Montagnachmittag zwischen 16 und 18 Uhr hat Harald Schmidt eine Reportage aus der Zeit gelesen, die er eigentlich auf keinen Fall lesen wollte. Harald Schmidt liest nämlich grundsätzlich keine Texte mehr, die mit Islam, Migration oder Gewalt an Kindern zu tun haben. Sagt er. Selbst dann nicht, wenn er in der Jury für den Deutschen Reporterpreis sitzt. Er hält solche Texte einfach nicht mehr aus. Dazu ist er zu sensibel. Er wird davon depressiv oder will immer sofort hinfahren, helfen.
Entertainer-Zynismus wird in guten Jurysitzungen damit bestraft, dass niemand auch nur einen Kommentar darüber verliert. Doris Dörrie und Axel Hacke werfen sich einen kurzen, interessanten Blick zu. Dann wählt die Jury, mit Argumenten für Relevanz, Stil und Recherchequalität einstimmig - und also auch mit der Stimme des Nichtlesers Harald Schmidt - Roland Kirbachs "Der Kinderknast von Lesbos" zur besten politischen Reportage des Jahres. Ein Text, den Nikolaus Brender, der "öffentlich-rechtlich rangegangen" ist und also selbstverständlich alles gelesen hat, eine "atemberaubende moralische Weltreise" nennt. Und weil einer wie Harald Schmidt immer auch lieb gehabt werden will, bietet er an, die Laudatio auf diesen Preisträger zu halten am Abend und den Text also doch noch zu lesen.
Selbstverständlich ist wichtig, wer Journalistenpreise bekommt in diesem Land und wer nicht. Und interessant ist auch, wie Location, Inszenierung, Gäste- und Getränkezusammensetzung der Verleihung miteinander harmonieren und ob man die Festrede, mit der der Soziologe Heinz Bude sich offenbar für zu lange Zeitungstexte rächen wollte, hier und da von professoraler Redundanz hätte befreien müssen.
Noch interessanter aber sind die nominierten und preisgekrönten Texte. Und die Jurysitzungen. Weswegen es folgerichtig ist, dass die Kollegen Erfinder und Ausrichter des Deutschen Reporterpreises die Texte ins Netz stellen. Und weswegen es genau so folgerichtig wäre, auch die Jurysitzungen live im Netz zu übertragen oder auf 3sat. Spannender als Klagenfurts Bachmann-Sitzungen ist das allemal.
Zu den üblichen Kriteriendiskussionen - Was ist gut? Was ist relevant? Was zieht mich rein, obwohl das Thema mich nicht interessiert? - sind heuer in den zwei Jurys des Reporterpreises zwei Fragen diskutiert worden, von denen die eine zu Unrecht etwas vergessen war in den vergangenen Jahren. Die andere wird gern verdrängt von allen, die Erzähltexte schreiben und noch richtig lesen können.
Die vergessene und neu entdeckte Frage lautet: Welche Haltung hat der Reporter? Reflektiert er seine eigene Rolle? Ist er sich der Subjektivität des Genres bewusst und objektiviert er diese Subjektivität, in dem er sie thematisiert oder ausstellt? Carolin Emcke hat in ihrem als beste Reportage 2010 ausgezeichneten Zeit-Magazin -Text "Der erste Schuss fällt nach fünf Minuten" gezeigt, wie so etwas gehen könnte, selbst und gerade in einem atemberaubend spannenden Text und aus "eingebetteter" Kriegsberichterstattung.
Die verdrängte Frage ist: Was ist zu lang? Je jünger und internetaffiner ein Juror, desto schneller findet er Texte zu lang. So sieht es aus.
Im Vorprogramm der Preisverleihung gab die große und eigentlich Öffentlichkeit meidende Marie-Luise Scherer, deren Texte immer sehr lang und nie zu lang waren, eine Denk- und Schreiblektion mit Sätzen, die man sich über den Schreibtisch hängen möchte. "Die Hälfte ist gar nichts", zum Beispiel. Halbe Sachen zählen nicht. Das gilt für die Recherche, für die Texte, für den ganzen Beruf.
Die schwierigste Kategorie für Juroren scheint das Interview zu sein. Was ist, wenn so ein Text einfach nur deswegen gut ist, weil der Interviewte unfassbar Spannendes zu erzählen hat und es auch noch großartig formuliert? Müsste man dann den Preis nicht auch dem Interviewten geben?
1146 Einsendungen. Das ist furchtbar für die Vorjuroren, weil sie sehr viele, sehr lange Texte lesen müssen. Aber es ist gut für den Deutschen Reporterpreis, der zum zweiten Mal vergeben wurde.
Den 72 nominierten Nichtsiegern im Saal und damit auch allen 1066 übrigen Bewerbern, gab Cord Schnibben vom Spiegel einen guten Rat von Che Guevara, den man sich auch über den Schreibtisch hängen könnte: "Verwandelt euren Hass in Energie. Verwandelt euren Neid in gute Texte." Zurück |