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Volker ter Haseborg „Er wollte so gern ein Deutscher sein

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Er wollte so gern ein Deutscher sein

Binnen kurzer Zeit begingen in Norddeutschland drei Abschiebehäftlinge Selbstmord. Einer war der Armenier Slawik C. Elf Jahre lebte er in Jesteburg, war fleißig und beliebt. Warum sollte er das Land verlassen, warum hat er sich erhängt? Eine Spurensuche


Von Volker ter Haseborg, Hamburger Abendblatt, 21.07.2010


Am Abend, gegen 18.50 Uhr, hat die Gefängnisleiterin noch mit ihm gesprochen. "Machen Sie keine Dummheiten", sagte sie zu ihm. "Nein, ich will leben. Ich habe doch eine Enkeltochter", antwortete er, lächelte und ging auf seine Zelle.

Fünf Tage später sollte Slawik C. nach Frankfurt gebracht werden. Dort hätte man ihn in ein Flugzeug nach Moskau gesetzt. Auch den Anschlussflug in die armenische Hauptstadt Eriwan hatten die deutschen Behörden für Slawik C. gebucht.

Slawik C. ist nie nach Eriwan gestartet. Am Abend des 2. Juli hat er sich mit dem Stromkabel eines Wasserkochers am Fenstergitter seiner Zelle erhängt. Es war schon der dritte Suizid von Abschiebehäftlingen aus der Metropolregion Hamburg in diesem Jahr. Im März hatte sich im Gefängniskrankenhaus am Holstenglacis ein Georgier erhängt, im April eine Indonesierin in der JVA Hahnöfersand.

Slawik C. wurde 58 Jahre alt. Er hinterlässt seine 55-jährige Frau Asmik, seinen 28-jährigen Sohn Samwell, der verheiratet ist und eine zweijährige Tochter hat.

Die Familie C. bewohnt eine Doppelhaushälfte aus Backstein in Jesteburg, einem Ort mit Fachwerkhäusern und verträumten Alleen. Von außen betrachtet, sieht die Lebenswelt der Familie aus wie die einer typisch deutschen Familie im Hamburger Speckgürtel. Im Garten, vor dem Gewächshaus, flattert eine Deutschland-Fahne im Wind.

Die Gardinen im Wohnzimmer sind zugezogen. Asmik C. hat dunkle Ringe unter den Augen. Sie trägt auch zwei Wochen nach dem Tod ihres Mannes schwarze Kleidung. Sie erzählt, wie sehr ihr Slawik Deutschland geliebt hat. "Wenn er beim Essen einen Toast aussprach, hat er immer gesagt: ,Ich trinke auf Deutschland'", sagt sie und weint. Sie schaut auf das Porträtbild neben dem Sofa: Slawik C. trägt auf dem Foto einen grauen Anzug und eine dunkelgelbe Krawatte, er lächelt. Sein Sohn Samwell hat die Augen seines Vaters. Die zweijährige Enkeltochter spielt im Wohnzimmer, sie lacht, schreit fröhlich. Sie versteht noch nicht, dass ihr Opa nicht mehr lebt.

Am 15. August 1999 waren Slawik, Asmik und Samwell C. illegal auf einem Lkw nach Deutschland eingereist. Sie kamen aus Aserbaidschan, sagt Samwell C., sie gehörten dort zur verfolgten armenischen Minderheit. "Dort herrscht Krieg. Immer noch", sagt Samwell C.

Nach ihrer Ankunft stellten sie ihren Asylantrag, der Antrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unbegründet abgelehnt. Die Familie klagte vergeblich dagegen, seit 2003 war sie rechtlich dazu verpflichtet, Deutschland zu verlassen. Doch solange ihre Identität nicht geklärt war, mussten sie geduldet werden. Sie habe keine Pässe, weil sie als Verfolgte in Aserbaidschan keine bekommen hätten, sagt die Familie. Sie hätten keinen Pass, weil sie ihre Identität verschleiern wollten, um sich länger in Deutschland aufzuhalten, sagten die deutschen Behörden und stellten Strafanzeige gegen Slawik und Asmik C.

Abgelehnte Asylbewerber können nur abgeschoben werden, wenn das Heimatland die Identität der Geflüchteten bestätigt und ein Reisepassersatz angefertigt werden kann.

Das Verfahren zog sich hin, als geduldete Flüchtlinge bekamen sie die Doppelhaushälfte in Jesteburg als Unterkunft, dazu ein wenig Taschengeld, Lebensmittelmarken. Die Familie integrierte sich schnell: Alle drei lernten Deutsch, Samwell machte den Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss, eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Im August tritt Samwell seine erste Stelle an. Er hat eine Niederlassungserlaubnis bekommen, die ihn vor der Abschiebung schützt. Die Behörde erklärt das damit, dass ein Bruder von Samwell von der aserbaidschanischen Armee zwangsrekrutiert worden und dort unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Es sei zu befürchten, dass Samwell dasselbe Schicksal drohe.

Slawik C. war in seiner Nachbarschaft beliebt. Weil er so fleißig war und jedem half. Er machte sich im Garten der Nachbarn nützlich, er spielte Gitarre in der Kirchengemeinde, er half ehrenamtlich in der Jesteburger Kleiderkammer und baute Gartenzäune vor Gemeindewohnungen. Er wollte etwas tun, denn eine Arbeitsstelle war ihm verwehrt: kein Pass, keine Arbeitserlaubnis. In seinem Garten steht das Gewächshaus, in dem er Tomaten züchtete. Daneben hat er die Deutschland-Fahne angebracht.

Doch dieses Land wollte ihn nicht. Monat für Monat musste das Ehepaar C. im Kreishaus von Winsen erscheinen und sich in Gebäude A den Duldungsstatus verlängern lassen.

So auch am 28. Juni 2010, es war ein Montag. Gemeinsam ging das Ehepaar C. zur Ausländerbehörde. Die Verlängerung fand immer im Erdgeschoss statt. "Aber an diesem Tag hieß es: ,Sie sollen nach oben'", sagt Asmik C. In dem Zimmer wurde Slawik C. eröffnet, dass Armenien seine Staatsbürgerschaft bestätigt habe, dass es einen Passersatz gebe und dass er jetzt abgeschoben werde. Polizisten nahmen ihn mit, er wurde nach Langenhagen gebracht, in Abschiebehaft.

Die JVA Langenhagen liegt direkt neben der Start- und Landebahn des Hannoveraner Flughafens und besteht aus drei ehemaligen Kasernengebäuden. "Welcome to Hanover" steht auf dem Aufkleber am Besucher-Eingang. Und: "Germany Land of ideas". Deutschland, das Land der Ideen.

Grazyna Brüschke passt nicht zu dem Stacheldraht, den Gittern und den Alarmanlagen hier. Sie trägt eine rosa Bluse, eine randlose Brille, einen Rock, eine elegante Halskette. Die 58-Jährige kam vor 30 Jahren als Spätaussiedlerin aus Polen nach Deutschland, sie studierte hier, heiratete einen Deutschen, wurde Sozialpädagogin und schließlich Chefin der JVA Langenhagen. Sie sagt über die Abschiebehäftlinge: "Ich kann ihre Situation verstehen. Aber verändern kann ich sie nicht."

Grazyna Brüschke will ihr Abschiebegefängnis zeigen. Sie will deutlich machen, dass es nicht an den Bedingungen in ihrem Zuständigkeitsbereich lag, dass sich Slawik C. das Leben nahm. Sie ist schockiert, sagt immer wieder. "Es ist mir ein Rätsel."

Männliche Abschiebehäftlinge sind im Gebäude L1 untergebracht. "Die Gefangenen können sich in ihrem Trakt tagsüber frei bewegen und werden nur nachts eingeschlossen", sagt sie. Von 7 Uhr morgens bis 19 Uhr werden die Zellen geöffnet, die Insassen können miteinander reden, kochen, lesen, Tischtennis spielen, sie dürfen telefonieren. Brüschke tritt auf den Gang, in dem die 35 männlichen Häftlinge untergebracht sind. Mit vielen kann sie Russisch sprechen. Sofort kommen einige Männer auf sie zu, reden vertraut mit ihr. Sie wirkt eher wie eine Mutter als wie eine Knastchefin. Aber sie sagt auch diesen Satz über ihre Gefangenen: "Sie sind hier nicht zur Strafe. Sie sind hier, weil sie Deutschland zu verlassen haben."

Slawik C. saß in Zelle 58, zusammen mit zwei Vietnamesen. Die Zellen sehen alle gleich aus: ein Tisch in der Mitte, links und rechts davon Hochbetten.

"Er war nett, freundlich, angenehm. Er sprach sehr gut Deutsch", sagt Brüschke über ihn. Aber er misstraute den Behörden.

7 Uhr Wecken, 7.30 Frühstück - Brot, Margarine, Marmelade, 12 Uhr Mittagessen, eine Stunde Hofgang am Nachmittag, 17 Uhr Abendessen - Käse, Wurst, Brot, 19 Uhr Nachteinschluss, danach Fernsehen. Das war Slawiks Alltag in der JVA Langenhagen.

Am Mittwoch, 30. Juni, kam es zu einem Zwischenfall. Slawik C. sei ausgerastet, sagt die Gefängnisleiterin. "Er stellte sich ans Fenster und brüllte: Polizei! Polizei!" Als Vollzugsbeamte herbeikamen, habe C. um sich geschlagen. Er schlug gegen die Wände, die Gitter und auch nach Menschen. Zu fünft mussten sie ihn "fixieren" und in einen Haftraum mit Videoüberwachung bringen. Doch so schnell, wie er ausgerastet sei, habe er sich auch wieder beruhigt, sagt Brüschke. "Er hat sich entschuldigt." Am nächsten Morgen durfte er wieder auf seine Zelle, die er fortan allein bewohnte. Die beiden Vietnamesen waren abgeschoben worden.

Am Donnerstag, den 1. Juli durfte Slawik C. Besuch empfangen. Es kamen: ein Freund der Familie, sein Sohn Samwell und die Enkeltochter. Mehr als drei Besucher sind im Besucherraum der JVA nicht erlaubt, seine Frau Asmik musste draußen vor dem Stacheldrahtzaun bleiben.

"Er hatte Wunden an der Hand und an der Schulter", sagt Samwell C. "Die haben mir kein Telefon gegeben", habe sein Vater zu ihm als Begründung für den Ausraster gesagt. Und: "Ist aber nicht so schlimm. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Alles ist in Ordnung hier. Wir werden tagsüber nicht eingesperrt." Samwell holte seinem Vater Süßigkeiten, Kaffee und Cola. Und sie verabredeten, dass Samwell am Dienstag, den 6. Juli wiederkommen sollte. "Bringst du mir ein paar leichte T-Shirts mit?", habe sein Vater noch gefragt. Er sei völlig normal gewesen, überhaupt nicht deprimiert, sagt der Sohn.

Asmik C. konnte ihren Mann nicht sehen, aber hören. Als die Besuchszeit an jenem Tag zu Ende war und ihr Sohn Samwell mit seiner Tochter wieder aus dem Besucherraum ins Freie trat, rief Slawik aus dem Zellenfenster, sagt sie. Und er lachte. "Ich habe ihn gefragt, ob er auch gut isst." Und er habe Scherze über das Essen im Knast gemacht. Dann streckte er seine Arme aus dem Gitterfenster und winkte ihr zu. Sein letztes Lebenszeichen an sie.

Am Freitag, den 2. Juli, untersuchte ein Arzt den Abschiebehäftling C. Alles sei in Ordnung gewesen, sagt Grazyna Brüschke. Dreieinhalb Stunden später war Slawik C. tot. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief.

"Ich möchte nur wissen: Wieso haben die meinen Vater festgenommen? Wieso ist das passiert?", sagt sein Sohn Samwell. "Nach elf Jahren in Deutschland, das geht doch nicht!", ruft er immer wieder. Die Familie hat den Schuldigen schon ausgemacht: das Landkreisamt Harburg. Unterstützung bekommt Familie C. vom niedersächsischen Flüchtlingsrat.

Slawik C. sei freiwillig zur Ausländerbehörde gegangen und habe sich nicht der Abschiebung widersetzt, sagt der Geschäftsführer des Flüchtlingsrats, Kai Weber: "Der Haftbeschluss war rechtswidrig." Und auch das Passersatzpapier, das die Ausländerbehörde zur Abschiebung von Slawik C. beschafft habe, sei zweifelhaft. Der Slawik C. darauf sei ein anderer. "Die Ausländerbehörde hat getrickst", sagt Weber, getrickst mit einem Namensvetter. So erkläre sich Weber auch, dass die Frau von Slawik C. nicht mit abgeschoben wurde.

Die Pressesprecherin des Landkreises Harburg erklärt: "Die Ausländerbehörde hat die gesetzliche Pflicht, die von einer Bundesbehörde (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) unanfechtbar getroffene Entscheidung zu vollziehen." Herr C. sei ein rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber gewesen. Es habe der begründete Verdacht bestanden, "dass sich Herr C. der Haft entziehen würde", deshalb die Festnahme. Den Vorwurf, eine falsche Identität zur Abschiebung genutzt zu haben, bestreitet die Pressesprecherin. "Das Passersatzpapier wurde ausschließlich auf Grundlage der von Herrn C. gemachten Angaben beantragt."

Doch der Landrat des Kreises Harburg, Joachim Bordt, ist nachdenklich geworden. Er frage sich, ob die Umsetzung des Ausländergesetzes so in Ordnung sei, sagt er. Die Verfahren dauerten viele Jahre, "in dieser Zeit sind sehr unterschiedliche Integrationsstufen festzustellen", sagt der FDP-Politiker. "Da es sich immer um Einzelfallentscheidungen mit gravierenden persönlichen Folgen handelt, sollte das Ausländerrecht diesen unterschiedlichen Integrationsverläufen Rechnung tragen können." Bordt spricht von Integration am Wohnort oder ehrenamtlichem Engagement. Er sagt es nicht, aber er meint es: Slawik C., der in Jesteburg integriert und beliebt war, hätte nicht abgeschoben werden dürfen.

Unterdessen droht auch Slawiks Witwe Asmik C. die Abschiebung, in den Akten heißt es, sie sei "ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtig". Das Landratsamt erklärt: "Ob angesichts der tragischen und außergewöhnlichen Umstände dieses Falls ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht ausgesprochen werden kann, ist mit der zuständigen Landesbehörde zu klären."

Warum hat sich Slawik C. umgebracht? Wollte er sich für seine Frau "opfern", damit sie durch seinen Tod in Deutschland bleiben kann?

Die deutschen Beamten hätten ihn in Frankfurt in den Flieger nach Moskau gesetzt. Allein. In Moskau hätte er den Anschlussflug nach Eriwan gar nicht mehr antreten müssen. Er hätte in Moskau abtauchen können. Die Abschiebung war sicherlich das vorläufige Scheitern seines Lebensplans, "eine psychische Katastrophe", wie Kai Weber vom Flüchtlingsrat sagt. Aber reicht das aus für einen Selbstmord?

Grazyna Brüschke, die Gefängnisleiterin, ist immer noch schockiert. "Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er aus meinem Büro herausgeht und lächelt. Er war so stolz auf seinen Sohn und seine Enkeltochter."

Am Sonnabend, den 10. Juli haben sie Slawik C. um 11 Uhr auf dem neuen Friedhof in Jesteburg beerdigt. 200 Menschen gaben ihm das letzte Geleit.

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Volker ter Haseborg


Volker ter Haseborg, geboren 1979 in Hamburg. Studium
(Journalistik, Politik, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) in Berlin, München
und Washington, D.C. Ausbildung zum Redakteur an der Deutschen
Journalistenschule mit den Stationen Associated Press, Bild und Spiegel.
Anschließend von 2006 bis 2008 Politik- und Wirtschaftsredakteur bei der
Abendzeitung in München, danach Reporter für das „Thema des Tages“ bei der AZ.
Seit 2010 ressortunabhängiger Reporter beim Hamburger Abendblatt.
Dokumente
Er wollte so gern ein Deutscher sein

erschienen in:
Hamburger Abendblatt,
am 21.07.2010

 

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