Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Abgeschaltet: Aufstieg
und Fall eines V-Manns
Der Spitzel, der
zu viel wusste: Was Bernd Kirchner alias G 06 im Hannoveraner
Rotlichtmilieu erfuhr, brachte Kriminelle in Bedrängnis – aber
auch Polizisten und Staatsanwälte
Von Christine
Kröger, Weser-Kurier, 14.05.2010
Den Zuhälter würde
man ihm heute noch abkaufen. Er ist schon ein merkwürdiger Typ,
dieser Bernd Kirchner. Mode von Edeldesignern trägt er gerne, die
Sorte, auf denen das teure Label unübersehbar prangt. Die Ränder
unter seinen Augen sind dunkel, seine Stimme klingt rau und belegt.
Er sieht aus wie einer, der die Nacht schon oft zum Tag gemacht hat.
Aus der Brusttasche
seines Versace-Hemdes kramt er ein Päckchen Zigaretten. Roth-Händle
ohne Filter. Er raucht viele davon, während er erzählt. Und er hat
viel zu erzählen. Ungeheuerliche Geschichten von organisierten
Kriminellen, ebenso ungeheuerliche Geschichten von einflussreichen
Unternehmern, Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Polizeibeamten.
Seine einst teuren
Kleidungsstücke sind aus der Mode gekommen, heute sehen sie
abgewetzt aus. 59 Jahre ist Kirchner jetzt alt, seit sechs Jahren
hält ihn Hartz IV über Wasser, manchmal rückt der Geldautomat
schon lange vor Monatsende nichts mehr raus. Das war nicht immer so.
Vor zehn Jahren habe er mit seiner Familie eine
480-Quadratmeter-Villa in Springe nahe Hannover bewohnt, berichtet
Kirchner, und in der Garage habe mal ein 500er Mercedes, mal ein Audi
A8 gestanden. Als Zuhälter galt Kirchner damals, der an mehreren
Bordellen in Nordrhein-Westfalen beteiligt ist. Als ein Mann, der
weit über Hannovers Grenzen hinaus beste Beziehungen ins
Rotlichtmilieu unterhält und immer für eine krumme Tour gut ist.
Kirchner hatte damals einen kurzen Draht zu Kiezgrößen wie Frank
Hanebuth oder Marcel R.*, beide Männer betrieben mehrere
Großbordelle in Hannover. In Wahrheit aber waren Kirchners
Bordellbeteiligungen eine Legende, tatsächlich arbeitete er für die
Polizei. G06 hieß er in den Behörden.
Von 1997 bis 1999
sei er für die Abteilung Organisierte Kriminalität (OK) unterwegs
gewesen, berichtet er. Die OK-Experten waren damals noch der
Bezirksregierung Hannover unterstellt und hatten ihre Büros in
Garbsen. Im Jahr 2000 heuerte er bei der Polizeidirektion Hannover
an, die setzte G06 auf Hanebuth und dessen Rockerbande „Hell’s
Angels“ an. Kirchner war die erste „Vertrauensperson“ (VP) nach
dem niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz. Das Gesetz erlaubt den
Strafverfolgungsbehörden, unter mutmaßlichen organisierten
Kriminellen auch ohne konkreten Verdacht zu ermitteln, um deren
Organisationsstrukturen zu erhellen. G06 lieferte „uneigennützig
äußerst glaubwürdige und präzise“ Informationen, urteilte ein
Polizeibeamter.
„Erkenntnisse
von unschätzbarem Wert“ habe die Polizei dem V-Mann zu verdanken,
fasste ein anderer Beamter zusammen, als Kirchners Einsatz im Jahr
2003 nach insgesamt mehr als sechs Jahren endete. Die Polizisten
waren Kirchners „VP-Führer“. Nur sie allein hielten Kontakt zu
dem V-Mann, nur sie allein kannten seine genauen Lebensumstände.
Das Land
Niedersachsen hat seinem Spitzenspitzel sogar Reisen nach Spanien
be-zahlt. Auf Staatskosten flog G06 zweimal nach Gran Canaria. Dort
ließen es sich „Hell’s Angels“ und andere Rotlichtgrößen in
einem Luxushotel gutgehen – zusammen mit renommierten
Geschäftsleuten und Rechtsanwälten, berichtet Kirchner.
Selbst-redend seien dabei auch „geschäftliche“ Angelegenheiten
besprochen worden.
„Bingo,
Schiff versenkt“, habe einer seiner VP-Führer immer gesagt, wenn
Kirchners Angaben zu einem Ermittlungserfolg führten. Und der Beamte
habe das oft sagen können, beteuert der Ex-Spitzel. Von der
Staatsanwaltschaft Hannover bekam G06 zwölf Vertraulichkeitszusagen.
Diese Zusagen garantieren V-Leuten ihre Anonymität, wenn sie gegen
Schwerverbrecher und organisierte Kriminelle aussagen. Zwölf seien
viel mehr als die meisten VP bekommen, bestätigen Experten. Mit 30
Monaten Arbeit für die Polizeidirektion Hannover sei G06 zudem
ungewöhnlich lange im Einsatz gewesen. Das Land ließ sich den
V-Mann in dieser Zeit an Spesen mehr als 35000 Euro kosten. Der
Aufwand hat sich gelohnt: Allein in einem der vielen erfolgreichen
Verfahren, die auf Kirchners Tipps zurückgingen, wurden mehr als
acht Kilogramm Kokain, zwei Kilogramm Marihuana, sieben Schusswaffen
und 361500 Euro Bargeld sichergestellt.
Bis heute sind
Kirchners Kontakte bei den Behörden gefragt. Auf einem alten Handy,
das noch irgendwo herumlag, habe ihn noch kürzlich einer aus dem
Milieu angerufen, berichtet Kirchner der Polizei. Die nimmt seinen
Hinweis offenbar ernst und will Genaueres wissen. Sie trifft sich mit
ihm. An einem Morgen im Mai 2009 nehmen zwei Beamte Kirchner in einer
Autobahnraststätte in Empfang. Den Tisch wählen sie sorgfältig
aus, und wenn eine Kellnerin den drei Männern zu nahe kommt, sagt
ein Blick Kirchner, dass er jetzt einen Moment schweigen soll. Der
Beamte der Polizeidirektion Hannover notiert gewissenhaft, was der
ehemalige V-Mann über den Anrufer zu sagen hat. Sein Kollege vom
Landeskriminalamt lehnt sich zurück und beobachtet Kirchner
aufmerksam.
Kirchner ist sich
heute sicher, dass nicht jeder Ermittler in Polizei oder
Staatsanwaltschaft für jeden Hinweis dankbar ist – und auch nicht
jeder Politiker. Einige Informationen aus dem Milieu, die er einst
lieferte, „waren offensichtlich unerwünscht“. Zum Beispiel, wenn
sich Zuhälter mit ihren Verbindungen zum Volkswagen-Konzern
brüsteten. Bereits im Jahr 2000 berichtete G06 der Polizei, dass ein
VW-Betriebsratsmitglied sich vermutlich von Bordellbetreiber R.
schmieren lasse. Marcel R. mache dem Arbeitnehmervertreter wertvolle
Geschenke und behaupte, im Gegenzug begehrte VW-Jobs vermitteln zu
können – gegen Bares, versteht sich. Anfang 2001 meldete der
Spitzel dann, Bordellbetreiber R. organisiere teure Sex-Partys für
VW-Manager.
Bekanntlich flog die
„VW-Affäre“ um Sex-Partys, Tarnfirmen und Schmiergeld erst Mitte
2005 auf, mehr als vier Jahre nach Kirchners Hinweisen. Vielleicht,
weil die Polizei Hannover sich 2001 damit begnügt hatte, die
V-Mann-Informationen als „Gerüchte“ weiterzugeben – direkt an
VW. Die Behörde überließ es dann offenbar dem Unternehmen, die
Vorwürfe „intern“ zu überprüfen (siehe Text unten).
VW sei eben ein
Konzern, dessen Einfluss man kaum überschätzen könne, sagt
Kirchner. Aber VW ist nicht nur riesengroß und mächtig, sondern
gilt auch als renommiert und seriös. „Ich bin kein Spinner, obwohl
mir das mancher nachweisen möchte“, beteuert der ehemalige V-Mann.
Und auch das mit dem Zuhälter-Outfit will er nicht auf sich sitzen
lassen. Der einstige Spitzel grinst. „Von wegen Zuhälter, die
Rolex fehlt doch.“ Stimmt, vor wenigen Tagen glitzerte noch diese
auffällige goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die habe er versetzen
müssen, klagt Kirchner. Hartz IV reicht ihm eben hinten und vorne
nicht.
Sein tiefer Fall
begann am 10. Januar 2003. Damals nahmen Polizei und
Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Kirchner auf. Am Ende wogen die
Vorwürfe schwer: Vergewaltigung, Zuhälterei, Menschenhandel.
Kritiker der problematischen VP-Praxis mögen sich bestätigt sehen,
ist Kirchner doch nur einer von vielen Spitzeln, die in Straftaten
verwickelt gewesen sein sollen. Nicht nur deshalb ist die
V-Mann-Praxis umstritten: Wer das Vertrauen organisierter Krimineller
genießt, gerät rasch selbst ins Zwielicht. Befürworter halten
dagegen, ohne solche Informanten könne man im ohnehin wenig
erfolgreichen Kampf gegen organisierte Kriminalität kapitulieren. In
den abgeschotteten Netzwerken schweigen nicht nur Täter, sondern in
aller Regel auch Opfer und Zeugen.
Im Fall G06 spricht
vieles gegen einen Sündenfall des V-Mannes – aber vieles spricht
für einen Sündenfall von Polizei und Justiz. Kirchners
Informationen über den VW-Konzern waren nicht die einzigen, die
nicht nur Milieuangehörige, sondern auch angesehene Bürgern
betrafen: Er meldete im November 2000, dass mehrere Hannoveraner
Staatsanwälte enge Kontakte ins Milieu pflegten. In dieser Affäre
spielte genau jener Oberstaatsanwalt eine undurchsichtige Rolle, der
rund zwei Jahre später hartnäckig gegen Kirchner zu ermitteln
begann (siehe Text rechts).
Kirchners ehemalige
VP-Führer beteuerten, ihr Schützling habe sich nichts zuschulden
kommen lassen. Alles, was ihm die Staatsanwaltschaft jetzt ankreide,
sei mit der Polizei abgesprochen und nicht strafbar gewesen. Wenn
jemand deshalb dennoch auf die Anklagebank gehöre, dann nicht der
Spitzel, sondern er und seine Kollegen, bezichtigte sich gar ein
Beamter selbst. Doch Hannovers damaligen Polizeipräsidenten
Hans-Dieter Klosa focht die vehemente Fürsprache seiner Experten
nicht an: Er widerrief die Genehmigung für Kirchners VP-Einsatz. Am
13. März 2003 wurde G06 abgeschaltet.
Wegen der
Ermittlungen drohte der V-Mann auch im Milieu aufzufliegen. Er kam
ins Zeugenschutzprogramm – und seines VP-Lohnes entledigt in
finanzielle Nöte, als er mehrmals überstürzt umziehen musste.
Polizeibeamte, die mit G06 zusammengearbeitet hatten, konnten nicht
fassen, was ihrem Ex-Informanten widerfuhr. Zwei von ihnen halfen ihm
im November 2003 sogar privat mit Geld aus. Erstaunlicherweise hielt
selbst die Staatsanwaltschaft Hannover Kirchner offenbar nach wie vor
für glaubwürdig: Als ihr Oberstaatsanwalt längst gegen den
mittlerweile abgeschalteten V-Mann ermittelte, gab die Anklagebehörde
ihm immer weiter Vertraulichkeitszusagen – gleich in fünf
verschiedenen Strafverfahren.
Mehr als eineinhalb
Jahre ließ die Staatsanwaltschaft verstreichen, bevor sie im August
2004 Anklage gegen Kirchner erhob. Mitte 2005 sprach das Landgericht
Hannover Kirchner schließlich vom Vorwurf der Vergewaltigung frei,
das Verfahren wegen Menschenhandels und Zuhälterei stellte es wegen
geringfügiger Schuld gegen eine Auflage ein.
Seit er abgeschaltet
wurde, kämpft der einstige Spitzel nicht mehr gegen organisierte
Kriminelle, er kämpft gegen Polizisten, Staatsanwälte, Richter und
Politiker: Sie sollen ihre Zusagen nicht eingehalten haben.
Ungezählte Beschwerden schreibt Kirchner an die
Strafverfolgungsbehörden, reicht bei Gerichten Klagen ein, spricht
örtliche Politiker an, wendet sich an den Petitionsausschuss des
Landtages und an Minister in Hannover. Vergeblich. „Wenn sich
ausnahmsweise mal ein Politiker dahinterklemmt“, sagt Kirchner,
„pfeifen ihn seine Parteioberen sofort zurück.“
Auch Ermittler
beschäftigen sich immer wieder mit den zahlreichen Vorwürfen ihres
ehemaligen Informanten. Allerdings sitzen diese Ermittler meistens in
genau den Ämtern, die er beschuldigt: in der Polizeidirektion und in
der Staatsanwaltschaft Hannover. Tatsächlich hat die Anklagebehörde
bislang sämtliche von dem ehemaligen V-Mann in eigener Sache
angeschobenen Verfahren eingestellt: Frist nicht gewahrt, Vorwurf
verjährt, keine Hinweise gefunden, Polizeibericht verschwunden…
Mit diesen und
ähnlichen Begründungen arbeitete die Staatsanwaltschaft Hannover
zuletzt am 18. März 2008 eine Reihe von Kirchners Anschuldigungen
ab. Am Ende stellte sie einmal mehr fest, es gebe „keine
zureichenden Anhaltspunkte für Straftaten“.
Die
Staatsanwaltschaft Hannover nahm zu all dem bis Redaktionsschluss
keine Stellung. Und Hannovers Polizeipräsident Uwe Binias blieb im
Allgemeinen: Die Vorgänge, um die es gehe, lägen lange zurück,
damals handelnde Personen hätten längst andere Positionen, die
fraglichen Sachverhalte seien „zum Teil schon Gegenstand von
Medienberichterstattung und einer Landtagsanfrage“ gewesen, „gar
nicht zu reden von den ungezählten Eingaben des Herrn K., die alle
bereits geprüft und beschieden worden“ seien. Eine Klärung im
Detail wäre dem Polizeipräsidenten auch zu viel Aufwand, bedürfe
es dazu doch eines „umfangreichen Aktenstudiums“. Offensichtlich
uneinsichtig beschäftige Kirchner die Behörden dennoch „mit
großer Ausdauer“ weiter.
Ebenfalls mit großer
Ausdauer verfolgt wird allerdings ein Verfahren, das nicht ge-gen
Beamte, sondern gegen den ehemaligen Spitzel angestrengt wurde. Wegen
Konkursverschleppung hatte das Amtsgericht Springe Kirchner bereits
am 4. Oktober 2000 zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen à 50 Mark
verurteilt. Mehr als neun Jahre später, am 13. Januar 2010, schickte
die Staatsanwaltschaft Hannover ihm deshalb eine „Ladung“ in die
„nächstgelegene Justizvollzugsanstalt“. 51 Tage sollte er in
Haft, weil er 1303,80 Euro nicht bezahlt hatte. Dieser Betrag sei von
jenen 80 Tagessätzen immer noch offen. Im letzten Moment konnte
Kirchner sich das Geld bei Bekannten leihen.
Dabei habe er die
Warenhandelsgesellschaft in Springe 1999 korrekt abwickeln wollen,
beteuert der ehemalige V-Mann. Doch die Zollfahndung Düsseldorf, für
die er damals Drogenhändler ausspionierte, sah durch die Pleite ihre
Ermittlungen gefährdet. Sie wies ihn an, mit der Konkursanmeldung zu
warten. Die Beamten konnten am Ende 450 Kilogramm Haschisch
beschlagnahmen und mehrere Männer festnehmen. Gegen ihren
Informanten aber lief nun das Verfahren wegen Konkursverschleppung.
„Die
Polizei wollte die Angelegenheit aus der Welt schaffen“, sagt
Kirchner. Tatsächlich gab ein Polizist am 31. Oktober 2000 zu
Protokoll, „vertraulich“ mit dem Amtsgericht Springe und der
Staatsanwaltschaft Hannover gesprochen zu haben: Die Anklagebehörde
werde den Richter bitten, das Urteil gegen G06 „wegen geringer
Schuld“ aufzuheben, der Richter diesen Wunsch dann erfüllen, hielt
der Beamte als Absprache fest.
Nicht nur in Sachen
Konkursverschleppung haben Polizeidirektion und Staatsanwaltschaft
Hannover nicht Wort gehalten, klagt Kirchner. Doch bleibt er auf die
Polizeidirektion angewiesen: In deren Zeugenschutzprogramm ist er bis
heute, wegen seiner neuen Identität habe er „da ja leider keine
Wahl“. Dass ihm dieser Schutz nicht reiche, lautet einer seiner
Vorwürfe. „Was schief gehen kann, geht schief“, weil die
Polizisten vollkommen unprofessionell agierten. Nur der von ihnen
verursachter Pannen wegen habe er seit dem Jahr 2003 mehrfach
umziehen müssen.
An seinem
derzeitigen Wohnsitz lebt er immerhin seit Mai 2007, doch Fuß
gefasst hat er dort nicht. Mit einem neuen Namen sei es eben nicht
getan, meint Kirchner. „Was soll ich denn sagen, wenn mich jemand
fragt, was ich bis 2003 gemacht habe?“ Die Zeugenschützer hätten
ihm eine Legende zugesagt, behauptet er. „Zuzug aus Belgien 2003“
sollte die lauten, weil seine Frau bereits in Belgien gearbeitet
habe, das Paar daher diesen fiktiven Lebenslauf realistisch
vortäuschen könne. Doch statt der dafür nötigen Unterlagen habe
man ihm lediglich einen neuen Namen gegeben.
Noch im vergangenen
Jahr versuchte der 59-Jährige erneut, die strittige Legende
einzuklagen, doch das Landgericht Hannover winkte ab: Die
Polizeidirektion hatte argumentiert, für den neuen fiktiven
Lebenslauf reiche es aus, lediglich Zeugnisse und andere Dokumente
auf seinen neuen Namen umschreiben zu lassen.
Zeugnisse? Welche
hat Kirchner? Was hat er getrieben, bevor er Spitzel wurde? Wie kam
er zu den Milieukontakten, die ihn für die Polizei als V-Mann erst
interessant machten? Der Ex-Spitzel erklärt das so: Als junger Mann
und gelernter Koch sei er ein Jahr zur See gefahren. Später habe er
zum Groß- und Außenhandelskaufmann umgeschult und es mit 28 Jahren
bereits zum Geschäftsführer einer großen Baufirma in Kiel
geschafft. Ein Hörsturz aber brachte ihn 1986 lange ins Krankenhaus.
Währenddessen hätten seine Vertreter Verträge abgeschlossen, „die
mir schließlich das Genick brachen“. Am Ende verurteilte ihn das
Amtsgericht Kiel wegen Betruges zu einer Geldstrafe.
Doch schon nach
wenigen „unschönen Jahre“ sei es ihm „wieder verdammt gut
gegangen“, sagt Kirchner. Dieser merkwürdige Typ, der sonst sehr
gern redet, will jetzt nicht mehr recht raus mit der Sprache. Als
eine Art Unternehmensberater habe er sich „durchgeschlagen“,
lässt er sich schließlich entlocken, und dabei alle paar Jahre
seine dicke Limousine gegen eine noch dickere austauschen können.
1996 sei er dem
Jobangebot einer Anlageberatungsfirma nach Hannover gefolgt. Dort sei
er dann in die Warenhandelsgesellschaft eines Verwandten
eingestiegen, wegen deren verschleppten Konkurs’ er noch kürzlich
ins Gefängnis sollte. Die Ehefrau der Kiezgröße Marcel R., die
damals Sonderpostenmärkte betrieb, sei seine Kundin geworden. Rasch
habe er sich auch mit ihrem Mann angefreundet…
Bei den ersten
krummen Dingern, die er der Polizei steckte, sei es ausschließlich
um Drogen gegangen, erzählt Kirchner, denn Drogen seien ein
schmutziges Geschäft. Er beteuert, „aus Überzeugung“ gehandelt
zu haben. Das klingt nicht nur gut, es stimmt wohl auch. In
Polizeiberichten jedenfalls ist ähnliches nachzulesen: Die
„Motivation der VP G06“ resultiere „aus der Tatsache, daß sie
bei ihren eigenen geschäftlichen Tätigkeiten erfahren konnte, wie
von bestimmten Personenkreisen unter Einbeziehung von Rechtsanwälten,
Notaren und Steuerberatern gesetzlich verankerte Vorgaben erfolgreich
und skrupellos umgangen werden“. Zudem habe die VP gelernt, „daß
,honorige Geschäftsleute’ ganz offensichtlich nicht davor
zurückschrecken, aus Gründen der Gewinnmaximierung Geld in den
organisierten Drogenhandel zu investieren“. Aus gelegentlichen
Tipps Kirchners wurden regelmäßige, und schließlich heuerten die
Ermittler ihn als V-Mann an.
Als gänzlich
selbstlos will sich der Lebemann von einst aber doch nicht verkaufen.
Neben einer Legende fordert Kirchner Geld. Geld, das ihm seiner
Meinung nach zusteht. 15000 Euro bekam er von der Polizei, als er
abgeschaltet wurde. Viel zu wenig, meint er – und steht auch mit
dieser Meinung nicht alleine da. Seine ehemaligen VP-Führer
schrieben 2003 gleich mehrere „Entlohnungsanträge“ für ihren
scheidenden Informanten. Sie errechneten Beträge bis zu 75800 Euro.
Für Hannovers
Polizeipräsident Binias sieht Kirchners „Sicht der Dinge kurz
zusammengefasst wie folgt aus: Herr K. meint, dass er als VP extrem
wertvolle Informationen geliefert hat, wofür er nicht hinreichend
entlohnt wurde“. Und der Polizeichef hält dagegen: „Viele
Informationen der ehemaligen VP G06 hatten für Ermittlungsvorgänge
längst nicht den Nutzen, den der Betreffende anscheinend bis heute
selbst annimmt.“ Über die Freigabe des Geldes entscheide
„letztendlich der Polizeipräsident“ – und sein Amtsvorgänger
Klosa „hatte sehr gute Gründe zu entscheiden, wie er es getan
hat“.
Diese „sehr guten
Gründe“ nennt Binias allerdings nicht. Er verrät auch nicht, wie
sein Vorgänger Klosa zu diesen Erkenntnissen über die „VP G06“
kam: Eigentlich halten doch nur VP-Führer Kontakt zu Spitzeln wie
Kirchner, und diesen Beamten waren derlei „sehr gute Gründe“
offenbar nicht bekannt. Mit der Vertraulichkeit scheint Binias es
auch sehr genau zu nehmen, jedenfalls „kann und will“ er zu
einzelnen Fragen „zum sensiblen Thema VP-Führung“ generell keine
Auskunft geben. Daher bleibt offen, wie diese „guten Gründe“ von
Binias’ Amtsvorgänger Klosa dazu passen, dass derselbe
Polizeipräsident einst Kirchners Einsatz das eine um das andere Mal
verlängerte und ihm dazu noch im Schnitt mehr als 1000 Euro pro
Monat allein an Spesen bewilligte.
Der Ex-Spitzel
zündet sich noch eine Zigarette mehr an, doch auch die verqualmt im
Aschenbecher. Kirchner hat keine Zeit. Er muss reden und schimpfen.
Schimpfen auf die betrügerische Polizei, die marode Justiz, die
scheinheilige Politik. Dieser Staat habe ihm jeden Glauben an
Wahrheit und Gerechtigkeit genommen. Diesen Satz sagt Kirchner
genauso häufig, wie er Hannovers Polizei und Justiz mit der Mafia
vergleicht oder Deutschland eine Bananenrepublik schilt.
„Vor
dem Hintergrund eines in Gesprächen immer wieder festzustellenden
ausgeprägten Gerechtigkeitssinnes bot die V-Person den
Ermittlungsbehörden die Zusammenarbeit an“, schrieben Polizisten,
als Kirchner abgeschaltet wurde. Seine privaten Interessen habe G06
während seines Einsatzes vollkommen hintangestellt. Nie zuvor sei
„es gelungen, eine derart fähige, professionell agierende V-Person
mit einem schier unerschöpflichen Beziehungsgeflecht zu bedeutsamen
und honorigen Personen aus den Bereichen Milieu und Wirtschaft zu
gewinnen“.
*Name von der
Redaktion geändert
Zurück |