Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Er
ist draußen
Gero W. lebt auf
der Straße - und eckt an: bei der BVG, in Bahnhöfen und Geschäften.
Die Folge sind regelmäßige Strafanzeigen. Die Staatsanwaltschaft
prüft nun gar die Einweisung in die Psychiatrie, zum Schutz der
Allgemeinheit. Doch ist das wirklich die Lösung?
Von Plutonia Plarre,
Die Tageszeitung, 21.07.2010
Bepackt mit Tüten
und Taschen schleppt sich ein Mann die Treppe im Kriminalgericht
Moabit hoch. Seine Haare sind strubbelig, die Unterarme vom
Drogenspritzen vernarbt, er hat kaum noch Zähne, riecht nach
Alkohol. Später, im Gerichtssaal, wird der 50-Jährige auf die Frage
des Richters nach seiner Adresse sagen: "OFW". Ohne festen
Wohnsitz. Gero W. lebt auf der Straße. Er schläft auf Parkbänken,
holt sich sein Essen bei Hilfseinrichtungen. In vielen Geschäften,
Shopping Malls und Bahnhöfen wird er nicht geduldet. Aber W. ist
davon unbeeindruckt: Er lässt sich keine Vorschriften machen. Schon
gar nicht lässt er sich diskriminieren, weil er ein "Assi"
ist, wie er sich selbst nennt. Dann wehrt er sich lautstark und wird
seinerseits beleidigend.
Wiederholt ist Gero
W. deshalb zu Geldstrafen und Freiheitsstrafen zur Bewährung
verurteilt worden. Aber auch das fruchtet nicht. Was also tun mit
einem Mann, der unbelehrbar ist und deshalb regelmäßig vor dem Kadi
landet? Die Staatsanwaltschaft geht bis zum Äußersten: Sie hat den
Mann auf seinen Geisteszustand begutachten lassen, nun droht sie mit
der Einweisung in die geschlossene Psychiatrie. Darum geht es an
diesem Freitag im Juli, an dem W. im Kriminalgericht mit seinen Tüten
die Treppe hochsteigt.
Diesmal muss er sich
wegen sechs Sammelklagen aus den Jahren 2007 bis 2009 verantworten:
Hausfriedensbruch, versuchte Körperverletzung, Bedrohung,
Beleidigung. Die Vorwürfe sind banal, verglichen mit dem, was W.
droht. X-mal soll er private Sicherheitsbedienstete, BVG-Mitarbeiter
und Polizisten als "faschistoide Lümmels" beleidigt haben.
Zum Beispiel am 25. Dezember 2007 auf dem U-Bahnhof
Kurfürstenstraße. Um acht Uhr morgens hatte W. dort versucht, eine
Pfandflasche aus dem Gleisbett zu holen und zwei Sicherheitsleute,
die ihn des Bahnhofs verwiesen, als Nazis betitelt. Oder am 5.
Oktober 2007 kurz vor Betriebsschluss. Er weigerte sich, den
U-Bahnhof Leopoldplatz zu verlassen, und soll versucht haben, einen
Sicherheitsbediensteten zu beißen. Ein anderes Mal soll er eine
BVG-Busfahrerin als "Mufty und scheiß türkische Frau"
beschimpft haben. Und der Discounter Aldi zeigte ihn wegen Diebstahls
an, weil er im Laden eine Tube Sonnencreme geöffnet und sich damit
das Gesicht eingeschmiert habe.
Gero W. ist seit 26
Jahren drogenabhängig, seit 13 Jahren wird er substituiert. Er
raucht zwei Schachteln Zigaretten am Tag, schluckt Tabletten und
trinkt Bier. Er leidet unter Magengeschwüren. Kurzum: Er ist
körperlich ein Wrack. Einst hat er Jura studiert, ist aber zweimal
durchs Staatsexamen gefallen. Eine "gescheiterte
Liebesbeziehung" macht er für seine Heroinsucht verantwortlich.
Er dealte, wurde erwischt, saß drei Jahre im Knast Tegel. Seit 2005
lebt er in Berlin auf der Straße. In ein Obdachlosenheim zu ziehen
lehnt er ab. Schließlich stehe er außerhalb jeglicher Gemeinschaft
und habe mit dem "ganzen Pack" dort nichts zu tun. In den
Tüten und Taschen, die er stets bei sich hat, befinden sich vor
allem Bücher und Zeitschriften. W. liest viel, auch englische Texte.
In dem von der
Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachten
heißt es: Im Grund genommen sei W. ein zutiefst einsamer Mensch, der
nicht zugeben wolle, dass er unter seiner Situation leide. Wenn ihm
seine Lebensführung von anderen vor Augen geführt werde, verteidige
er diese trotzig bis aggressiv. Eine Unterbringung von Herrn W. sei
"durchaus diskussionswürdig", schreibt die Gutachterin.
"Eine endgültige Stellungnahme behalte ich mir für die
Hauptverhandlung vor."
W. kennt das
Gutachten. Als die Staatsanwältin die Anklageschriften verliest,
rutscht er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Seine Taschen sind
auf dem Boden verstreut. Die einzigen Zuschauer im Saal sind zwei
Justizbedienstete. Sie haben den Obdachlosen im Portal an der
Sicherheitsschleuse abgeholt. Andere Beamte hatten dort den Inhalt
von W.s Gepäck und die Hosentaschen mit spitzen Fingern durchsucht.
Einer hatte sich dafür eigens Handschuhe angezogen. W. kommentierte
das Prozedere mit beißendem Spott, ließ es aber beim Ausdruck
"Lümmels" bewenden. Als sie ihm aber seine drei vollen
Bierflaschen abnehmen wollten, krakeelte er aus vollem Halse. Ruhe
gab er erst, als ihm bescheinigt wurde, dass er sein Bier beim
Verlassen des Gerichtsgebäudes zurückbekommt.
Auch die beiden
Justizbeamten hinten im Saal tragen Handschuhe. Im Saal ist es
brütend heiß. Die Staatsanwältin verliest die Anklage und dass W.
einen BVG-Beamten zu beißen versucht habe. Die Beamten gucken sich
entsetzt an. W. springt auf. "Wie kann ich mit sechs Zähnen im
Mund beißen?", schreit er empört. Wenn ihm vermeintliches
Unrecht geschieht, mobilisiert der schmächtige Mann ungemeine
Kräfte. Die Beamten hätten ihn angegriffen, nicht er sie. "Einer
hat mir in die Niere getreten. Dafür habe ich ein ärztliches
Attest."
Er bestreitet alles,
nur eines nicht: Zu den "faschistoiden Lümmels", sagt er
triumphierend, "stehe ich". Er werde als Untermensch
behandelt, sei für alle der Fußabtreter. In Wedding und Kreuzberg
gebe es nur noch drei Läden, in denen er kein Hausverbot habe.
"Ständig werde ich von diesen faschistoiden Lümmels
drangsaliert. Das sind deklassierte, ungebildete kleine Arschlöcher,
die kühlen ihr Mütchen an Leuten wie mir."
W.s Waffe ist seine
Intelligenz. Damit überrascht er sein Gegenüber immer wieder. Nach
dem Motto: Ich sehe zwar nicht so aus, aber täuscht euch mal nicht,
ich kriege genau mit, was hier läuft. Er stellt sich gern als Opfer
einer vorurteilsbehafteten Gesellschaft dar.
Manchmal redet W.
sich in Rage, wie jetzt im Gerichtssaal. "Herr W., reißen Sie
sich zusammen", versucht der Richter ihn zu mäßigen.
Vergebens. Die Verhandlung wird unterbrochen. Der Richter will sich
mit der Staatsanwältin, der psychiatrischen Sachverständigen und
W.s Verteidiger beraten.
Der Angeklagte muss
vor die Tür, die beiden Wachtmeister mit den Handschuhen folgen ihm.
W. will rauchen. Das ist im Gerichtsgebäude verboten. Eskortiert von
den Beamten geht es in den Keller und dann in einen gekachelten Hof,
der aussieht wie ein Gefängnishof. Die Beamten warten schweigend.
Gero W. zieht zweimal an seiner Kippe. Dann tritt er sie aus. "Gehen
wir zurück", sagt er leise. Er wirkt wie verwandelt, unsicher
und anlehnungsbedürftig. Das Verfahren stresst ihn, und die "stummen
Lümmels" machen ihm Angst. Warum sind sie da, fragt er sich.
Damit er nicht abhaut, falls er in die Psychiatrie soll?
Trotzdem kommt der
Spott wieder durch. Er belustigt sich über seinen beleibten
Pflichtverteidiger und spricht abfällig vom "Drei-Zentner-Trump".
Dabei bemüht sich der Anwalt wirklich um ihn. Dem jungen Richter
unterstellt er, ein Karrierejurist zu sein, der mit ihm kurzen
Prozess machen will, um "mit seinem Kleinwagen schnell in die
nicht bezahlte Eigentumswohnung abdüsen" zu können.
Im Saal zeigt die
Justiz Menschlichkeit. Die Einweisung in die Psychiatrie "will
hier keiner", stellt der Richter klar. W. atmet auf. "Was
aus Ihrem Leben geworden ist, können wir nicht nachvollziehen",
sagt die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. "Vielleicht ist
manches auch schicksalhaft." Aber kein Mensch müsse sich als
Nazi beleidigen lassen. W. sei intelligent genug, um das zu wissen.
Sein Verteidiger sieht das anders. Eine Gesellschaft müsse es
aushalten, dass W. "ein wenig gegen die Spur" steuere.
Nicht W. sei eine Gefahr für die Gesellschaft, die Gesellschaft sei
eine Gefahr für ihn.
Fünf Monate auf
Bewährung lautet das Urteil. W. kramt da schon seine Taschen
zusammen und hört kaum noch zu, als der Richter ihm von einem Mann
erzählt, der betrunken auf die Autobahn gelaufen ist und überfahren
wurde. "Ich hoffe, dass Ihnen so ein Schicksal nicht droht."
Auf dem Gang hat W.
längst wieder Oberwasser. "Sie waren gut. Aber wir gehen in
Berufung", weist er seinen Anwalt an. Das nächste Urteil werde
bestimmt nicht besser, wendet der Verteidiger ein. "Sie müssen
doch auch Ihr Geld verdienen", sagt Gero W. gönnerhaft.
Die Wachtmeister mit
den Handschuhen kommen kaum hinterher, so schnell läuft er zum
Ausgang. Dort wartet auf ihn sein Bier.
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