metal-Konzerte in Spanien, aber da
kämen eben auch nur spanische Festivalbesucher. "Langweilig."
Zum Beweis, wie schön das hier alles ist, fackelt die spanische Band
"Vita Imana" gerade eine der Bühnen ab. Eine Menge der
Zuhörer, die sich vor ihren Idolen im Staub wälzen, trägt Flagge,
so als seien sie bei einem Fußballspiel. "Warum die Flagge?"
- "Bitte?"- "Warum trägst du eine Flagge? Hat Metal
was mit Patriotismus zu tun?" - "Was? Nein, das ist doch
die Flagge der Balearen." Ach so.
Vor dem bayerischen
Biergarten wird es auf einmal pink. Alexander Baltz und Carsten Köthe
von Radio Schleswig-Holstein tragen rosa Polo-Shirts und stehen vor
einer pinken Prosecco Bar, die sie hier noch einigermaßen
provisorisch aufgebaut haben. Ein paar Anti-Christen haben sich vor
ihnen aufgebaut und beobachten sie skeptisch, andere stoßen bereits
etwas mutiger mit den Plastik-Gläschen an. "Frische Farben für
Wacken" - so erklärt Baltz die Aktion. "Das mag jetzt noch
ein bisschen ungewöhnlich sein, aber alle großen Wege haben mit
einem kleinen Schritt angefangen." Sie selbst sind auf jeden
Fall von ihrer Mission überzeugt. "In ein paar Jahren tragen
hier alle Pink. Du wirst schon sehen."
Ein zweifelhafter
Ansatz, Heavy Metal lebt eigentlich genau davon, dass sich im Prinzip
nichts Fundamentales ändert. Treue ist einer der Grundwerte, die
hier immer wieder beschworen werden. Das Buch "The History of
Heavy Metal" vertritt die These, der Name beziehe sich auf die
Intensität der Stimmung, und ihre Tiefe. Schreitet man selbst beim
härtesten Geballere von Iron Maiden mitten durch das Feld der Fans,
kann man das spüren. Eine tiefe Zufriedenheit. Ein paar Männer
liegen sich in den Armen. Keiner regt sich übers Drängeln auf,
keiner motzt, im Gegenteil, all die sonnen- und biergeröteten
Gesichter strahlen vor sich hin, während ihre Körper von dem
Gewummere synchron vibrieren. Jetzt, später am Tag, sind auch viel
mehr weibliche Heavy Fans unterwegs. In Schnürkorsagen, Bikinis oder
eben auch in schwarzen T-Shirts machen sie zwar eine deutliche
Minderheit aus. Aber weniger euphorisch sind sie nicht.
Diese Freude ist
vielleicht auch der Grund, warum man in dem Dorf von 1800 Einwohnern
so gelassen auf die Metalfans blickt. Viele Anwohner der Hauptsstraße
laden sich sogar für die vier Tage des Festivals Freunde in ihre
Vorgärten ein, um gemeinsam zu beobachten, wie sich die seltsam
gekleideten Gestalten so aufführen. Außerdem hat ein Junge aus dem
Dorf das Spektakel 1990 gegründet und führt es bis heute, darauf
kann man stolz sein. Eva, eine Dame um die 80, blickt von ihrem
Balkon über ihre Geranien in Richtung Gelände und lauscht dem
fernen Lärm. Sie persönlich bevorzuge Volksmusik, aber das wäre ja
keine Vorschrift für den Rest der Welt. "Ich sage immer",
sagt sie lächelnd, "Gott hat jedes Geschöpf verschieden
geschaffen." Eva kommt übrigens auch in "Full Metal
Village" vor, diesem Dokumentarfilm über den jährlichen
Überfall, gedreht in den Jahren 2005 und 2006, mit dem die
koreanische Regisseurin Cho Sung-hyung dem Dorf ein Denkmal gesetzt
hat. Man ist jetzt ein Punkt auf der Landkarte. Unauslöschlich.
Darauf ist auch der Lions Club Itzehoe stolz, der in diesem Jahr
einen Ausflug nach Wacken gemacht hat. Eine Gruppe gepflegter Herren
weit über sechzig, die jetzt mitten im VIP-Zelt neben den
ungepflegten Jungs sitzen und, wie Reinhold Schack es ausdrückt, "es
toll finden, was die Leute aus der Umgebung hier so auf die Beine
stellen."
Apropos auf die
Beine stellen: Der Sick Motherfucker, der Alice Coopers Auftritt
verschlafen hat, erregt jetzt die Aufmerksamkeit der Umstehenden.
Zwei Typen beugen sich über ihn, drehen ihn in die stabile
Seitenlage und versuchen, ihn aufzuwecken. Als das nicht
funktioniert, nehmen sie ihn hoch und tragen ihn in den
Sicherheitsbereich, wo er langsam zu sich kommt. Sobald er begriffen
hat, wo er ist, lächelt er selig. Er sagt etwas, das klingt wie
"Alles cool" und stolpert davon, über das staubige Feld,
dem Festrausch entgegen.
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