Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Berliner
Setzkasten
Direkt an der
Mauer hat die DDR in den 70er-Jahren einen Häuserkomplex errichten
lassen. Als Bollwerk gegen die Zentrale von Axel Springer. Ein Besuch
bei unseren Nachbarn
Von Daniel Müller
und Britta Stuff , Berliner Morgenpost, 15.11.2009
Haus 41, 1. Stock
Unten spielen die
Kinder. Es müssen ungefähr 60 sein. Früher waren es doppelt so
viele, aber das war, als die Mauer noch stand. Ziemlich groß ist es
hier, selbst für 120 Kinder. 960 Quadratmeter drinnen, 2500
Quadratmeter draußen.
Leonore Wüstenberg
leitet den Kindergarten und hat schon viele Interviews gegeben, sagt
sie, aber mit dem Osten habe das nie was zu tun gehabt. Eher mit
Musik. Die Kinder gehören zum Musikkindergarten des Dirigenten
Daniel Barenboim, kommen aus 24 Nationen, legen ihre Füße auf
Celli, spielen Ukulele oder Orchester, aber ohne Instrumente. Leonore
Wüstenberg stammt aus Westdeutschland, und sie sagt, seit sie "Das
Leben der Anderen" gesehen hat, fragt sie sich, wo in den Wänden
hier wohl Wanzen versteckt sind. Hier sei ja mal die Vorzeigekita des
Ostens gewesen. Das habe auch sein Gutes, die Super-Ausstattung zum
Beispiel: Kinderwaschbecken, Kinderklos, alles da, alles noch
tipptopp.
Haus 46, 19.
Stock
Die Madeleine war
auch da, also damals in der Kita. Das ist fast 30 Jahre her. Die
Madeleine wohnt ja schon lange in München. Ursula Jaedike sagt, die
Kinder müssen ja auch aus dem Haus. Damals war das eine ganz andere
Gegend hier. Weniger Verkehr, mehr Leute morgens im Aufzug, da hat
man sich gegrüßt. Unten eine Kaufhalle, zwei Restaurants, "Sofia"
und "Prag". Jetzt: Lidl, da geht sie manchmal hin, ein
China-Restaurant, da war sie nie, und dieses Möbelgeschäft, was
soll man da? Ist eh kein Platz mehr in der Wohnung. Ursula Jaedike
ist 71 Jahre alt und hat ihr gesamtes Leben um sich versammelt. "Nun
isses da, das Zeug", sagt sie und meint damit: südamerikanische
Göttermasken, Kuscheltiere mit der Aufschrift "Du machst mich
verrückt", Nackte aus Gips, Kupferteller, chinesische Vasen.
Teppich liegt über Teppich. Ursula Jaedike wohnt hier seit 33
Jahren. Erstbezug.
"Nicht, dass
Sie was Falsches denken", sagt sie, "in der Partei war ich
nie", und man merkt, dass sie oft danach gefragt wurde.
Die Hochhäuser in
der Leipziger Straße wurden in den 70er-Jahren gebaut, direkt an der
Mauer, mit Blick auf den Westen. Wer hier eine Wohnung bekam, hatte
das Vertrauen der Partei oder war selbst Mitglied. Vier Doppelhäuser,
acht Hausnummern, bis zu 25 Stockwerke, fast 2000 Wohnungen, acht auf
jeder Etage, jede mit Balkon. Auf eine Neubauwohnung musste man in
der DDR lange warten. Auf eine mit Ausblick ewig.
Ursula Jaedike hat
ein ganzes Haus in Bernau gegen diese Wohnung getauscht. So lief das
damals. Sie war Leiterin des Ein- und Verkaufs beim Altstoffhandel.
Wer hier wohnte, war ihr damals egal, aber es gibt viele Gerüchte.
Der ehemalige Chauffeur von Honecker, so ein General, ein hohes Tier
bei der Stasi, die Schauspielerin Gisela May, die sollen ja heute
noch alle hier wohnen. "Viele sind aber auch schon tot",
sagt sie.
Ursula Jaedike hat
die Vergangenheit in ihrem Gesicht mit grellen Farben überschminkt.
Ihr Leben beschreibt sie so: drei Ehemänner, zwei Kinder, jetzt
einen Bekannten. Der Bekannte kommt mittags zum Essen und bringt
manchmal einen Zehn-Kilo-Sack Kartoffeln mit. Ob nun DDR oder nicht,
das Leben sei halt, wie es ist. Damals habe sie sich zwar eingesperrt
gefühlt, aber reisen könne sie jetzt auch nicht. Zu teuer. 400 Euro
kosten die 72 Quadratmeter, 794 Euro Rente bekommt sie. Beim Essen:
das Gleiche. Früher brauchte man Beziehungen, um Bananen oder Gurken
kaufen zu können. Heute braucht man Geld. Früher wie heute kann sie
nicht alles haben, was sie will. Was ist Freiheit ohne Geld?
Haus 48, Im
Fahrstuhl
Die Bonzen haben
oben gewohnt, hatte Frau Jaedike gesagt. Also die Parteisoldaten.
Wegen des Ausblicks. Manche von ihnen wohnen immer noch dort, sagt
man. 26 Sekunden braucht der Fahrstuhl von ganz unten bis nach ganz
oben.
Haus 48, 22.
Stock
Karsten Knolle würde
nie sagen, er sei ein Ossi. Geboren wurde er zwar in Quedlinburg,
Sachsen-Anhalt. Doch sein Vater hat ihn, da war er gerade 16, in den
Zug gesetzt, "Das Kapital" zur Tarnung in der Tasche, und
gesagt: "Junge, sieh zu, dass du rüberkommst." Knolle hat
ein Buch über sein Leben geschrieben, mit dem Titel "Ein
deutsch-deutsches Enfant terrible?" Er war Journalist, nach der
Wende Landtagsabgeordneter im Kreis Quedlinburg, dann
Europaabgeordneter und lange bei der Bundeswehr. Am Revers trägt er
das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold.
Knolles Stil könnte
man hanseatisch nennen. Er sieht aus, als wolle er gleich segeln
gehen oder eine Rede zur Lage der Nation halten oder einen Apfelbaum
pflanzen. Er ist 70 Jahre alt.
Karsten Knolle,
CDU-Mitglied, sagt Sätze wie: "Die Angela Merkel ist in der CDU
immer noch die Neue. Die ist doch da nicht groß geworden."
Oder: "In der DDR gab es doch nichts, was irgendwie reizvoll
war." Als die Mauer fiel, war er im Bundestag, als Journalist.
Jemand unterbrach die Sitzung und sagte: "Die stürmen gerade in
Berlin die Mauer." Die Abgeordneten standen auf, sangen die
Nationalhymne. Auch Knolle stand auf.
Vor acht Jahren
kaufte er sich eine Wohnung in der Leipziger Straße, drei Zimmer, 90
Quadratmeter. Hier sei die Mitte Berlins und deshalb auch die
Deutschlands, sagt er.
Er sitzt auf dem
Ledersofa, in den Regalen dicke Bücher, an den Wänden Kunst, hinter
Glas: Berlin. Der Blick aus dem Fenster ist unwirklich, und so weit
oben man auch ist, die Stadt reicht dennoch bis zum Horizont.
Im Flur grüßt er
manchmal dieses und jene hohe Tier von damals. Er kommt mit ihnen gut
aus. Doch Knolle glaubt, das Land werde erst wirklich wiedervereinigt
sein, wenn die Kinder der heutigen Kinder was zu sagen haben. Er
sagt, das Trennende sei leider Teil der menschlichen Natur. Wenn ihm
jemand sage, er komme aus Bonn, würde er auch als Erstes fragen:
Welche Rhein-Seite? Sonnen- oder Schattenseite?
Haus 48, 22.
Stock
Frank Berlin wohnt
direkt neben Karsten Knolle. Fotografiert werden will er nicht. Das
sei ja eine Sache, mit jemandem von Springer zu sprechen, eine
andere, sich fotografieren zu lassen. Er sieht rüber, auf das
Springer-Gebäude, das die Häuser in der Leipziger Straße einst
verdecken sollten. Springer baute sein Nachrichtenhaus direkt an die
Mauer. Und die DDR baute einen Sichtschutz. Frank Berlins Leben hat
zwei Phasen, die man nicht vermischen kann, wie Öl und Wasser.
Vor der Wende:
Bauleiter, ganz am Schluss Stellvertretender Hauptdirektor im
Wohnungsbaukombinat. 1970 Parteieintritt. Er sagt, er habe immer an
den Sozialismus geglaubt, außerdem habe er nicht den Helden spielen
wollen.
Nach der Wende: Da
kamen die Westdeutschen, so als sei man ein Negerstamm, dem man mit
ein paar Glasperlen die Frauen abkaufen kann. Da kamen dann Leute im
geborgten Mercedes und mit Funktelefon. Und immer diese nervende
Arroganz: Marktwirtschaft kennen die doch gar nicht.
Irgendein Haus,
irgendein Stockwerk
Klingeln. Bitte
reinkommen. Mann. Ende 70. Hager. Dirigentenfrisur. Erstbezug.
Parteisekretär. Eine Ehre, in diesem Haus wohnen zu dürfen. "Wie
fühlen Sie sich jetzt im wiedervereinigten Deutschland?"
"Der
Sozialismus war richtig. Die BRD der Unrechtsstaat, nicht die DDR."
"Nun ja. Stasi.
Mauer-Tote. Keine freien Reisen. Ist das nicht eher ein
Unrechtsstaat?"
"Ich lasse mir
doch nicht von einem Wessi-Schnösel meine DDR madig machen."
Raus.
Draußen
In der Leipziger
Straße ist man eigentlich nur, wenn man hier wohnt oder arbeitet.
Früher war die Gegend mal belebt, heute ist sie ein bisschen ein
Niemandsland, eingeklemmt zwischen der Friedrichstraße mit ihren
Luxusläden und dem Gendarmenmarkt mit seinen Touristen. Niemand
lässt sich vor den Häusern der Leipziger Straße fotografieren,
dann lieber ein paar Meter weiter am Checkpoint Charlie oder am
Alexanderplatz. Die Häuser ragen in den Himmel, aneinandergereiht
wie riesige Dominosteine.
Haus 41, 15.
Stock
Die alten Leute
lernt er eigentlich nicht kennen. Manchmal sieht man sich im
Trocknerraum. Oder man hört: Da wohnt der-und-der, wusstest du das
schon? Uli Uphaus (39) ist Landschaftsarchitekt und stammt aus
Osnabrück. Er wohnt seit neun Jahren in der Leipziger Straße, weil
die Altbauwohnungen im Prenzlauer Berg so cool sind, dass es wieder
unangenehm wurde. Seither musste er zwei, drei Mal Interviews geben
und erklären, warum zum Teufel junge Menschen in Plattenbauwohnungen
ziehen. Er mag es hier. Ein paar Etagen höher wäre nicht schlecht,
aber da wird selten etwas frei.
Irgendein Haus,
irgendein Stockwerk
Wolfgang Schwanitz,
ehemaliger stellvertretender Minister für Staatssicherheit, soll
hier leben. Auf den Klingelschildern steht er nicht. Wo er wohnt,
weiß kaum jemand. Und wer es weiß, mag es nicht sagen.
Haus 41, 18.
Stock
Manchmal fühlt er
sich noch überwacht. Er durfte Dienstreisen in den Westen machen und
hat dabei manchmal seine Tante in Tempelhof besucht. Aber bitte
schreiben Sie das nicht. Das durfte man ja nicht.
Jochen Fischer ist
74, mit 16 trat er der SED bei, hat mehr als 20 Jahre für das "Neue
Deutschland" gearbeitet. Als Agrarjournalist. Er mag das neue
Deutschland, aber er vermisst die Flurfeste und den Zusammenhalt auf
der Etage.
Haus 46, 14.
Stock
110 000 Euro hat
Vessela Posner für 72 Quadratmeter bezahlt. Viel Platz, wenig Geld.
Sie wohnt gegenüber, aber hier hat sie ihr Atelier. Sie liebt den
Ausblick. Aus drei Räumen hat sie zwei gemacht. Sie malt große
Ölbilder, viele Schichten übereinander. Von der Kunst kann sie gut
leben. Sie trägt einen Blaumann und einen roten Afro. Sie hat sich
ein Bild von ihrem Haus gemacht: Unten wohnen noch viele Alte oder
Migranten, in der Mitte wohnen die jungen Leute, direkt neben ihr zum
Beispiel ein schwules Paar, und oben, da seien die Anzugträger, die
mit Geld und eben die Bosse von damals.
Vessela Posner ist
keine dieser Künstlerinnen, die glaubt, Tierblut verspritzen zu
müssen. Kunst sei Arbeit. Sie stammt aus Bulgarien, und als sie das
erste Mal in Berlin war, noch vor der Wende, dachte sie: In diese
grässliche Stadt willst du nie wieder. Kommunismus hattest du schon
genug. Sie lebte in Brüssel, in Paris.
Heute liebt sie
Berlin. Hier passiere so viel. Viele Künstler. Jeder kann einfach
sein, wie er ist.
Zwischen den
Häusern
Es ist bereits kalt,
aber sie sitzen dennoch auf der Parkbank. Namen tun nichts zur Sache.
Sie fühlen sich von den jungen Leuten im Fahrstuhl manchmal schief
angeguckt. Aber die waren damals ja auch nicht dabei. In der DDR war
zwar nicht alles okay. Aber man hatte nichts anderes damals.
Irgendein Haus,
irgendein Stockwerk
Oben wohnt der
Reiche, und seine Wohnung soll unglaublich sein. Mehrere hat er
zusammengelegt, Wände einreißen lassen, Innenarchitekten waren am
Werk. Ein Loft soll das sein wie aus "Schöner Wohnen".
Zeigen will er es nicht. Er will keinen Neid.
Haus 48, 22.
Stock
Frank Berlin sagt,
es sei einfach ungerecht: "Jeder Gewaltverbrecher bekommt heute
eine Chance, aber wenn einer Pförtner bei der Stasi war, dann ist
das unverzeihlich. Ich will die Leute nicht in Schutz nehmen. Aber
man kann nicht alle über einen Kamm scheren."
Er sagt, es war
verrückt hier zu leben, man konnte die Uhrzeit am Roten Rathaus und
am Schöneberger Rathaus gleichzeitig ablesen.
Er wollte
Deutschland immer geeint sehen. Aber er hatte gehofft, es wird
sozialistisch.
Haus 41, 1. Stock
Unten spielen die
Kinder. Sie sind zwischen zwei und fünf Jahren alt. Eine Mauer sehen
sie nicht. Das ist nun wirklich auch 20 Jahre her.
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