Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Die
Wortschatzhüter
Von Jens Schröder,
Geo, 01.01.2010
Wen Ulrich von Bülow
unter die Erde bringen will, den verfolgt er mit zäher Ausdauer.
Stellt ihm nach mit gut geplanten „Anpirsch-Versuchen“.
Entwickelt, wie ein Kollege es ausdrückt, auch mal „wildtöterischen
Ehrgeiz“. Bringt erhebliche Geldsummen ins Spiel. Und am Ende
liegen die Überbleibsel der Gejagten meistens gut gekühlt und
säurefrei in einem feuerfesten, unterirdischen Raum. Alphabetisch
sortiert und bereitgehalten für Forschungsarbeiten in unbestimmter
Zukunft; aufgeteilt in grünschwarz gesprenkelte Kisten, die in
Ulrich von Bülows Universum das Maß aller Dinge sind. Oft sind die
Betroffenen zu diesem Zeitpunkt sogar noch am Leben . . .
Ulrich von Bülow,
ein bedächtiger Mittvierziger mit freundlichen Augen hinter eckigen
Brillengläsern, ist Leiter der Handschriftenabteilung des Deutschen
Literaturarchivs, Schillerhöhe 8, in 71672 Marbach am Neckar und
pflegt die Synapsen im kulturellen Gedächtnis der Nation. Er will
das Entstehen von Dichtung für die Leser der Zukunft dokumentieren,
indem er die Hinterlassenschaft bedeutender Autoren erwirbt. Und wenn
er einen Literaten schon zu Lebzeiten ins Visier nimmt – dann ist
das ein Ticket in die „mittlere Ewigkeit“.
Mehr als 1200
Nachlässe von Dichtern und Denkern verwahren die 190 Mitarbeiter des
Archivs in rund 27.000 grünen Kästen, dazu Tausende einzelne
Autografen – 20 Millionen Blatt Papier, von der Aufklärung bis zur
Gegenwart. Ein Konzentrat des geistigen Lebens der Deutschen aus 300
Jahren. Handgeschriebene Gedichte von Hölderlin lagern hier; das
Manuskript von Kafkas „Process“. Korrekturfahnen von
Bühnenstücken, auf denen Rainer Maria Rilke „Suppe“ mit
Bleistift zu „Brühe“ gemacht hat. Fein gezirkelte Briefe von
Ernst Jünger über Insekten, Drogen, das Wesen der Deutschen und die
Weimarer Republik. Arno Schmidts Zettelkasten und das Rezept von
Schillers Mutter für „Quittenhappen, ohne Feuer und Ofen zu
machen“, die den Dichter einst beflügelt haben mögen.
Und jetzt kommt auch
Martin Walser in greifbare Nähe – an diesem Tag sogar
buchstäblich, denn er soll in Marbach einen Vortrag halten. Von
Bülow ist ein wenig aufgeregt. Walser ist wichtig, und das weiß der
auch. Der Zug, in dem der über 80-jährige Dichter reist, hat
erhebliche Verspätung.
Wie wird er gelaunt
sein, wenn ihn sein Archivar am Bahnhof abholt? Wie wird er es
aufnehmen, dass die Manuskripte, die er als „Vorlass“ nach
Marbach geschickt hat, schon in 30 grüne Einheitskisten sortiert
sind?
„Die
lasse ich lieber in meinem Büro stehen“, sagt von Bülow. Walser
müsse ja die Spuren seiner Inspiration nicht gleich im nüchternen
Archivkeller sehen – wo sie schmucklos bei „WA“ liegen werden;
zwischen einer Dichterin namens WALCKER (ein Kasten) und dem
Literaturforscher WALZEL (13 Kästen).
Martin Walser ist
schwer berechenbar. Jahrelang hat er mit der Entscheidung über den
Verbleib seines Nachlasses gerungen. Die wohl sechsstellige Summe,
die Marbach ihm bieten dürfte und über die alle Beteiligten
selbstverständlich schweigen, hat er nicht nötig. Für Walser
zählt: Ist dieses Archiv der beste Ort, um seine Werke am Leben zu
halten, wenn ihr Autor längst tot sein wird?
Ulrich von Bülow
zieht einen Stapel aus einer der Kisten: das Manuskript von Walsers
Roman „Brandung“, mit Korrekturen, Quellen, Notizen. Da sehe man,
wie der Dichter am ersten Satz gefeilt hat, schwärmt von Bülow. Wie
er „schubweise der Improvisation ihren Lauf ließ“, um sich dann
wieder von der geplanten Dramaturgie einholen zu lassen. Wie er
Wirklichkeitspartikel in Geschichten einwebt – einen spektakulären
Herzinfarkt aus der Zeitung, ein auf einer Party aufgeschnapptes
englisches Wort, entnommen einer exakt festgehaltenen Seite aus des
Dichters Tagebuch: „Eine Fundgrube!“
Von Bülow redet
sich in Fahrt, als wolle er Walser gleich mit seiner Begeisterung von
Marbach überzeugen. Aber nein, nicht ihm, dem Archivar, sollen die
Autoren ihr Allerheiligstes anvertrauen: „Personen kommen und
gehen. Zur Institution müssen sie Vertrauen fassen. Denn die
bleibt.“
So wird es die
Institution Marbach sein, vertreten durch die Person von Bülow, die
dem möglicherweise unterzuckerten Schriftsteller an diesem Tag einen
Schokoriegel und ein Butterbrot mit zum Bahnhof bringen wird. Ein
guter Jäger muss auch hegen und pflegen können.
Die Anfänge des
Archivs reichen zurück ins späte 19. Jahrhundert. Damals grämte
man sich in Schillers Geburtsort Marbach, weil vom berühmten Sohn
der Stadt nur dessen spätere Wahlheimat, das ferne Weimar,
profitierte. Als Gegenmaßnahme gründete Marbach den Schwäbischen
Schillerverein, das Schiller-Nationalmuseum, schließlich die
Deutsche Schillergesellschaft.
Ausgestellt wurden
Schiller-Devotionalien – und alles, was man im Umland von den
Witwen heimischer Geistesgrößen bekommen konnte: Objekte mit Bezug
zur schwäbischen Literatur. Ein gewisser Hermann Hesse aus
Gaienhofen am Bodensee brachte persönlich seine frühen Gedichte
vorbei. In Beständen aus jener Zeit findet sich oft noch das Kürzel
NS, für „Nicht-Schwaben“.
Erst nach dem
Zweiten Weltkrieg gerieten die überregionalen Literaten in Marbach
in die Überzahl. Das Goethe-Archiv in Weimar war für die
westdeutsche Kulturlandschaft verloren, Berlin für viele Autoren,
die ins Exil geflohen waren, tabu. So gründete sich das Deutsche
Literaturarchiv (DLA) 1955 an diesem unverdächtigen, wenn auch
etwas abgelegenen Ort am Neckar – mit dem Auftrag, die Zeugnisse
der deutschsprachigen Literatur seit der Aufklärung zu sammeln.
Die Archivare
treffen von Anfang an den richtigen Ton mit Autoren, Witwen,
Dichterkindern. Finden die Balance zwischen Geldanreiz und
Ruhmversprechen. Geben jüdischen Emigranten das Gefühl, ihre
Dokumente „nicht nach Deutschland, sondern nach Marbach“ zu geben
– und bleiben trotzdem standhaft dabei, auch nationalkonservative
Schriftsteller sammeln zu wollen.
Genau wie sie
inzwischen die „Vorlässe“ von DDR-Kritikern (wie Sarah Kirsch)
und SED-treuen Dichtern (wie Hermann Kant) behutsam „aneinander
vorbeijonglieren“ – um ein Gesamtbild deutschen Denkens zu
spiegeln.
Die Kunstsammlung
füllt sich rasch mit Autorenporträts, Büsten und Totenmasken. Mit
jedem Nachlass kommen auch neue „Lebensspuren“ hinzu: Ein
Röntgenbild von Jaspers und ein Milchzahn von Mörike; Jüngers
Stahlhelm, Kästners Steuererklärung, Hesses Urlaubsfotos. Eine
Rechnung für die Familiengruft Hugo von Hofmannsthals. Eine
Speisenkarte der Stadthalle Hannover, auf der vorn Sahnegulasch
angeboten wird – und hinten Gottfried Benn ein Gedicht über „Ach,
das Erhabene“ geschrieben hat. Aus einem Schrank im Magazin duftet
noch das Rasierwasser eines Gelehrten aus der Weimarer Republik. Und
obendrauf: der angegilbte Atari-Computer eines jung verstorbenen
Dramatikers.
„Ich
nenne das immer unseren Flohmarkt“, sagt lachend Ulrich Raulff, der
Direktor des DLA. „Da sind schon auch Sachen dabei, die eher
Richtung Personenkult gehen. Für jemanden, der an Thomas Mann hängt,
ist der Anblick von dessen Taufkleid ja doch, sagen wir: anrührend.
Aber oft sagen solche Kuriositäten auch etwas aus über die
Kuriosität ihrer früheren Besitzer.“
Nicht zuletzt sind
diese „Lebensreste“ auch oft die Würze für das, was neben dem
systematischen Sammeln die zweite Seite von Marbach ist: das
Vorzeigen des Gesammelten, entweder im frisch renovierten
Schiller-Nationalmuseum oder im avantgardistischen Bau des LiMo, des
Literaturmuseums der Moderne.
„Volksbildnerischer
Effekt“ hieß dieser Auftrag schon im Statut des Schillervereins
von 1903. Ulrich Raulff nennte es heute: ein bisschen Spektakel
machen.
„Wir
haben ja nicht nur die ausgebufften Döblin- oder Celan-Experten, die
bei uns ihr wissenschaftliches Ei ausbrüten“, sagt Raulff. „Wir
haben auch die Reisebusse, die Rotary-Clubs, die Familien. Die wollen
was erleben.“
Die wollen die
Pistole des Philosophen Ludwig Klages sehen. Die finden es anregend,
dass der Dauerlauf-Poet Günter Herburger an einem Automaten seinen
Bio-Rhythmus gemessen hat und das ausgedruckte Billett nun in einer
Vitrine liegt. Und die schätzen es, wenn die Marbacher Museumsmacher
nicht einfach das Schönste aus dem Nachlass von, sagen wir, Kurt
Tucholsky, zu einer One-Poet-Show ins Museum schleppen – sondern
wenn sie die 27 000 Kisten mit klugen Fragen unter Strom setzen.
Wenn sie, wie Raulff es nennt, das Archiv ein „bisschen verrückt
machen“.
Was, um Himmels
willen, zeigt man, wenn man mal eine Ausstellung zum Thema Ordnung
und Literatur anbieten will? In Marbach kein Problem. Man zeigt etwa,
wie Schriftsteller ihre Dachbodenkisten beschriften. Alexander von
Humboldt, krakelig: „Briefe des Königs und andere“. Der Autor
Peter O. Chotjewitz, säuberlich: „Jugendscheiße“.
Man zeigt, wie sich
eine von Souvenirjägern zerschnittene Schiller-Handschrift durch
ordnende Hände wieder zum Belagerungsdrama „Malthas Einschließung“
zusammenfügen lässt.
Und natürlich zeigt
man, wie Autoren Ordnung in ihre Gedanken bringen: Kurt Pinthus mit
einer Liste „Sonderbare Juden“, die als Figuren in Betracht
kommen. Arno Schmidt per Zettelkasten. Und Nobelpreisträgerin Herta
Müller mit ausgeschnittenen Worten aus dem Ikea-Katalog.
„Mit
solchen Quer-Fragen ans Archiv findet man Dinge in unseren 20
Millionen Blättern, die wir sonst nie gesucht hätten“, sagt
Raulff. „Nicht alle Autoren haben von sich aus ein Nachleben. Um
manche wird es nach dem Tod still. So sorgen wir dafür, dass die
Stille nicht bleiern wird.“
Dass man zur
Eröffnung einer solchen Ausstellung mal wieder einen Martin Walser
einladen kann – ein schöner Nebeneffekt. Der Dichter kommt gern,
arg verspätet, aber gut gelaunt. Raulff redet eloquent über den
„Vollblutarchivar“ als Ordnungsmacht der Literaturgeschichte.
Walser schnarrt wortgewaltig unter buschigen Brauen über die Ordnung
von „Aufgeschriebenem und Hingeschriebenem“ in seinen
Tagebüchern. 400 Gäste essen in Minutenschnelle 600 Brezeln auf.
Und Ulrich von Bülow ist erleichtert. Vielleicht kann er sogar das
Manuskript der Walser-Rede bald in eine grüne Kiste sortieren:
Futter für die Walser-Forschung, Festredenforschung,
Literaturarchivs-Geschichtsforschung der Zukunft. Oder, wer weiß,
für eine Ausstellung, irgendwann in der mittleren Ewigkeit.
In der Stille des
Handschriftenlesesaals kommt der Museumstrubel nicht an. Die
Herzkammer des Archivs ist reserviert für Spezialisten, die sich ins
Material vertiefen. Historiker, eher zielstrebig; Germanisten, eher
mit Hang zum verklärten Schmökern, hat die Bibliothekarin
beobachtet. Vor Unikate-Dieben hat sie keine Angst: Zu ehrfürchtig
seien die meisten Gäste, zu eng bestuhlt der Raum für heimliches
Verschwindenlassen.
Nur manchmal, sagt
sie, habe sie einen Albtraum: „Dann stelle ich mir vor, dass
irgendein Geisteskranker ein Gedicht von Paul Celan vor meinen Augen
aufessen will – was soll ich dann machen?“
An diesem Tag
scheint sie das nicht zu befürchten. Ein Dominikanermönch aus
Frankreich beugt sich über eine Postkarte mit der Skyline von Dallas
– kollegialer Gruß von Kardinal Ratzinger an den Theologen und
Autor Josef Pieper (Nachlass: 65 Kästen). Ein italienischer
Hölderlin-Experte will beweisen, dass der zuletzt umnachtete Dichter
(vier Kästen) einen bestimmten Text noch selbst verfasst hat. Ein
Philosophieprofessor aus Shanghai beschäftigt sich mit Ernst Jünger
(320 Kästen) und sucht nach den gestrichenen Passagen im Manuskript
von „Der Arbeiter“. Er findet „Jüngers Handschrift eine
Frechheit“. Eine Bibliothekarin studiert die Verteidigungsschrift
des Autors Armin Wegner (291 Kästen), der sich im Dritten Reich
gegen den Verdacht der „pazifistischen Gesinnung“ zur Wehr setzen
musste.
Daneben durchforstet
ein Mitarbeiter des Rowohlt-Verlages den Nachlass von Mascha Kaléko
(13 Kästen): Er will die Werbeslogans finden, welche die Lyrikerin
in den 1950er Jahren für „Rowohlts Deutsche Enzyklopädie (RDE)“
geschrieben haben soll. Da! Ein dünnes Durchschlagpapier mit blauer
Schreibmaschinenschrift. Darauf die Worte der berühmten Poetin: „Ob
Bürger, Bonze oder Bauer, mit RDE wird jeder schlauer“.
Die Archivgäste von
heute profitieren vor allem von den Anschaffungen, die von Bülows
und Raulffs Vorgänger vor Jahren und Jahrzehnten gemacht haben.
Woher wollen die Handschriften-Jäger von heute wissen, welche
Geistesgüter in 50 Jahren gefragt sein werden? Wird die Zukunft
sagen: Warum habt ihr nicht auf Daniel Kehlmann gesetzt? Wieso seid
ihr nicht in die Fantasy-Welle der 1980er Jahre eingestiegen?
„Jede
Zukunft wird uns sagen: Ihr wart dumm“, sagt der Direktor. „Aber
wir können zumindest nach klaren Prinzipien dumm sein.“
Da ist zum Beispiel
das „Gipfelprinzip“: Marbach bemüht sich um Vereinbarungen mit
offensichtlich herausragenden Autoren. Martin Walser ist so einer.
Günter Grass wäre auch einer – der aber gab seine Papiere nach
Berlin, zur Akademie der Künste, dem zweiten großen Literaturarchiv
in Deutschland. Auch Heiner Müllers Nachlass mussten die Marbacher
dorthin ziehen lassen. Denn zwischen den beiden aus Steuergeldern
finanzierten Instituten gilt ein Konkurrenz-Verbot: Wer zuerst mit
einem Dichter verhandelt, darf nicht vom anderen überboten werden.
Wie schnell gerade
um die höchsten literarischen Gipfel diplomatische Gewitter
aufziehen können, zeigt der Fall Franz Kafka: Dessen Nachlass war
1924 im Nachlass seines Nachlassverwalters Max Brod aufgegangen, der
wiederum von dessen ehemaliger Sekretärin (und Nachlassverwalterin)
in einem Haus in Tel Aviv eifersüchtig bewacht und gegen
Einsichtnahme verteidigt wurde.
Viele Jahre haben
die Marbacher Archivare über Mittelsmänner Kontakt zu der Dame
gehalten, haben 1988 sogar bei Sotheby’s das Manuskript von Kafkas
„Process“ für 3,4 Millionen Mark ersteigert, damit das
Prunkstück nicht erneut in einer Privatsammlung verschwindet.
Doch
da besagte Nachlassverwalterin 2007 verstorben ist, wird nun um ihren
(Kafkas und Brods Nachlass enthaltenden) Nachlass heftig
weitergestritten. Die Erben wären wohl gewillt, die Papiere, von
denen immer noch niemand genau weiß, was sie enthalten, nach Marbach
zu verkaufen. Aber jetzt hat die Nationalbibliothek von Jerusalem
ebenfalls Anspruch auf den Nachlass des emigrierten Dichters Brod
erhoben – als unveräußerlichen Teil des staatlichen israelischen
Kulturgutes. Das Marbacher Archiv wurde sogar aufgefordert, das
„Process“-Manuskript zurückzugeben. Bislang will keine der
Konfliktparteien nachgeben. Der Rechtsstreit dauert an.
Ganz so kompliziert
ist es nicht immer: Bei dem Dichter Peter Handke ließ sich die
Österreichische Nationalbibliothek nach kurzem Wettstreit auf eine
Teilung der Dokumente ein. Und beim Autor W. G. Sebald konnten die
Marbacher sogar das Universitätsarchiv von Harvard ausstechen –
obwohl, wie Ulrich von Bülow vermutet, „die Amerikaner der
Dichterwitwe sogar mehr Geld geboten haben dürften“.
Es geht eben nicht
nur ums Finanzielle, sondern auch um den „lebendigen Gebrauch“,
der einen toten Dichter in Marbach erwartet. Um den posthumen
intellektuellen Austausch mit Freunden und Feinden, Leidensgenossen,
Kritikern und Geistesbrüdern – die im Zweifel immer nur ein paar
grüne Kisten weiter zur Ruhe gekommen sind.
Womit das zweite
Sammelprinzip benannt wäre: das Netzprinzip. „Wir wollen die
Verbindungen in literarischen Zirkeln erfassen“, sagt von Bülow.
Zum Beispiel bei den sächsischen Dichtern, die sich in den 1970er
Jahren zusammengeschlossen haben: „Da inspirierte ein Werk das
nächste, Gedicht reagiert auf Gedicht. Das ist wie beim
Briefmarkensammeln: Wir wollen den Satz komplett haben, die ganze
Gruppe knacken, auch wenn vielleicht nicht alle Mitglieder es zu Ruhm
gebracht haben.“
Auch die Beziehung
zwischen Berühmtheiten kann via Netzprinzip abgebildet werden. Als
Martin Walser vergangenen Sommer seinem Archivar von Bülow für eine
Abkühlung im Bodensee die alte Badehose seines Freundes Uwe Johnson
aus dem Schrank kramen wollte, war von Bülow gar nicht mehr nach
Schwimmen zumute. Nur noch danach, das stoffliche Erinnerungsstück
der Dichterfreundschaft ins Museum bringen zu können. Leider war es
unauffindbar.
Und wenn man eine
Spinne im literarischen Netz erlegen kann, dann ist das natürlich
ganz besonders erfreulich. Als sich im November 2009 entschied, dass
das Archiv des Frankfurter Suhrkamp-Verlages nach Marbach wechseln
soll, sagte Ulrich Raulff: „Nie standen die Sterne höher und
heller über unserem Haus.“
Ein Verlagsarchiv –
das ist das „Netzprinzip“ in Potenz: Es enthält die Briefwechsel
der Lektoren mit längst in Marbach liegenden Autoren, etwa Hermann
Hesse oder Paul Celan. Mehr als 500 Briefe sind von Martin Walser in
dem Fundus, der als Freund des Verlegers die Neuheiten der Saison
oder die Gestaltung seiner Romanumschläge bewertet. Und auch von
Schreibern, die man nach Marbach zu holen hofft, ist Stoff dabei –
von Max Brod etwa. „Strategisches Umfeldsammeln“ nennen das die
Archivare. Nach dem Motto: Wir haben schon diese Briefe – dann
sollte doch im Sinne der Forschung alles andere auch zu uns, oder?
Vorteil Marbach.
Aber was ist mit
jungen Autoren, die den Gipfel noch nicht erklommen, ein Netz noch
nicht gesponnen haben? Was ist mit Daniel Kehlmann?
Der, versichern die
Archivare, sei nach seinem Bestseller „Die Vermessung der Welt“
längst einer jener mehr als 100 Literaten, mit denen man Kontakt
halte. Die Marbacher Bibliothek ist angewiesen, jedes Kehlmann-Buch
zu kaufen. Bei Ausstellungen bittet man den jungen Autor schon mal
vorab um ein Exponat. Die Dokumentationsstelle zeichnet seine
Fernsehauftritte auf, archiviert Mitschnitte seiner Lesungen, heftet
Artikel über ihn ab. Sogar wenn Kehlmann im nächsten
Harry-Potter-Film den Schurken Voldemort synchronisieren würde,
müsste das Archiv eine Kopie davon beschaffen. Nach derselben Logik,
nach der es auch Milva-CDs bereithält, auf denen die Sängerin
Brecht-Lieder interpretiert. Oder Schallplatten von Otto Waalkes –
weil dessen Witze teils von dem in Marbach archivierten Dichter
Robert Gernhardt geschrieben wurden.
„Was
haben wir schon zu verlieren?“, fragt Andreas Kozlik, der im Archiv
das Medienecho auf alle einmal ins Visier genommenen Schriftsteller
sammelt. „Im besten Fall wird Kehlmann mal ein ganz Großer. Und im
schlimmsten Fall ist sein Material immer noch für künftige Forscher
interessant, die sich für literarische Eintagsfliegen
interessieren.“
Reinbek bei Hamburg,
ein herbstlicher Nachmittag, ein staubiger Keller. Der Geruch von
altem Papier liegt in der warmen Luft. Ulrich von Bülow geht gebückt
unter mit Schaumstoff umwickelten Heizungsrohren, in der Hand eine
Bleistiftzeichnung, auf der er die Lage der eingelagerten Aktenberge
verzeichnet. „Ich glaube, wir hätten eine Taschenlampe mitbringen
sollen.“
Seine Suche nach
ungehobenen Wortschätzen hat den Archivar diesmal ins Tiefgeschoss
des Rowohlt Verlages geführt. Der Verlag will kistenweise Dokumente
spenden. Aber: Lohnt sich das für Marbach?
Gut möglich, findet
von Bülow. Vor allem die Briefe zwischen Autoren und Lektoren „sind
spannend“. Er kramt in einem Schrank mit Hängeregistern. „Habe
meinen Text noch mal gelesen“, schreibt da ein Reiseschriftsteller
(und vielmaliger GEO-Autor) per Fax an seinen Kontaktmann. „Ich bin
begeistert von Ihrer Treue und meinem Deutsch. Wir werden beide
Millionär.“
Ein anderer will die
„vielzuverehrenden, lieben Lektoren“ per Bestechung für ein
Buchprojekt einnehmen: „Die Max-und-Moritz-Schokolade habe ich für
Sie in einer tschechischen Milchbar gestohlen.“
Richtig geweckt wird
der Jagdinstinkt des Archivars, als er die Kisten mit den Akten der
Rowohlt-Auslandsvertreter durchwühlt. Stichprobe: Der Pariser
Repräsentant des Verlages soll die Rechte für Jean Paul Sartres
Essays beschaffen. Das werde nicht leicht, berichtet er. Sartre
unterschreibe zwar alles, was man ihm unter die Nase halte.
Allerdings müsse man immer davon ausgehen, dass er denselben Vertrag
vorher schon mit einem anderen Verlag geschlossen habe.
„So
was ist doch toll“, entfährt es von Bülow. „Solche Leute haben
die Literaturszene in Deutschland mitgeprägt.“ Er mustert kurz die
Aktenberge. „65 grüne Kästen müssten reichen.“
Faxe, Durchschläge,
Ausdrucke mit wüster Korrektur: Wie lange wird es das noch geben?
Was wird man archivieren können von jungen Autoren, die misslungene
Metaphern oder E-Mails an den Lektor einfach per Löschtaste
vernichten, deren Festplatten abstürzen und die sich mit Kollegen
über Handys statt auf Büttenpapier austauschen?
Im Moment, sagt
Ulrich Raulff, seien die Neuzugänge bei den Nachlässen eher
umfangreicher als früher. „Das liegt aber vielleicht daran, dass
wir mit diesem Geschäft dem aktuellen Stand der Medienentwicklung 20
Jahre hinterherhinken.“
Was zurzeit nach
Marbach kommt, sind die Papiere einer in die Jahre gekommenen
Generation, von denen viele das eigene Archiv schon deshalb hegen,
pflegen und mehren, weil sie es als Altersvorsorge erkannt haben.
Günter Herburger
beispielsweise hat den Archivaren schon vor Jahren aufgrund
„penetranter Geldlosigkeit“ eine Tranche seines Vorlasses
angeboten. Leicht ist ihm die Trennung nicht gefallen: „Ich sehe
Sie noch dahinfahren in dem voll geladenen Mercedes-Schiff...“,
schrieb er später wehmütig nach Marbach.
Der 2008 verstorbene
Lyriker Peter Rühmkorf hat seine Dokumente schon zu Hause in Hamburg
in 112 grünen Marbachkisten vorgeordnet – fertig zum Abtransport.
Bei der Vermarktung seiner Hinterlassenschaft hat er sich so
geschickt angestellt, dass unter Autorenkollegen das Wort von der
„Rühmkorf-Rente“ bis heute umgeht. Auch bei dem Humoristen
Robert Gernhardt, der bis zu seinem Tod 2006 noch zäh mit dem
Literaturarchiv über den Preis seiner Geistesgüter verhandelt hat:
Keinesfalls nämlich, sagte er, sei er weniger wert als Peter
Rühmkorf!
Jüngere Autoren
dagegen weisen den Gedanken an Vorlässe, Nachlässe und
Stoffsammlungen für ihre Biografen oft von sich. Der Romancier Raoul
Schrott, 45, ruft seine Kollegen sogar fröhlich auf zum Vernichten
ihrer Schreibspuren: „Schmeißen wir weg, was nur geht“, sagt er.
„Das wäre doch mal ein neuer ästhetischer Ansatz, der unserem
täglichen Scheitern weit angemessener wäre und dabei der Idee alles
Endlichen grad ins Auge sähe.“
Ulrich von Bülow
lässt sich von solchen Äußerungen nicht beeindrucken. Unter
„Schrott, Raoul, Titel: Dr. phil habil., Geschlecht: männlich,
Geburtsort: São Paulo“ weist die Datenbank des Deutschen
Literaturarchivs bereits
314 Dokumente aus:
Zeitungsausschnitte, Bücher, Rezensionen, Mitschnitte von
Radiosendungen, von ihm eingelesene CDs.
Das Marbacher
Zielradar hat den Autor längst erfasst.
Die Pirsch ist
eröffnet.
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