Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
„Ich
will’s wiederhaben“
Bis zur
Niederkunft wusste sie nicht, dass sie schwanger war. Vielleicht
wollte sie es auch nicht wissen. Die Geschichte einer 25-Jährigen,
die ihr Neugeborenes in der Stuttgarter Babyklappe abgegeben hatte -
und es ein paar Tage später zurückholte.
Von Katrin Blum,
Stuttgarter Zeitung, 08.06.2010
Draußen war es
kalt. Laura fror nicht. Vielleicht schneite es sogar in dieser Nacht.
Laura erinnert sich nur an das Kind, das in Handtücher eingewickelt
in ihrem Arm lag und schlief. Es musste weg, da war sie sich sicher.
Einfach nur weg. Ein Kind. Das passte doch nicht in ihr Leben. Nicht
so plötzlich, und schon gar nicht von diesem Mann.
Nun möchte man
meinen, eine Frau habe neun Monate Zeit, sich auf ein Kind
vorzubereiten. Laura, die in Wirklichkeit anders heißt, hatte zwei
Stunden. Selbst in dem Moment als ihre Wehen einsetzten, war ihr
nicht klar, dass sie ein Kind bekommen würde. Sie dachte, die Wehen
seien einfach Bauchschmerzen und dass sie etwas Falsches gegessen
hätte. Als die Wehen stärker und stärker wurden, ging sie ins Bad.
Dort wurde ihr langsam bewusst, was gerade geschah. Sie fing an zu
pressen.
Das Kind kam ohne
Komplikationen. Laura, 25, dachte nur, das kann nicht sein. Da lag
ein Baby - ihr Baby. Es schrie nicht, weinte nicht, es lag nur da.
Laura war geschockt, überfordert und dann wieder völlig klar. Sie
machte einen Knoten in die Nabelschnur, schnitt sie durch, wickelte
das Kind in Handtücher und rief einen Freund an. Er solle im
Internet nach einer Babyklappe schauen und sie hinbringen, sagte sie
ihm. Es war ein Uhr nachts.
Eine Stunde später
fuhren sie in den Hof des Weraheims im Stuttgarter Westen. Auf einmal
war die Angst da: „Was ist, wenn mich jemand sieht? Was ist, wenn
die das Kennzeichen notieren, wenn man mich festhält, mir Vorwürfe
macht?“ Laura stieg aus, das Kind im Arm. Neben dem Haus sah sie
die Klappe. Sie war nur schwach beleuchtet. „Liebe Mutter“, stand
da, „wenn Sie diese Klappe geöffnet haben, können Sie Ihr Kind in
ein Babybett legen. Wir werden Ihr Kind gut versorgen. Wir
versprechen Ihnen vollkommene Anonymität. Weitere Informationen
befinden sich in der Klappe.“
Laura las nichts
davon. Sie zögerte nicht mehr. Klappe auf, Kind rein, Klappe zu.
Fertig. Als Laura sich umdrehte, fing das Kind an zu weinen. Zu dem
Freund sagte sie, er solle sie schnell wegfahren. Zu irgendeinem
Parkplatz. Dort zündete sie sich eine Zigarette an. „Ich dachte,
es ist alles in Ordnung.“ Der Freund brachte sie nach Hause. „Ich
bin erst morgens um sechs eingeschlafen und hab gedacht, dass ich das
als Albtraum abstempeln, es irgendwie ausblenden kann.“
Sie wollte
vergessen, was sie sich selbst nicht erklären konnte. Wie konnte es
sein, dass sie ein Kind in sich trug und nichts davon merkte? Ihre
Periode hatte sie regelmäßig gehabt und vielleicht zwei Kilo
zugenommen. Heute glaubt sie: „Der Kleine hat sich versteckt. Er
ist kaum gewachsen, weil er wusste, dass er nicht sein darf.“
Es hatte eine Zeit
gegeben, in der Laura in den Vater ihres Sohnes verliebt gewesen war.
Er hatte sie abends in einer Bar angesprochen. Er war nett. Laura
traf sich wieder mit ihm, und sie wurden ein Paar. „Der erste Monat
war perfekt, dann haben die Psychospielchen angefangen. Er hat
ständig angerufen, wusste immer, wo ich bin.“ Er habe Freunde von
ihm beauftragt, sie zu beobachteten, sagt sie: beim Einkaufen, bei
der Arbeit, beim Ausgehen. Er wollte sie heiraten, sie wollte ihn
erst mal kennenlernen. Und je mehr sie das tat, desto fester war sie
davon überzeugt, dass er nicht der Richtige war. Sie trennte sich,
er akzeptiere das nicht. Sie gab ihm eine Chance, „doch er hat
gelogen, gelogen, gelogen“. Als er anfing grob zu werden, trennte
sie sich endgültig. „Dann hat er mir gedroht und meinen Eltern
auch.“ Laura wollte ihn nie wieder sehen. Das will sie bis heute
nicht.
Am Abend nach der
Geburt ging Laura mit Freunden aus, um auf andere Gedanken zu kommen.
Sie sagte sich, sie sei gerade nicht in der Verfassung, ein Kind
großzuziehen. Sie liebte ihre Freiheit. Natürlich wollte sie
irgendwann Kinder haben, aber viel später mit dem richtigen Partner.
Mit dem Freund, der
sie zur Babyklappe gefahren hatte, sprach sie zwei Tage kein Wort.
Dann rief sie ihn an. „Wir haben es schöngeredet. Ich hab ihm
gesagt, dass ich keine Mama sein kann, dass ich die Verantwortung
nicht übernehmen kann, dass es einfach nicht geht.“ Vielleicht
glaubte sie das selbst nicht. Vielleicht war ihr irgendwann doch
klar, dass es jetzt zu ihrem Leben gehörte, Mutter zu sein. Denn
anstatt ihre Freiheit zu genießen, hörte Laura auf zu essen und
fing an zu weinen - stundenlang. „Ich hab mir vorgestellt, wie ich
jeden Tag an den Kleinen denke und mich mein Leben lang frage, was er
macht und wie er heißt.“ Sollte sie anrufen? Sollte sie sagen,
dass sie die Mutter des Kindes ist und es sehen möchte? „Ich
dachte, dass ich dann irgendwie verurteilt werde oder dass mir jemand
blöd kommt und sagt: , Wie kannst du nurʻ.“
Eine Mutter, die ihr
neugeborenes Kind im Wärmebettchen der Babyklappe ablegt, hat acht
Wochen Zeit, es wieder zu sich zu holen. In dieser Zeit wird es von
einer Pflegefamilie versorgt. Ist die Frist abgelaufen, wird eine
Adoption eingeleitet. Spätestens nach einem Jahr ist das Verfahren
rechtsgültig, dann hat die leibliche Mutter keine juristischen
Ansprüche mehr auf das Kind. Ein Kontakt ist dann nur möglich, wenn
die Adoptiveltern auch damit einverstanden sind.
Laura brauchte fünf
Tage. Dann wählte sie die Nummer des Mutter-Kind-Heims. Eine Frau
nahm ab. „Ich hab am Donnerstag mein Baby in die Babyklappe gelegt,
und ich will’s wiederhaben“, sagte Laura. Die Frau am anderen
Ende antwortete nicht: „wie können Sie nur“, die Frau freute
sich.
Die Stuttgarter
Babyklappe gibt es seit acht Jahren. 19 Frauen haben während dieser
Zeit ihr Kind dort abgegeben. Sechs wollten es, wie Laura, wieder
zurück. Weil eine DNA-Analyse zu teuer ist, wird die Mutterschaft
auf eine andere Weise festgestellt. Laura musste zuerst alles so
genau wie möglich beschreiben: wie das Kind aussah, was es angehabt
und wann sie es in die Klappe gelegt hatte. Dann ging sie zum
Frauenarzt, der untersuchte, ob sie auch wirklich ein Kind geboren
hatte. Er stellte ihr eine Bescheinigung aus.
Am selben Tag, an
dem Laura offiziell Mutter wurde, veröffentlichte der Deutsche
Ethikrat eine Stellungnahme, die den Titel trug „Das Problem der
anonymen Kindesabgabe“. Darin werden nicht nur ethische, sondern
auch rechtliche Bedenken beschrieben. So würde dem Kind etwa das
Recht auf Kenntnis seiner Herkunft verweigert, und die Eltern würden
ihrer Fürsorge- und Unterhaltspflicht nicht nachkommen. Der Rat
empfahl am Ende, die Klappen aufzugeben und legale Hilfsangebote zu
verstärken. Das Bundesfamilienministerium gab etwa zur gleichen Zeit
ein Forschungsprojekt in Auftrag, um Sinn und Wirkung von Babyklappen
zu ermitteln. Ergebnisse werden für Mitte 2011 erwartet,
Gesetzesänderungen sind vorerst nicht geplant.
Laura bekam von
alldem nichts mit. Sie stand zwei Tage nach ihrem Anruf beim
Kinderheim zitternd in der Intensivstation einer Klinik, in der ihr
Sohn lag, weil er leicht unterkühlt und untergewichtig gewesen war.
Lauras Herz klopfte, sie hatte Tränen in den Augen. Dann durfte sie
ihn in den Arm nehmen: „Es war schön und komisch, weil ich nicht
gleich glauben konnte, dass er mein Kind war“, sagt sie. Eine
Sozialarbeiterin vom Jugendamt sagte ihr, welcher Name ihrem Sohn
gegeben worden war: Benjamin. Laura hätte ihn ändern können. Aber
Benjamin blieb Benjamin.
Die Sozialarbeiterin
sagte Laura auch, was sie jetzt alles machen müsse, solle und könne.
Die beiden, so ihr Vorschlag, sollten erst mal in das
Mutter-Kind-Heim ziehen, weil Laura ja nichts für das Baby hatte,
weder ein Bett noch einen Kinderwagen noch irgendwelche Kleider.
Laura stimmte zu. Zu ihren Eltern wollte sie nicht zurück. „Das
hat aber nichts mit meiner Beziehung zu ihnen zu tun“, sagt sie,
und ihre Stimme wird lauter. „Die Leute sagen immer, wenn sich eine
Frau nicht anders zu helfen weiß, als ihr Kind in die Babyklappe zu
legen, muss sie ja aus schwierigen Verhältnissen kommen.“ Lauras
Eltern sind seit 30 Jahren verheiratet, Angestellte, haben zwei
Kinder. „Mir hat es nie an etwas gefehlt. Meine Eltern haben mir
alles ermöglicht und mir immer geholfen. Immer.“ Auch jetzt. Doch
zurück wollte Laura nicht.
Ihre Stimme zittert,
wenn sie über die erste Zeit mit Benjamin spricht. Lauras Stimme
zittert sonst nie. Sie versucht immer, die Kontrolle zu behalten,
aber manchmal fällt es ihr schwer: „Ich durfte Benni nicht aus dem
Krankenhaus holen. Das war schlimm.“ Er war zu schwach. Als sie ihn
endlich bei sich hatte, wusste sie erst nicht, wo sie ihn anfassen
sollte, ohne etwas kaputt zu machen, „so klein und so dünn war
er“.
Benni ist immer noch
klein und dünn. Er ist ein ruhiges Kind und blond wie Laura. Wenn
Benni weint, weiß Laura inzwischen gleich, was ihm fehlt. Und er
will immer oben sein. Sobald er liegt, beschwert er sich. Dann nennt
sie ihn „kleine Motzkuh“. „Selbst wenn er müde ist, hält er
die Augen offen und guckt, ob ich noch da bin“, sagt Laura. Ihr ist
es egal, ob ihr jemand glaubt, dass sie von ihrer Schwangerschaft
nichts wusste. Mittlerweile ist es ihr auch egal, was andere darüber
denken, dass sie ihr Kind in die Babyklappe gelegt hat. „Ich bin
froh, dass ich so reagiert hab. Dass ich in dem Schock noch so
handeln konnte, dass ich gesagt hab, ich geb das Kind da hin und
schmeiß es nicht weg.“
Aus dem
Mutter-Kind-Heim will sie so schnell wie möglich ausziehen. Obwohl
sie froh über das Heim und die Klappe ist, gibt es hier nach ihrem
Empfinden zu viele Verpflichtungen, etwa die „Aufarbeitung der
nicht bemerkten Schwangerschaft“. „Ich muss da nichts
aufarbeiten“, sagt Laura, „ich rede mit meiner Familie. Das
reicht mir. Vielleicht brauch ich’s in zehn Jahren mal. Aber ich
muss nach meinem Kind gucken. Es bringt nichts, jetzt in meiner
Vergangenheit stochern zu lassen.“
Laura wird ihr neues
Leben ohne Bennis Vater leben. Wenn ihr Sohn einmal groß ist, will
sie ihm nicht erzählen, wie sein Leben angefangen hat. Sie hat
Angst, dass er einmal denken könnte, sie habe ihn nur zurückgeholt,
um ihr schlechtes Gefühl zu beruhigen. „Ich glaube, ich würde ihm
damit mehr schaden als Gutes tun.“ Vielleicht würde er dann ja
auch abhauen, sie nicht mehr lieben. Aber das sind Spekulationen.
„Benni ist jetzt auf der Welt“, sagt Laura, „und er ist bei
seiner Mutter und fertig.“
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