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Konvertiten in
Deutschland: "Der Schleier ist kein Gefängnis", sagt Iman.
Warum die Berlinerin sich für Allah komplett verhüllt
Von Anne Klesse,
Berliner Morgenpost, 16.07.2010
Neulich im Bus
fragte ein kleiner Junge, ob sie ein Ninjakrieger sei. Die Mutter des
Kleinen erklärte ihm mit angestrengt unterdrückter Stimme, die Frau
da sei kein Ninja, sondern ein Tuareg. Die käme aus einer anderen
Kultur und man müsse akzeptieren, dass sie sich anders kleide. Die
Frau, die gemeint war, fand das lustig. Sie lächelte, aber das
konnte niemand sehen. Iman, so nennt sie sich, ist von oben bis unten
verhüllt, nicht ihre Beine sind zu sehen, nicht ihre Hände und auch
nicht ihr Gesicht. Nadine, wie sie in ihrem Personalausweis heißt,
hat vor einiger Zeit ihr früheres Leben beendet und ein neues
begonnen. Sie trägt jetzt den Niqab, den Gesichtsschleier.
Die Verwandlung von
Nadine, der lauten, starken, die von ihren Freundinnen Dini genannt
wurde und rund um die Steglitzer Schlossstraße Kindheit und Jugend
verbrachte, zu Iman, der Frau unter schwarzem Stoff, begann vor fünf
Jahren.
Ihre Mitbewohnerin
war es, die ihr vom Islam erzählte. Sie wünsche sich, dass auch
Nadine nach dem Tod ins Paradies kommt, sagte sie, gab ihr ein Buch
und nannte Websites, auf denen man auf Deutsch und Englisch Texte aus
dem Koran lesen kann. Nadine las. Zur Erschaffung des Menschen und
andere Dinge. Vor 1400 Jahren war das geschrieben worden, aber die
Geschichten lasen sich für sie wie moderne wissenschaftliche
Erklärungen zur Entstehung des Lebens. Nadine war fasziniert. Sie
saß in ihrem Zimmer und weinte. Vor Glück, sie spürte: "Das
ist es. Das ist meines."
Stunden, Tage,
Wochen beschäftigte sie sich mit dem Islam, las alles, was sie im
Internet finden konnte. Dann stand ihr Entschluss fest. Sie wollte
das auch, Teil davon sein. Der Glaube hatte bis dahin keine große
Rolle in ihrem Leben gespielt: Sie war als Baby getauft worden, den
Konfirmandenunterricht hatte sie abgebrochen. Während bei anderen
Religionen Unterricht oder die Zustimmung von Geistlichen
Voraussetzung für eine Konversion ist, genügt es beim Islam, vor
Zeugen die Schahada, das Glaubensbekenntnis, auszusprechen. Ihre
Mitbewohnerin und eine andere Freundin, ebenfalls Muslimin, waren
dabei, als sie sprach. "Es gibt keinen Gott außer Gott, und
Mohammed ist sein Gesandter." Dann beteten die drei gemeinsam.
Dann war Nadine Muslima.
Wer zum Islam
konvertiert, so heißt es, dem werden alle Sünden vergeben. Mit dem
neuen Glauben beginnt eine neue Zeitrechnung. Für Nadine begann ein
neues Leben.
In ihrem Alten wurde
sie 1981 geboren, wuchs als Einzelkind in Steglitz auf. Ihre Eltern
trennten sich kurz nach ihrer Geburt, den Vater lernte sie nie
kennen. In der Grundschule bekam Nadine eine Gymnasialempfehlung,
aber statt Hausaufgaben zu machen, hing sie im Einkaufszentrum herum.
Noch vor der mittleren Reife brach sie die Schule ab, räumte im
Supermarkt Regale ein, um Geld zu verdienen. Ihr Leben drehte sich um
Partys, Freunde, Dates. "Sinnloses Herumleben", nennt sie
das heute. Etwas unbeständig sei sie schon immer gewesen. Einen Sinn
gesucht habe sie nie. Eigentlich im Gegenteil, sie dachte nicht
darüber nach. Im Islam aber fand sie plötzlich etwas. Eine
Richtung. Einen Rahmen.
Viele Menschen
finden diesen in der Religion. Zunehmend erscheint hierzulande
offenbar auch der Islam als Weg. Zwar existieren bislang keine
verlässlichen Daten zu muslimischen Konvertiten in Deutschland. Es
gibt weder eine Meldepflicht noch eine zentrale Stelle, selbst die
großen islamischen Verbände haben keine gesicherten Zahlen.
Schätzungen des Bundesinnenministeriums gehen von zwischen 14 000
und 100 000 Menschen aus, die in Deutschland bislang zum Islam
konvertiert sind: Das (wissenschaftlich umstrittene) Zentralinstitut
Islamarchiv Deutschland in Soest führt ein Personenverzeichnis, die
Registrierung ist jedoch freiwillig. Deshalb gilt die Zahl 14 000 der
dort gemeldeten Konvertiten als Untergrenze. Das Zentrum für
Türkeistudien in Essen wiederum spricht von geschätzten 100 000
Konvertiten. Die überwiegende Zahl jedenfalls sollen Frauen sein.
Experten vermuten den Grund darin, dass sich Frauen eher als Männer
dazu entscheiden, im Zuge einer Eheschließung die Religion des
Partners anzunehmen.
Bei Nadine spielte
das keine Rolle. Sie sagt: "Ich habe jetzt Halt. Ich habe meinen
Schöpfer, ich versuche ihm zu dienen, so gut es geht. Es gibt für
alles Regeln, an die ich mich halten muss, um ins Paradies zu kommen.
Zu wissen, was mich erwartet, gibt mir große Kraft." Man kann
nicht sagen, dass sie den bequemsten Weg gewählt hat. Er fühlt sich
für sie richtig an.
Für das neue Leben
gab sie sich einen neuen Namen. Iman bedeutet Glaube, Zustimmung,
Vertrauen. Ein schöner Name mit einer schönen Bedeutung, findet
sie. Fünfmal am Tag betet sie, auf Arabisch, die Bedeutung der
Gebete hat sie sich übersetzen lassen. Iman lebt halal und isst
halal, tut und isst also nur Dinge, die nach islamischem Recht
erlaubt sind. Nicht erlaubt sind zum Beispiel Schweinefleisch,
Alkohol und Wurst, in der Blut verarbeitet wurde. Nicht erlaubt ist
auch, sich in Lokalen aufzuhalten, wo so etwas verkauft wird. Nicht
erlaubt sind außerdem Popmusik hören, als Frau allein reisen,
Augenbrauen zupfen und Bilder von Lebewesen in der Wohnung. Nicht
erlaubt ist auch, sich fremden Männern zu zeigen. Deshalb trägt
Iman den Niqab.
In Deutschland gibt
es nicht viele Frauen, die sich komplett verschleiern, Experten
schätzen ihre Zahl auf bundesweit unter 100. Der Anblick ist für
viele Menschen mindestens ungewöhnlich, die Angst vor dem Fremden
offenbar groß. Immer wieder wird auch in Deutschland über ein
Verbot der Vollverschleierung diskutiert. In Frankreich wurde es
gerade verabschiedet, in Belgien und Spanien ist ein derartiges
Gesetz in Vorbereitung. Frauenverbände und -beauftragte kritisieren
immer mal wieder die Verschleierung, halten Niqab und Burka für
frauenfeindlich. Und auch in der muslimischen Community sehen die
meisten Frauen das Thema kritisch. Bei einer Studie des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge im vergangenen Jahr trugen in den
erfassten muslimischen Haushalten gerade mal 28 Prozent der Frauen
ein Kopftuch. Die meisten Musliminnen in Deutschland kleiden sich
nicht anders als andere Frauen.
Iman und ihre
Freundinnen haben für Verbote kein Verständnis. "Es wird
gesagt, der Schleier wäre ein Gefängnis für uns, und wir würden
von den Männern zum Tragen gezwungen - aber das stimmt nicht",
sagt Iman. Da sie nicht verheiratet ist, keinen Vater oder Bruder
hat, gibt es ohnehin keinen Mann, der ihr irgendetwas vorschreiben
könnte. "Wenn es verboten wird, Niqab zu tragen, werden wir nur
noch im Haus bleiben - das wäre dann wie ein Leben im Gefängnis!"
Bei Iman vollzog
sich die Verschleierung in kleinen Schritten. Anfangs sah sie noch
genauso aus wie früher. Als Nadine hatte sie CDs gesammelt, war an
den Wochenenden gern zu Konzerten gegangen. Nach der Konversion
packte sie ihre Musiksammlung in einen großen Karton und brachte ihn
zum Müll. "Das war ein großer Schritt für mich",
erinnert sie sich. "Aber letztendlich fiel er mir leicht, weil
ich wusste, was ich tue, ist gut." Sie wollte alles richtig
machen. Alles für das Danach, das Paradies. Die Starposter in ihrem
Zimmer hängte sie ab. Bildnisse von Menschen und Tieren stören die
Engel, sagt Iman. "Sie kommen dann nicht ins Haus, wenn du
betest."
Etwa ein Jahr,
nachdem sie das Glaubensbekenntnis gesprochen hatte, bedeckte Iman
ihr Haar zum ersten Mal mit einem Kopftuch. Dann wickelte sie jeden
Tag einen der bunten Stoffe um, die sie früher am Hals getragen
hatte. Irgendwann empfand sie das als zu wenig. Im Internet entdeckte
sie Onlineshops, in denen man islamische Kleidung bestellen kann.
Etwa zweieinhalb Jahre nach ihrer Konversion ging Iman nur noch mit
Kopftuch und weitem Umhang aus dem Haus. Aus freiem Willen, das ist
ihr wichtig zu betonen. Einen Großteil ihrer alten Kleidung
verschenkte sie. Iman trennte sich von Nadines Leben.
Dann kam der Tag, an
dem Iman den Niqab anlegte, den Schleier, der nur einen schmalen
Schlitz für die Augen freilässt.
Vor einigen Jahren
fand sie in einem islamischen Beerdigungsinstitut in Neukölln einen
Job. Sie hatte einfach gefragt, es gefiel ihr, in einem muslimischen
Umfeld zu arbeiten. Zunächst war sie dort Sekretärin, mittlerweile
macht sie das nicht mehr, hilft aber noch als Leichenwäscherin.
Verstorbene Frauen dürfen nur von gläubigen Musliminnen für die
Bestattung vorbereitet werden. Iman wäscht sie, zieht ihnen die
vorgeschriebene Totenkleidung an, beträufelt Stirn, Handflächen und
Knie mit Duftöl. Sie mag diesen Job. "Ich tue etwas Gutes, ich
erweise den Toten eine letzte Ehre", findet sie. Kopftuch oder
Schleier tragen - bei dieser Arbeit kein Problem.
Nach ihrem ersten
Arbeitstag mit Niqab saß sie im Bus nach Hause und fühlte sich gut.
Komplett, irgendwie. Iman rief ihre Mutter an und sagte: "Mama,
ich trag jetzt den Gesichtsschleier." Die Mutter stockte, nur
kurz, dann sagte sie: "Okay." Als Iman später zu ihr fuhr,
sagte sie dann doch, sie müsse sich an den Anblick erst noch
gewöhnen. Aber sie hielt zu ihrer Tochter. Sie zeigt sich mit ihr,
schämt sich nicht, dass ihre Nadine jetzt eine andere ist. Beim
Bummel über die Schlossstraße wurde Iman mal als Terroristin
beschimpft. Gegenüber solchen Leuten verteidigt die Mutter sie. Sie
sagt dann: "Man sollte jeden so leben lassen, wie er oder sie
will."
Die beiden gehen
zusammen einkaufen, Iman berät ihre Mutter in Modefragen, begleitet
sie zum Friseur. Sie selbst kauft sich manchmal Schuhe,
ausschließlich Turnschuhe, wie früher. Ihre Kleider kauft sie jetzt
im Internet, sie hat die komplette Schleier-Kombination in Schwarz,
Braun, Weinrot, Weiß und Dunkelblau.
Die Mutter sei eine
große Stütze, sagt sie. Über den Glauben sprechen die beiden
Frauen aber nicht. Nicht mehr. Es ist zu schwer, sie haben da andere
Ansichten. Insgesamt sei das Verhältnis viel besser geworden
"seitdem", sagt Iman. Seit sie das Leben gewechselt hat.
Mütter werden verehrt im Islam, sagt Iman, sie bemühe sich jetzt
mehr, bringe Geschenke mit, kümmere sich. Die Mutter ist die
Einzige, die sie noch Nadine nennt. Nennen darf.
Irgendwann möchte
Iman eine eigene Familie gründen. Ihre Kinder würde sie auf jeden
Fall muslimisch erziehen, ihnen schon früh beibringen, was erlaubt
ist und was nicht. Einmal war sie schon verheiratet. Den Mann hatte
sie im Internet kennengelernt. Ein gläubiger Muslim,
Deutsch-Marokkaner. Er lebte im Ruhrgebiet, beim ersten Treffen war
ihre Mutter dabei. So gehört es sich, eigentlich muss ein männliches
Mitglied der Familie dabei sein, aber Iman hat ja nur ihre Mutter.
Ein paar Wochen später heirateten der Mann und sie, er besuchte sie
jedes Wochenende in Berlin. Doch Iman liebte ihn nicht so, wie er sie
liebte. Nach einem Jahr ließen sie sich scheiden.
Ihr künftiger Mann,
sagt sie, "der muss natürlich auch Muslim sein". Er sollte
islamisch leben und das auch nach außen zeigen, so wie sie selbst.
Bei Männern bedeutet das: Bart, lange weite Gewänder. Mit der
Partnersuche aber ist das nicht so einfach. Man kann es im Internet
versuchen, bei den meisten in ihrer Umma, der Gemeinschaft, läuft es
über Empfehlungen. Man wird miteinander verkuppelt, von den Brüdern
und Schwestern. Die meisten ihrer Freunde sind ebenfalls Konvertiten.
Sie treffen sich regelmäßig, meist unter Frauen. In die Moschee
gehen sie nur selten. Einen Mann hat Iman nicht wieder gefunden.
Bislang, sagt Iman, "hat es einfach nicht Klick gemacht".
Mit Leuten von
früher hat sie kaum noch zu tun. Manche fanden es befremdlich, dass
sich die Nadine, mit der sie aufgewachsen waren, plötzlich anders
nannte, anders kleidete, anders verhielt. Iman geht nicht in die
Disco, interessiert sich nicht für Gespräche über Musik oder
Jungs. "Wir leben in zwei verschiedenen Welten", sagt sie.
"Ich will über den Koranunterricht reden, darüber, was ich
gerade gelesen habe." Neulich war sie mit einer Freundin von
früher in einem arabischen Restaurant in Neukölln, in dem es
Speisen gibt, die halal sind. Es war nett, aber es gab unangenehme
Schweigepausen. Gemeinsamkeiten sind rar geworden.
Das Thema
Zugehörigkeit ist schwierig. Verbunden fühle sie sich eigentlich
nur ihrer Familie, sagt sie, also der Mutter und der Großmutter -
und natürlich der Glaubensgemeinschaft, den Brüdern und Schwestern.
Der Vater, der in traditionellen muslimischen Familien eine wichtige
Position einnimmt, fehlt. Es sind nicht viele Menschen, die im Leben
von Iman eine Rolle spielen. Die Verschleierung ist auch eine
Abgrenzung.
In ihrer Umma, sagt
sie, tragen etwa ein Dutzend Frauen den Niqab. Die meisten von ihnen
sind Konvertitinnen. "Rechtgeleitete" nennen sie sich
selbst. "Musliminnen, die sich genug mit dem Koran beschäftigt
haben, um zu verstehen, dass sie ihr Gesicht verhüllen sollten",
sagt Iman. Die Begriffe "Strenggläubig" oder
"praktizierend" gibt es für sie nicht. Nur gläubig und
ungläubig. Das Paradies, sagt sie, ist denjenigen vorbehalten, die
alles richtig machen. Ob sie die Schleier jemals wieder ablegen wird?
"Jetzt denke ich: niemals! Aber wer weiß schon, was passiert."
Iman und ihre
Schwestern fallen auf, wenn sie durch die Straßen gehen. "Früher
haben mich alle angeguckt, weil ich laut war, jetzt tun sie es wegen
meiner Kleidung", sagt sie. "Ich bin immer schon gern
aufgefallen." Vielleicht ist das auch einer der Gründe, der
dazu führte, dass Nadine nun Iman ist.
Im Lateinischen
heißt conversio Umwendung oder Umkehr. In Steglitz, ihrer Heimat,
brüllte ihr mal jemand hinterher: "Geh da hin zurück, wo du
herkommst!" Dabei war sie ja dort, wo sie herkommt. Und auch
bleiben will.
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