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Wolfgang Uchatius „Dick, doof und arm

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Dick, doof und arm

Wie macht man einen Bestseller? Der junge Soziologe Friedrich Schorb versucht es mit einem Buch über Fettleibige. Er feilscht mit Verlagen um Honorare, verbringt Monate am Schreibtisch, beugt sich den Gesetzen der Buchindustrie – und lernt, dass nichts wichtiger ist als ein provokanter Titel


Von Wolfgang Uchatius, Zeit, 08.10.2009


Ganz am Ende dieser Geschichte, als der Autor das Buch geschrieben, die Lektorin es gelesen und der Verlag es beworben hat, als manche Buchhändler es bestellt, andere es abgelehnt haben und die Entscheidung, ob es ein Bestseller wird, kurz bevorsteht, ganz am Ende also, da wird das Buch gedruckt.

Eine Maschine springt an, Papier rast vorbei, in langer Bahn, weiß zuerst, dann übersät mit schwarzen Flecken. Mit Buchstaben, Sätzen, Gedanken. Das gedruckte Papier wird geschnitten, gefalzt, geklebt, und wenn es stapelweise am Ende der Fabrikhalle liegt, dann hat es sich verwandelt, dann kann man das Buch in die Hand nehmen. Weiß ist es, mit rotem Aufdruck, 20,5 Zentimeter lang, 12,5 Zentimeter breit, 240 Seiten dick.

Monatelang existierte es als Word-Dokument, als E-Mail-Anhang, als Foto in der Verlagsvorschau. Jetzt aber kann man mit den Fingern über den Titel streichen, das Foto des Autors betrachten. Man kann das Buch aufschlagen und lesen. Es ist ein kluges, ein kämpferisches Buch. Wie jedes Buch erzählt es eine Geschichte. Wie jedes Buch hat es selbst eine.


1. Kapitel: Der Autor

Am 31. Januar 2008 ist die Wirtschaftskrise noch Zukunft. Deutschland hat Platz für andere Themen. Friedrich Schorb sitzt im Wohnzimmer seiner WG und schlägt die Süddeutsche Zeitung auf. Damals ist er 30 Jahre alt, er hat sein Soziologie-Studium abgeschlossen und eine Weile an der Universität Bremen in einem Forschungsprojekt gearbeitet. Jetzt ist er arbeitslos. Er hat ein paar Ideen im Kopf für eine Doktorarbeit, aber davon kann man nicht leben. Wenn er nicht bald wieder einen Job an der Uni findet, muss er Hartz IV beantragen.

Es geht ihm nicht sehr gut im Moment.

Auf ihrer ersten Seite berichtet die Zeitung an diesem Tag über eine wissenschaftliche Studie. Darin steht, die Deutschen seien zu dick. Allerdings nicht alle Deutschen. Sondern vor allem jene, die keinen richtigen Schulabschluss hätten. Man kann die Studie so lesen: Je blöder der Mensch, desto fetter der Bauch. Der Artikel heißt: Bildung macht schlank.

Schorb ist nicht dick. Eher klein und schmal. Trotzdem interessiert er sich für Untersuchungen über schwere Menschen. Er glaubt zu wissen, dass diese Studien nicht wegen des zunehmenden Verzehrs von Big Macs und Fertigpizza geschrieben werden, sondern weil manche Menschen sich gerne für etwas Besseres halten.

Schorb hat sich alte Zahlen angesehen und festgestellt, dass die Deutschen vor ein paar Jahrzehnten fast genauso dick waren wie heute. Damals störte sich niemand daran. Die Bundesregierung kam nicht auf die Idee, eine Kampagne mit dem Titel »Fit statt fett« auszurufen, die Weltgesundheitsorganisation behauptete nicht, Übergewicht verringere die Lebenserwartung, die Zeitungen schrieben nicht, die Dicken ruinierten das Gesundheitssystem.

Denn damals gab es auch dicke Politiker, dicke Wissenschaftler, dicke Journalisten, sogar viele. Erst seitdem die Mittel- und Oberschicht beschlossen hat, schlank zu bleiben, erst seit Politiker Marathon laufen und sich Manager die Muskeln von Triathleten antrainieren, stehen die Dicken als die Dummen da. Bildschirme und Zeitungsseiten rufen ihnen entgegen: Es ist nicht in Ordnung, wie ihr seid.

In Wahrheit verursachten Übergewichtige keine höheren Kosten als andere Menschen. Die schlanke Figur sei kein Schutz gegen Krankheit, sondern ein Symbol des sozialen Status, wie früher das gepflegte Gebiss. So sieht Friedrich Schorb die Lage.

Er hat diese Gedanken in seiner Magisterarbeit aufgeschrieben, Titel: Gesellschaftliche Wahrnehmung und Behandlung von abweichendem Verhalten am Beispiel von Übergewicht . Er hat mit einem Professor in Bremen eine Aufsatzsammlung herausgegeben. Aber wer liest so was?

Schorb fasst sich ein Herz. Er ruft bei der Süddeutschen Zeitung an und verwickelt den zuständigen Redakteur in ein Gespräch. Der lädt ihn ein, sich an einem Gastbeitrag zu versuchen. Der Artikel erscheint am 9. Februar 2008 auf der zweiten Seite der SZ : Wer hat Angst vor den Dicken?

Zwei Tage später erhält Schorb eine E-Mail, deren Absender er nicht kennt. Irgendeine Belanglosigkeit, denkt er. Er öffnet die Mail, den Finger auf der Löschtaste, und spürt sein Herz schlagen. Der Absender ist Lektor beim Herder Verlag. Er hat Schorbs Artikel gelesen. Der Lektor fragt: Wollen Sie nicht ein Buch schreiben?

Friedrich Schorb hat das Gefühl, dass sich gerade sein Leben ändert.

Er ruft den Lektor an und sagt: Ein Buch? Interessante Idee. Er versucht, abgeklärt zu klingen.

Ein paar Wochen später, Friedrich Schorb hat ein Exposé an Herder geschickt und wartet auf Antwort, da meldet sich ein zweiter Verlag bei ihm. Droemer Knaur aus München. Dann ein dritter, DuMont aus Köln. Sie wollen, dass er ein Buch für sie schreibt.

Man muss an dieser Stelle den Fortgang der Geschichte kurz unterbrechen und eine Frage stellen: Ein junger Mann hat einen Artikel in einer Tageszeitung veröffentlicht. Das ist alles. Niemand weiß, ob er mehr als zwei oder drei lesbare Seiten zustande brächte, niemand weiß, ob er genug Ideen hat, niemand kennt seinen Namen. Wieso bekommt er von drei angesehenen deutschen Verlagen das Angebot, ein Buch zu schreiben?


2. Kapitel: Der Verlag

Hans-Peter Übleis ist ein kleiner, rundlicher Mann mit österreichischem Akzent. Er ist Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens mit 155 Angestellten, er hat ein geräumiges Büro mit großem Schreibtisch und kleiner Sitzgruppe. An der Wand steht ein Bücherregal.

Man findet das häufig bei Firmenchefs. Sie stellen sich Bildbände oder Kulturführer ins Büro. Sie zeigen damit, dass sie nicht nur Waschmaschinen oder Zündkerzen im Kopf haben oder was auch immer ihre Firma produziert.

Für Übleis haben Bücher eine andere Bedeutung. Sie sind die Waschmaschinen. Sie sind nicht das Accessoire, das seine Bildung beweist, sondern das Produkt, das seinem Unternehmen Rendite bringt. Hans-Peter Übleis, 58 Jahre alt, von seinen Leuten auch »HaPeÜh« genannt, ist verlegerischer Geschäftsführer von Droemer Knaur. Sein Unternehmen bringt im Jahr 600 Bücher auf den Markt.

Vor neun Jahren erregte Übleis Aufsehen, als er Helmut Kohl dazu brachte, Mein Tagebuch bei Droemer zu veröffentlichen. Später verdiente der Verlag viel Geld mit Dschungelkind , dem am zweitmeisten verkauften Sachbuch des Jahres 2005, in dem eine Frau namens Sabine Kuegler ihre Kindheit bei einem Eingeborenenstamm in Westpapua beschrieb.

Jetzt liegt auf Übleis’ Tisch das Gesicht von Christoph Schlingensief. Es nimmt den gesamten Umschlag ein. So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein heißt das Buch, in dem der Regisseur seinen Kampf gegen den Krebs beschreibt. Ein Bestseller, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. Der Verlag versteigert gerade das Recht, den Text als Taschenbuch herauszubringen. Übleis sagt, das Gebot liege bei 40.000 Euro. Er überlegt, höherzugehen.

Christoph Schlingensief ist in Deutschland ein bekannter Name. Das Problem der Verlage ist: Es gibt nicht genug bekannte Autoren, die spannende Geschichten erzählen, egal, ob es Romane oder Sachbücher sind.

Also bleibt den Verlagen nur eines: Sie müssen unbekannte Leute bekannt machen. Hans-Peter Übleis sagt: »Wir müssen immer wieder in neue Leute investieren.« In Leute, deren Bücher fast niemand lesen wird. Oder fast jeder. Die Verlage wissen das vorher nicht. Sie versuchen es einfach.

Zum Beispiel mit Friedrich Schorb.

Das ist der Unterschied zu den Waschmaschinen. Kein Unternehmen baut so ein Gerät in der Vermutung, es könnte sich unter bestimmten Umständen, mit etwas Glück, gut verkaufen. Es ist zu teuer, eine Waschmaschine zu entwickeln und zu produzieren. Ein Buch zu machen ist billiger. Die 240 Seiten von Friedrich Schorb zu drucken und zu binden kostet nicht mehr als zwei Euro pro Exemplar. Und das Manuskript? Etablierte Bestsellerautoren erhalten für jedes verkaufte Buch zehn bis fünfzehn Prozent des Ladenpreises sowie ein Garantiehonorar von mehreren Zehntausend, manchmal mehreren Hunderttausend Euro. Friedrich Schorb ist nicht etabliert.

»Wie viel zahlen Sie mir?«, fragt er die Verlage.

Fünf Prozent des Ladenpreises, mindestens aber 2500 Euro. Antwortet der Herder Verlag.

Sieben Prozent, Garantiehonorar: 8000 Euro. Sagt Droemer Knaur.

Zehn Prozent. Und 10.000 Euro. Sagt DuMont.

Schorb wohnt in einer WG in einem Hinterhof in Berlin-Friedrichshain. An der Tür hängt ein Schild: »Bitte klopfen, Klingel kaputt!« In seinem Zimmer stehen ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Sofa und zwei Yucca-Palmen. Damit ist das Zimmer voll. Nur oben ist noch Platz. Schorb schläft in einem Hochbett. Er zahlt 190 Euro Miete im Monat. In den zwölf Monaten als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni hatte er eine halbe Stelle, er kam auf knapp tausend Euro im Monat. 10.000 Euro sind viel für ihn.

Aber DuMont will, dass Friedrich Schorb das Manuskript in vier Monaten fertig hat. Das Buch soll schon Anfang 2009 herauskommen. Nach dem Winter. Wenn die Leute anfangen, gegen ihr Fett zu kämpfen. Wenn sie Diät machen.

Schorb will das nicht. Vier Monate kommen ihm kurz vor. Er will Qualität liefern. Er will auch die Doktorarbeit nicht aus dem Auge verlieren.

Er spricht noch einmal mit Droemer Knaur. Er versucht, den Preis nach oben zu treiben. Die Antwort: 8000 Euro, nicht mehr, aber neun Prozent von jedem verkauften Buch. Letztes Angebot.

Friedrich Schorb ist einverstanden.


3. Kapitel: Die Bestsellerliste

Während Schorb mit den Lektoren verhandelt, kommt ein Buch auf den Markt mit dem Titel Warum unsere Kinder Tyrannen werden . Der Autor, Michael Winterhoff, ist Kinderpsychologe und genauso unbekannt wie Friedrich Schorb. In ungelenker Sprache schimpft er auf die verwöhnten Kinder moderner Eltern.

Nach einer Woche steht das Buch auf Platz 49 der Sachbuch-Bestsellerliste. Nach zwei Wochen auf Platz 30, dann auf 19, auf 12. Winterhoff gibt Interviews, er wird in Talkshows eingeladen. Das Buch steigt auf Platz 2. Es wird sich mehr als 400.000-mal verkaufen.

Die Bestsellerliste ist ein simpler Maßstab des ökonomischen Erfolgs eines Buches, ähnlich wie eine Gewinn-und-Verlust-Rechnung. Aber sie ist auch ein Spiegel der deutschen Gemütslage, ein Psychogramm des Landes. Ende der Neunziger zum Beispiel, als die halbe Republik an der Börse spekuliert, zählt Der Weg zur finanziellen Freiheit zu den erfolgreichsten Sachbüchern. Nach dem Crash am Neuen Markt steht auf einmal Der große Börsenschwindel oben. Zu Zeiten von Rekordarbeitslosigkeit und Hartz IV heißen die Bestseller Schluss mit lustig und Abstieg eines Superstars . Die Nation kauft, was ihre Stimmung trifft.

Der Kinderpsychologe Winterhoff sagt später in einem Interview, sein Manuskript habe lange in der Schublade gelegen. Erst als Zeitungen und Fernsehen anfingen, Kritik an der 68er-Generation zu üben, erst als sich unter jungen Leuten ein Zurück zur Tradition abzeichnete, hatte er das Gefühl, die Zeit sei reif für seine Argumente. Haben die Leute nicht auch langsam genug vom Schlankheitswahn? Haben nicht all die Diätbücher und Fitnesspläne, die Cholesterinkiller und Fetthasser in vielen Menschen das Gefühl erzeugt, für dumm verkauft zu werden?

Könnte es sein, dass Friedrich Schorbs Buch ein Bestseller wird?


4. Kapitel: Das Manuskript

Im Oktober 2008, wenige Wochen nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers, fängt Schorb mit dem Schreiben an. In den Nachrichten ist von bankrotten Unternehmen die Rede. Friedrich Schorb liest Studien über dicke Menschen. Er prüft Statistiken, liest Zeitungsartikel. Er will nichts behaupten, was er nicht belegen kann.

Durch sein Fenster in Berlin-Friedrichshain sieht er Mülltonnen, ein paar kahle Bäume und die Löcher im Pflaster des Hinterhofs. Über seinen Schreibtisch hat er eine Postkarte gehängt. Darauf steht: »Dicke Kinder sind schwerer zu kidnappen«. Wenn ihm keine vernünftigen Sätze einfallen, steht er auf und spricht seine Gedanken vor sich hin. Das hilft.

Friedrich Schorb schreibt, in Neuseeland werde Übergewichtigen inzwischen die Einreise verweigert. In Japan müssten Unternehmen, die viele füllige Mitarbeiter beschäftigen, mit Geldstrafen rechnen. In England habe der Gesundheitsminister den Kampf gegen das Fett mit dem Kampf gegen den Klimawandel verglichen. Als ob ein dicker Bauch eine ansteckende Krankheit sei.

Er schreibt, auf Betreiben der Pharmaindustrie seien die Grenzwerte für Fettleibigkeit mehrfach nach unten korrigiert worden. Auf einmal tauchten Millionen neuer Übergewichtiger in der Statistik auf.

Er schreibt, nach allen seriösen Studien habe moderates Übergewicht keine gesundheitsschädigende Wirkung. Im Gegenteil, von einem gewissen Alter an erhöhe es sogar die Lebenserwartung.

Ganz ans Ende stellt er den Satz: »Nicht an den gesundheitlich unbedenklichen Pfunden und dem Hirngespinst der Fehlernährung, sondern an der ganz konkreten Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und dem gestörten Verhältnis zum Essen sollte sich etwas ändern.«

Nach einer durchgearbeiteten Nacht drückt Schorb am 5. Februar 2009 um 12.05 Uhr die Returntaste seines Computers und schickt das Manuskript an den Droemer-Verlag. Dann stärkt er sich mit Butterbrezeln und nepalesischem Tee.

Er hat jetzt einen neuen Blick auf seine Zukunft. Mit Anfang dreißig und gerade erst begonnener Doktorarbeit ist er für eine Uni-Karriere fast zu alt. Auch die Unternehmen suchen keine Soziologen. Warum nicht als Autor leben? Schon als Grundschüler hatte sich Schorb an kleinen Geschichten versucht, jahrelang träumte er davon, Schriftsteller zu werden. Vielleicht wird das Buch ein Erfolg, vielleicht schreibt er bald das nächste.

Monatelang hat Schorb kaum das Haus verlassen. Jetzt verabredet er sich wieder zu Kneipenbesuchen und Partys. Er hat das Gefühl, schönen Zeiten entgegenzugehen.


5. Kapitel: Die Verpackung

Auf dem Schreibtisch liegt ein halbes Dutzend Papierstapel, auf einem davon eine Liste mit den Autoren für den Herbst. »Andre Agassi: Autobiografie« steht darauf, »Sabine Kuegler: Dschungelkind III«, und Friedrich Schorb. Es ist der 20. Februar 2009, die Verlagsleiterin Sachbuch von Droemer Knaur sitzt in ihrem Büro, die Lektorin, die Schorbs Buch betreut, kommt herein.

Das Manuskript ist seit zwei Wochen im Verlag. Die Lektorin kennt es noch nicht. Wie fast alle Lektoren kommt sie nur abends, nach Tagen voller Konferenzen, dazu, Manuskripte zu lesen. Jetzt aber geht es nicht darum, das Buch zu beurteilen, sondern darum, es zu verpacken. Das ist vielleicht noch wichtiger.

Es gibt Untersuchungen, denen zufolge sieben von zehn Büchern spontan gekauft werden. Die Leute stehen vor dem Bücherregal wie sonst vor der Joghurttheke, und wenn sie keine Vorliebe für eine bestimmte Marke, einen bestimmten Autor, haben, nehmen sie das, was ihnen am meisten Appetit macht.

Der Appetitmacher ist die Verpackung. Bei Büchern ist das der Umschlag. Gerade hat Droemer ein ziemlich gut verpacktes Buch herausgebracht. Zu sehen ist das sorgenvolle Gesicht eines Mannes mit grau melierten Haaren. Es ist der Börsenhändler Dirk Müller, der den Deutschen im Fernsehen regelmäßig die Wirtschaft erklärt. Crashkurs heißt das Buch. Es ist eines der ersten Bücher zur Finanzkrise. Monatelang wird es zu den erfolgreichsten Sachbüchern zählen.

Schorbs Gesicht war noch nie im Fernsehen. Der Verlag setzt auf einen Umschlag ohne Bild. Nur Schrift. Der Titel allein muss Interesse wecken.

Viele Bestseller wären ohne ihren Titel keine geworden. Wer hätte die Bücher Witzige Sprüchesammlung , Eine Einführung in die Philosophie und Irrtümer der deutschen Sprache lesen wollen? Weil sie in Wahrheit Niveau ist keine Hautcreme, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? und Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod hießen, blieben die Leute in den Buchhandlungen stehen. Sie fingen an zu blättern – und kauften diese Bücher, die zu den erfolgreichsten der vergangenen Jahre gehören.

Schorb hatte als Titel »Schlanke Bürger im schlanken Staat« vorgeschlagen. Er hatte sich das genau überlegt. Er wollte darauf anspielen, dass das Körperfett neuerdings ähnlich ideologisch verurteilt werde wie ein ausufernder Staatssektor.

Zu kompliziert, sagte die Lektorin. Versteht keiner. Sie und die Sachbuchleiterin sitzen jetzt zusammen, um einen besseren Titel zu finden.

Sachbuchleiterin: »Schorb argumentiert doch, die ganzen Schlankheitskampagnen seien übertrieben. Oder?«

Lektorin: »Genau. Er benennt, wer uns alles glauben machen will, Übergewicht sei gefährlich: die Pharmaindustrie, die Politik, Teile der Wissenschaft. Er plädiert für mehr Gelassenheit.«

Sachbuchleiterin: »Wer kauft so ein Buch?«

Lektorin: »Na ja, die Dicken selbst…

Sachbuchleiterin: »…eher nicht. Oder jedenfalls nicht die Dicken, die man bei McDonald’s und in der Unterschicht findet. Sondern intelligente Menschen, die sich für die Gesellschaft interessieren.«

Lektorin: »Diese Leute müssen wir abholen.«

Sachbuchleiterin: »Deshalb fände ich eine Provokation gut. So wie in dem Titel, den Sie vorgeschlagen haben.«

Der Lektorin war in der Gliederung des Buches, die Schorb ihr geschickt hatte, eine Zwischenüberschrift aufgefallen: »Dick, doof und arm«. Das wäre ein guter Titel, dachte sie.

Lektorin: »Allerdings deckt das nur einen Teilaspekt ab, nur den Punkt, dass das Dicksein mit Blödheit und Armut gleichgesetzt wird.«

Sachbuchleiterin: »Man kann nie das ganze Buch einfangen. Wir müssen auf den Erregungseffekt abzielen. ›Dick, doof und arm‹ ist der stärkste Titel.«

Dick, doof und arm. Friedrich Schorb sträubt sich. Mit einem Fragezeichen am Ende könnte er sich diesen Titel vorstellen, aber ist er dann nicht immer noch zu reißerisch? Er ruft die Gründerin der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung an, eine hübsche übergewichtige Frau, mit der er während des Schreibens Kontakt hatte. Ihr gefällt die Formulierung. Sie sagt, ein Titel müsse neugierig machen.

Der Verlag hat keinen Einwand gegen das Fragezeichen. Friedrich Schorbs Buch hat jetzt einen Namen.


6. Kapitel: Die Vorschau

Am Konferenztisch sitzen zwanzig Leute, jeder hat die Entwürfe der Herbst-Vorschauen von Droemer Knaur vor sich liegen. Die Vorschauen sind die Kataloge, in denen das Unternehmen seine neuen Bücher präsentiert. Es ist der 5. März 2009, bald wird der Verlag die Vorschauen an mehrere Tausend Buchhandlungen schicken. Er will ihnen seine Bücher verkaufen.

Man sollte meinen, das könne nicht schwer sein. Ein Buchhändler lebt davon, viele Bücher im Laden zu haben.

Das Problem ist erstens, dass jeder Buchhändler kistenweise Verlagsvorschauen zugeschickt bekommt. In Deutschland erscheinen jedes Jahr 100.000 Bücher. Niemand bekommt die alle ins Regal. Und zweitens gibt es nichts, was Buchhändler so hassen wie Bücher, die ihnen niemand abkauft. Also überlegt sich jeder Händler genau, welche Bücher er bestellt und wie viele davon.

In den Vorschauen von Droemer Knaur ist jedes Buch abgebildet, das der Verlag im Herbst herausbringt. Es sind 320. Krimis sind dabei, Ratgeber, Lebensgeschichten, politische Sachbücher. Neben jedem Buch: ein paar Zeilen zum Inhalt und zum Autor, ein Foto, je nachdem, wie viel Platz ist.

Andre Agassi ist dabei, mit Open . »Das sensationelle Selbstporträt, unerwartet offen und umwerfend gut geschrieben«, steht daneben. Agassi hat vier Seiten in der Vorschau.

Sabine Kuegler ist dabei, mit Jägerin und Gejagte . Es ist ihr drittes Buch, nach Dschungelkind und Ruf des Dschungels . »Die Fortsetzung des Weltbestsellers – Kinofilm bereits in Produktion«, heißt es. Kuegler hat zwei Seiten.

Die Konferenz dauert zwei Tage. Am Vormittag des zweiten Tages sagt die Marketingleiterin: »Wir machen weiter mit Dick, doof und arm?. «

Friedrich Schorb hat eine Seite. Der Umschlag seines Buches ist abgebildet, so wie er geplant ist. Er ist rot, eine beliebte Farbe für politische Sachbücher. Grün steht eher für Umweltthemen, gelb für seriöse Wissenschaft.

Die Schrift ist weiß. Der Untertitel soll lauten: Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert . Daneben steht etwas von der Pharmaindustrie und der Politik. Ein paar biografische Zeilen erklären, wer Friedrich Schorb ist.

Eine Frau aus dem Vertrieb meldet sich. »Ganz ehrlich: Wenn ich das lese, stellen sich bei mir sämtliche Haare auf. Dick. Doof. Arm. Drei negative Wörter, das geht gar nicht.«

Es ist einen Moment still, dann entspinnt sich eine Diskussion, es geht hin und her, bis Verlagschef Übleis das Wort ergreift. »Ich finde den Titel absolut richtig.« Er habe das Manuskript gelesen, hochinteressant. Übleis zeigt auf seinen Bauch, er sagt: »Zum Beispiel habe ich gelernt, dass Fettleibigkeit je nach Land unterschiedlich definiert wird. In Amerika wäre ich gar nicht dick.«

Lautes Lachen, es widerspricht niemand mehr. Die Runde beschließt, die Umschlagfarben auszutauschen, die Schrift soll rot werden, der Hintergrund weiß, das wirke seriöser. Die Sachbuchleiterin sagt, sie sei überzeugt von dem Buch, »ein Klassethema zur rechten Zeit«, jemand erwidert, das müsse man in die Vorschau schreiben. »Es muss rein, dass das Thema aktuell ist, dass es ein Medienthema ist.«

Später wird in der Vorschau neben Friedrich Schorbs Buch stehen: »Das Buch zur aktuellen Übergewichts-Debatte.«


7. Kapitel: Kenia

Die erste Rate des Honorars hat der Verlag vor Monaten überwiesen, jetzt trifft die zweite ein. Noch mal 4000 Euro. Friedrich Schorb hatte nie so viel Geld auf dem Konto. Zeit hat er auch wieder. Er könnte sich an seine Doktorarbeit setzen, aber er will sich belohnen für das Buch. Mit einer Fernreise.

Schorb fliegt für drei Wochen nach Kenia. Kostet nur 500 Euro im Moment. Seine frühere Freundin, eine Psychologin, mit der er sich noch immer gut versteht, kommt mit. Gemeinsam gehen sie auf Safari. Mit dem Fahrrad, das ist billiger als mit dem Jeep. Sie sehen Warzenschweine, Giraffen und Flusspferde. Am Schluss liegen sie ein paar Tage am Strand. Die Sonne im Gesicht, versucht Schorb, nicht an das Buch zu denken. Er hat noch keine Antwort von der Lektorin. Er weiß nicht, ob ihr das Manuskript gefällt. Ob er es umschreiben muss. Ob es dann noch sein Buch wäre, obwohl sein Name daraufsteht. Seine Freunde fanden den Text klasse. Wird schon klappen, denkt Schorb.

Am 1. April, zurück in Berlin, findet er eine E-Mail in seinem Postfach. Die Lektorin. Sie schreibt: »Ich bin sehr begeistert von Ihrem Text, er hat meine ohnehin schon hohen Erwartungen noch übertroffen!«

Friedrich Schorb hängt ein grün-orange gemustertes Tuch in seinem Zimmer auf, ein Mitbringsel aus Kenia. Es läuft alles so, wie er es erhofft hat.


8. Kapitel: Linke. Und Rechte

Es gibt viele Gründe, sich über Deutschland aufzuregen. Zum Beispiel, dass die Reichen so wenig Steuern zahlen. Dass die Reichen so viel Steuern zahlen. Dass die Kinder so unverschämt zu ihren Eltern sind. Dass die Eltern so unverschämt zu ihren Kindern sind.

Oder dass alle auf den Dicken herumhacken.

Aufregung ist eine Ware. Man kann Geld mit ihr verdienen. Indem man den Leuten, die sich aufregen wollen, Argumente liefert, Fakten, Formulierungen, die ihnen das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Indem man ihnen Bücher verkauft.

Schorb ist Wissenschaftler. Er sieht sich nicht als jemand, der Aufregung verbreitet, sondern als jemand, der eine Ungerechtigkeit entdeckt hat und nun helfen will, sie zu beseitigen. Er hofft, dass er auch diejenigen überzeugen kann, die gerne an den Dicken herummäkeln.

Aber wollen die das lesen?

Vor fünfzig Jahren wertete der amerikanische Kommunikationsforscher Joseph Klapper mehrere Hundert Untersuchungen zur Wirkung politischer Texte aus. Er stellte fest: Menschen lesen am liebsten, was sie in ihrer Meinung bestärkt. Die Linken lesen Linkes. Die Rechten lesen Rechtes. Sie können gar nicht genug davon kriegen.

Im Spätsommer 2009 bringt Droemer die Bücher Meinungsmache von Albrecht Müller und Das Maß der Gerechtigkeit von Paul Kirchhof heraus. Müller betreibt das linke Weblog NachDenkSeiten und ist heftiger Kritiker von Hartz IV. Kirchhof ist ehemaliger Verfassungsrichter und Befürworter einer wirtschaftsliberalen Steuerpolitik. Hätte Schwarz-Gelb schon 2005 die Wahl gewonnen, wäre er Minister geworden. Beide Bücher verkaufen sich ziemlich gut. Bei ziemlich unterschiedlichen Leuten.

Bücher funktionieren ähnlich wie politische Parteien. Es geht weniger darum, die Gegenseite zu überzeugen, das ist schwer, die Zahl der Wechselleser ist gering. Erfolgreich sind die Titel, die im Alltag so gegenwärtig sind wie die Plakate vor dem Wahltag. Damit Schorb Erfolg hat, muss sein Buch in den Buchhandlungen auf den Stapeln liegen. Es muss in Zeitungen, im Fernsehen diskutiert werden. Das Buch muss seine Zielgruppe erreichen.


9. Kapitel: Der Buchladen

Sie sitzt fast jeden Tag im Auto. 40.000 Kilometer fährt sie im Jahr, kreuz und quer durch das südliche Nordrhein-Westfalen. Wenn sie nicht fährt, redet sie. Sie versucht, möglichst viele Bücher von Droemer Knaur zu verkaufen.

An diesem Morgen ist die Verlagsvertreterin ins Bergische Land gefahren. Das Dorf heißt Much. Nicht weit von der Kirche steht ein Fachwerkhaus mit weißem Schild an schmiedeeiserner Stange. Eine Buchhandlung, eine von 4000 in Deutschland, eine der kleinsten.

Die Verlagsvertreterin betritt den Laden. Zwischen Krimis und Kochbüchern steht die Buchhändlerin. Eine fröhliche Frau mit blauen Jeans und einer Brille mit blauem Gestell. Sie erzählt der Vertreterin, sie sei kürzlich an der Hüfte operiert worden. Die Kunden hätten ihr Genesungswünsche ins Krankenhaus geschickt, eine habe sie sogar zum Eisessen eingeladen.

»Das ist das Schöne hier auf dem Land«, sagt die Verlagsvertreterin.

Sie schlägt die Vorschau auf und zeigt auf ein schwarzes Buch mit rot-gelber Aufschrift: »Als Erstes möchte ich mit Ihnen über Alterra reden.«

Das ist ein Buch, in dem Blitze zucken und Schlangen züngeln. Fantasy. Zurzeit wollen das viele Leute lesen. Weil es zurzeit viele Leute gibt, die womöglich links sind oder rechts, aber lieber ein paar Stunden von Drachen träumen, als sich über etwas aufzuregen. Dank dieser Leute haben amerikanische Vampir-Romane die ersten Plätze der Bestsellerliste erreicht. Als Reaktion hat Droemer Knaur eine Fantasy-Reihe aufgelegt.

»Das nehme ich«, sagt die Buchhändlerin.

Sie nimmt auch Kuegler, die Dschungelfrau. Sie nimmt Agassi, dreimal, »ist ja ein hübscher Kerl«, dann kommt die Vertreterin zu Seite 26 der Vorschau. Dick, doof und arm? .

Sie sagt: »Das ist ein sehr provokanter Titel, da steckt aber viel dahinter. Der Autor räumt mit den ganzen Vorurteilen übers Übergewicht auf, heute gibt’s ja in jeder Apotheke Kapseln zum Abnehmen, und alle wollen uns einreden, wir seien zu dick. Der Autor beweist, dass das Unsinn ist.«

Die Buchhändlerin überlegt. Dann sagt sie: »Das nehme ich auch.«

Später wird die Verlagsvertreterin sagen, dass sich das Buch sehr ordentlich verkaufe, gerade auf dem Land.

Es sieht gut aus für Friedrich Schorb.


10. Kapitel: Das Kaufhaus

Früher war das in Deutschland so: In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es kleine Lebensmittelläden, dort bekamen die Leute, was sie brauchten. Dann kamen die Supermarktketten, und die Läden verschwanden.

Später kamen die Buchkaufhäuser.

An der einen Seite des Tisches sitzen sieben Frauen im Kostüm und zwei Männer im Anzug.Sie arbeiten für die Buchhandlung Hugendubel in München, aber sie beraten keine Leser. Sie analysieren Umsatzzahlen, sie beobachten den Markt. Der eine ist Experte für Sach- und Fachbücher, die andere für Kinderbücher oder Ratgeber. Sie kennen den Buchmarkt wie Aktienhändler die Börse.

Es sind die Mitarbeiter der Einkaufsabteilung. Sie entscheiden, welche Bücher die Firma Hugendubel mit ihren 37 Filialen in ganz Deutschland in großer Zahl in die Läden stellt.

Auf der anderen Seite des Tisches sitzt eine junge Frau von Droemer Knaur. Sie ist eine Key-Account-Managerin. Sie verkauft Bücher, so wie die Verlagsvertreterin. Aber sie betreut nicht ein paar Hundert kleine Kunden, sondern zwei große. Einer ist Hugendubel. Weil Hugendubel für Droemer Knaur so wichtig ist.

Heute läuft fast jedes zweite Buch, das Droemer Knaur verkauft, über eine der großen Buchhandelsketten. Wenn Dick, doof und arm? auf dem Land Gefallen findet, ist das ein erster Schritt. Ein echter Erfolg wird das Buch aber nur, wenn Hugendubel oder Thalia es bestellen.

Wenn die Key-Account-Managerin Bücher verkauft, redet niemand von Hüftoperationen. Es geht ums Geschäft. Sie stellt Kuegler vor, dann Agassi, dann kommt sie zu Schorb. Sie sagt »provokanter Titel«, »spannende Thesen«, »ungewöhnliche Argumente«. Sie hat eine halbe Minute Zeit. Dann ist das nächste Buch dran.

Die Einkäufer hören sich das an. Als sie wieder allein sind, besprechen sie, welche Bücher sie kaufen. Von Kueglers Jägerin und Gejagte bestellen sie mehrere Tausend, von Agassis Open etwas weniger. Nachbestellen kann man immer. Und von Dick, doof und arm?

»Negativ klingender Titel«, sagen sie. »Unbekannter Autor, unklare Zielgruppe.« Das Buch zur aktuellen Übergewichtsdebatte? »Welche Debatte? Es gibt keinen aktuellen Anlass.«

Sie bestellen es gar nicht.

In jeder Hugendubel-Filiale stehen lange Regale mit Büchern, deren Umschlag man nicht sieht. Man sieht nur den Rücken. Natürlich kann man die Bücher herausnehmen und anschauen, aber das macht kaum jemand. In den Filialen der Buchhandelsketten haben die Regale die Funktion einer Tapete. Sie sind der Hintergrund für die Tische.

Jägerin und Gejagte wird bei Hugendubel stapelweise auf den Tischen liegen. Open ebenfalls. Womöglich wird es eigene Kuegler-Tische geben oder Agassi-Tische. Die Leute werden zu Tausenden daran vorbeigehen. Sie werden in den Büchern blättern. Sie werden sie kaufen. Von Friedrich Schorbs Buch werden sie nicht einmal wissen, dass es existiert.


11. Kapitel: Das Buch des Monats

Am 19. Juni sitzt Friedrich Schorb im ICE nach Bremen. Er hat einen kleinen Lehrauftrag an der Universität, er wird ein Seminar halten. Er hat Fachbücher dabei. Als es nichts mehr vorzubereiten gibt, greift er zu diesem Heft. Es liegt im Zug herum, an jedem Platz. Es heißt DB mobil .

Schorb blättert ein wenig darin herum. Er stößt auf den Vorabdruck eines Thrillers. Splitter von Sebastian Fitzek, erschienen bei Droemer. Sechs ganze Seiten, nur dieses Buch.

Ein solcher Vorabdruck findet sich in jeder Ausgabe von DB mobil . Es sind mal witzige, mal spannende, mal romantische Bücher. Mal vom Rowohlt Verlag, mal von Kiepenheuer & Witsch, mal von S. Fischer. Sie haben nur eines gemein: Alle Bücher aus DB mobil kommen von Verlagen, die (wie auch die ZEIT ) dem Holtzbrinck-Konzern gehören.

Bei der Bahn heißt es: »Wir haben da eine Kooperation geschlossen.« Anders formuliert: Holtzbrinck zahlt, DB mobil druckt, und Thalia und Hugendubel legen das Buch stapelweise auf die Tische. Weil sie wissen, dass die Leute sich jetzt für dieses Buch interessieren.

Damit ein Buch ein Erfolg wird, benötigt es Aufmerksamkeit. Die lässt sich kaufen. Durch bezahlte Vorabdrucke, durch Werbekampagnen. Oder direkt vom Buchkaufhaus.

In allen 240 Filialen von Thalia stehen große Tafeln, auf denen ein bestimmtes Buch abgebildet ist. Das »Thalia-Buch des Monats«. Die Tafeln stehen gleich am Eingang oder an den Kassen, man sieht sie sofort. Man denkt sich, da hat der Verlag aber Glück gehabt, dass den Buchhändlern dieses Buch so gut gefallen hat.

Irrtum. 50.000 Euro koste es, Buch des Monats zu werden, zahlbar an Thalia – sagt der Vertriebsleiter eines lediglich mittelgroßen Verlages und fügt hinzu: »Für uns ist das unbezahlbar.« Eine Thalia-Sprecherin sagt, die 50.000 Euro seien aus dem Zusammenhang gerissen.

Billiger sind kurze Buchpräsentationen in den Prospekten von Thalia oder Hugendubel. Die liegen zum Beispiel großen Tageszeitungen bei. Für jedes abgebildete Buch zahlt der Verlag mehrere Tausend Euro. Dafür stapeln sich diese Bücher dann ebenfalls auf den Tischen. Jeder Kunde bekommt sie zu sehen.

Auch der Verlag Droemer-Knaur hat einigen Buchtiteln auf diese Weise Aufmerksamkeit verschafft. Dick, doof und arm? ist nicht dabei.

Friedrich Schorb ahnt nichts von diesen Geschäften. Er kennt die Gesetze der Branche nicht. Der Verlag hat ihm einen kleinen Termin auf der Frankfurter Buchmesse reserviert. Gleich am ersten Tag um 16 Uhr wird er am Stand von Droemer Knaur über sein Buch reden. Ein Moderator wird ihm Fragen stellen. Schorb hofft, er werde dann den Blick der Öffentlichkeit auf sein Buch lenken können. Er war noch nie auf der Messe. Er ist ein wenig aufgeregt.


12. Kapitel: Dicke Lügen

Ende Juni, der Buchhandel hat bisher nicht einmal tausend Exemplare von Dick, doof und arm? bestellt. Auch Thalia hat abgelehnt. Es ist schon vorgekommen, dass geschriebene Bücher nicht gedruckt wurden, weil zu wenige Buchhändler sie haben wollten.

Bei Droemer Knaur in München setzen sich die Vertriebsleiter und die Key-Account-Manager zusammen. Telefonisch zugeschaltet sind die Verlagsvertreter aus allen Ecken der Republik. Sie sprechen über den bisherigen Verkauf der Herbstbücher. Es geht darum, was man besser machen kann.

Als Dick, doof und arm? an der Reihe ist, meldet sich ein Vertreter zu Wort. Er glaubt, der schwache Verkauf liege am Titel. Er fragt, ob man das Buch nicht doch Dicke Lügen nennen sollte, das klinge weniger negativ. Der Vorschlag war ganz am Anfang in einer Besprechung aufgetaucht.

Schon öfter wurden Buchtitel kurz vor Druck geändert. Aber es kostet Geld, es ist ein Risiko, soll man das eingehen?

Der Verlag entscheidet sich dagegen. Andere Bücher verkaufen sich gut. Kuegler, Agassi. Es läuft schlecht für Friedrich Schorb, nicht für Droemer Knaur. Der Verlag hat es durchgerechnet: Weil Schorbs Honorar vergleichsweise niedrig ist, muss sich das Buch nur 5000-mal verkaufen. Das könnte zu schaffen sein, dann würde sich für den Verlag das Geschäft lohnen.


13. Kapitel: Die letzte Hoffnung

5. Oktober, Dick, doof und arm? erscheint, und alles kommt anders als erwartet. Die Redaktion der Talkshow Beckmann wird auf Schorb aufmerksam. Sie braucht ein Thema, die Bundestagswahl ist vorbei, die Wirtschaftskrise weniger schlimm als befürchtet, warum nicht über die Lüge vom Übergewicht diskutieren?

Reinhold Beckmann holt Schorb in die Sendung. Er stellt Fragen, er erwähnt sein Buch. Schorb wirkt sympathisch. Nicht so trainiert wie die üblichen Talkshowgäste. Ein neues, ein nettes Gesicht. Am nächsten Tag gehen die Leute in die Läden und fragen nach Dick, doof und arm?.

Etwas in der Art müsste passieren. Dann könnte Schorb noch zum Bestsellerautor werden.

Die Presseabteilung des Verlages Droemer Knaur hat 1500 Journalisten von Fernsehen, Radio, Zeitungen und Magazinen angeschrieben, angemailt, angerufen. Sie hat für Schorbs Buch geworben. Ein paar Interviews sind schon vereinbart, die wichtigsten Tageszeitungen und Wochenblätter haben Dick, doof und arm? bestellt, 169 Journalisten insgesamt. Aber das heißt nicht, dass sie das Buch lesen. Wenn doch, bedeutet es nicht, dass sie darüber schreiben. Wenn doch, macht eine Buchbesprechung in drei, vier Zeitungen keinen Bestseller. Das sehen zu wenige Leute. Es müssten reihenweise Artikel erscheinen, das Fernsehen müsste einsteigen, die Talkshows.

Das ist die letzte Hoffnung.


14. Kapitel: Der braune Umschlag

Als Friedrich Schorb am Nachmittag des 16. September nach Hause kommt, ist er guter Dinge. Er hat wieder eine Stelle an der Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er wird ein Seminar zur Einführung in die Soziologie halten, an seiner Doktorarbeit weiterschreiben, ein Büro haben. Er wird nicht in Hartz IV rutschen.

Auf dem Tisch liegt ein brauner Umschlag, die Post. Unten rechts steht sein Name, oben links Droemer Knaur. Er ahnt, was drin ist.

Friedrich Schorb hält sein Buch in der Hand. Er sieht seinen Namen auf dem Titel, sein Foto neben dem Klappentext. Er ist stolz. Er fährt mit dem Finger über den Umschlag, blättert ein wenig, liest seine eigenen Sätze. Es fühlt sich an, als sei dies der Anfang.

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Wolfgang Uchatius


Wolfgang Uchatius, geboren 1970 in Regensburg. Studium der Volkswirtschaftslehre und der Politikwissenschaft in München und Leicester. Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. 1998 bis 1999 freier Journalist in Berlin. Seit Anfang 2000 bei der ZEIT in Hamburg, erst als Wirtschaftsredakteur, seit 2007 als ressortunabhängiger Reporter. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Herbert-Riehl-Heyse-Preis und Deutscher Reporterpreis.
Dokumente
Dick, doof und arm

erschienen in:
Die ZEIT,
am 08.10.2009

 

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