Gerhard
Samulat, freier Journalist für Wissenschaft und Technik, über die
Sitzung der Jury zur besten Reportage 2010
Mittwochabend,
ein unerwarteter Anruf aus Hamburg. Am Apparat Cordt Schnibben: „Sie
sind ausgelost worden“, sagt der Redaktionsleiter vom Spiegel und
Mitbegründer des Reporter-Forums. „Sie dürfen nächsten Montag an
der Jury für die beste deutsche Reportage teilnehmen.“ Baff halte
ich den Hörer ans Ohr. Kurze Pause. Ich sage zu. Ich könne zudem
mit abstimmen über die Kategorien „Die beste politische
Reportage“, „Die beste Lokalreportage“ sowie „Der beste freie
Reporter“ (wobei sich später herausstellen wird, dass der beste
freie Reporter eine Frau sein wird). Schnibben würde mir dazu die
Texte der Nominierten schicken: 50 Arbeiten, knapp drei
Kilogramm Papier, die von einer Vorjury aus 1.146 Texten
ausgewählt wurden.
Einige
Tage später sitze ich an einem massiven Konferenztisch im 2. Stock
des Berliner SoHo House Clubs. Draußen die Silhouette der
verschneiten Hauptstadt. Mir gegenüber der Blattmacher Manfred
Bissinger, der Egon-Erwin-Kisch-Preisträger und Kolumnist der
Süddeutschen Zeitung Axel Hacke sowie die mehrfach preisgekrönte
Journalistin und Vorjahressiegerin Sabine Rückert. Neben mir der
frühere ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender, Late Night-Satiriker
Harald Schmidt sowie die Autorin, Regisseurin und Produzentin Doris
Dörrie. Moderiert wird die Sitzung vom ehemaligen stellvertretenden
Geo-Chefredakteur und jetzigen freien Autor, Christoph Kucklick. Bloß
nicht verunsichern lassen angesichts dieses geballten Sachverstands,
schießt es mir durch den Kopf.
Doch
habe ich eine starke Ausgangsposition. Neben dem Losglück, hat mich
mein Gefühl für gelungene Reportagen in die Runde verschlagen: Ich
war unter denjenigen, die sich übers Internet für einen Text
aussprachen, der schlussendlich die meisten Stimmen auf sich
vereinte. An der Abstimmung konnte jeder teilnehmen, der schon einmal
einen Reporter-Workshop besucht hat – mittlerweile gut 240 Männer
und Frauen. Ich war vor drei Jahren dabei, beim Spiegel in Hamburg.
Meine Motivation damals wie heute: mir etwas von den „Guten“
abzugucken, meinen eigenen Stil zu perfektionieren und mich mit den
Kolleginnen und Kollegen zu vergleichen – zu benchmarken, wie es im
Wirtschaftsdeutsch heißt –, schließlich ist jeder Freie ja ein
kleiner Unternehmer.
Ich
selbst schreibe vorzugsweise für Magazine, die über Wissenschaft
und Technik berichten, sowie über Menschen, die sich beruflich damit
beschäftigen oder die von Wissenschaft und Technik betroffen sind –
also über alle und jeden.
Ein
Juror fehlte in der Runde. Er habe wohl die Texte nicht gelesen,
scherzt Harald Schmidt, um gleich danach zu beichten, dass er selbst
ein typischer Zeitungsleser sei, der sehr selektiv vorgehe: „Ich
lese grundsätzlich nichts über Gewalt an Kindern sowie über
Islamismus oder Geschichten mit Migrationshintergründen“, sagt
Schmidt, bei dem man wie in seinen Shows oft nicht weiß, wie ernst
er es meint.
Nach
einer kurzen Vorstellungsrunde, die wegen des Bekanntheitsgrades der
anderen Anwesenden offenbar ausschließlich wegen mir durchgeführt
wird, einigen wir uns rasch auf die Reihenfolge sowie das Prozedere
bei der Bewertung der Beiträge: Jeder kann für jede Kategorie bis
zu drei Texte nennen, die ihm (oder ihr) aufgefallen sind.
Zu
Beginn sind „die Politischen“ an der Reihe. Hier muss ich leider
gleich passen: Wegen aktueller Arbeiten als freier Journalist, bin
ich in der Kürze der Zeit bei dieser Kategorie, die ich mir zum
Schluss aufgehoben hatte, bereits in der zweiten Reportage hängen
geblieben. Sie handelt vom ehemaligen Außenminister und
Gründungsmitglied der Partei der Grünen, Joschka Fischer. Die
Geschichte erhält insbesondere von den am Tisch sitzenden
Journalisten viel Lob; sie stelle Fischer so dar, wie sie ihn kennen,
der Öffentlichkeit aber oft verborgen bleibt. Einhelliger spricht
sich die Jury jedoch für die Reportage „Der Kinderknast von
Lesbos“ von Roland Kirbach aus, die im Februar des Jahres in der
Zeit erschienen ist. Sie beschreibt die Verlagerung der europäischen
Flüchtlingsproblematik auf Randstaaten wie Griechenland, die mit dem
Ansturm hoffnungslos überfordert sind, was dazu führt, dass
beispielsweise minderjährige Flüchtlinge – meist afghanische
Kinder – unter katastrophalen Bedingungen eingesperrt und
misshandelt werden.
Selbst
Harald Schmidt stimmt für die Reportage, obwohl er sie gar nicht
gelesen hat - schließlich handelt sie ja von Gewalt an Kindern. Ihn
überzeugten aber die Argumente der anderen Juroren. Und er
versprach, den Beitrag bis zum Abend zu lesen und am Abend bei der
Preisverleihung im alten Kreuzberger Umspannwerk die Laudatio zu
halten.
Weiter
geht es mit der besten Lokalreportage. Die Juroren werten es als ein
Zeichen zunehmenden wirtschaftlichen Drucks auf die regionalen
Medien, dass nach ihrer Ansicht die Qualität im Vergleich zum
Vorjahr zurückgegangen sei. Dennoch gibt es positive Beispiele.
Hitzig wird die Arbeit „Ich will´s wiederhaben“ von Katrin Blum
besprochen. Die einfühlsam geschriebene Geschichte, die in der
Stuttgarter Zeitung erschienen ist, erzählt von einer Frau, die eine
unerkannte Schwangerschaft hatte und ihr Neugeborenes aus Schreck und
Hilflosigkeit in eine Kinderklappe steckt, es kurze Zeit später aber
wiederhaben will. Die Reportage konnte in der Vorrunde zunächst
viele Stimmen auf sich vereinen – meine ebenso. Doch dann kommt die
Kritik der Vorjahressiegerin, eine erfahrene Gerichts- und
Kriminalreporterin. Sie vermisst den gesamten soziologisch
hochproblematischen Kontext ungewollter und unerkannter
Schwangerschaften sowie des Zurückholens von Babys. „Da passieren
die schlimmsten Geschichten“, sagt sie aus ihrer beruflichen
Erfahrung. Der Leser hätte einen Anspruch darauf gehabt, das zu
erfahren, findet die Jury. Deswegen setzt sich die Reportage „Er
wollte so gern ein Deutscher sein“ von Volker ter Haseborg durch.
Der im Hamburger Abendblatt erschienene Beitrag über den Selbstmord
eines Abschiebehäftlings, fand bereits in der Nominierungsrunde der
Jury ähnlich hohe Zustimmung wie der Beitrag von Katrin Blum.
Dann
kam die Stunde der 240 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des
Reporter-Forums. Die Jury konstatierte dieser Kategorie ein
durchgängig hohes Niveau. Das Reporterkollektiv, dessen
Stellvertreter ich war, hatte sich für den Text „Das Sterben der
Mütter“ von Wolfgang Bauer entschieden. Die Reportage erschien am
15. März 2010 in Nido, einem recht neuen Lifestyle-Magazin für
junge Eltern, auf dem der bekannte Stern aus dem Hause Gruner + Jahr
prangt. Der Beitrag über die Qualen der schwangeren Fatmata Kammal
aus dem westafrikanischen Sierra Leone, die wie viele ihrer
Schicksalsgenossinnen wegen katastrophaler medizinischer und sozialer
Verhältnisse, beinahe an der Geburt gestorben wäre, hatte viele
berührt.
Anfänglich
läuft die Diskussion gut für „unsere“ Reportage: Eine
hauchdünne Mehrheit der Anwesenden bezeichnet sie ebenso als äußerst
bemerkenswert, dicht gefolgt von „Der erste Schuss fällt nach fünf
Minuten“ von Carolin Emcke, ein Text über den Irak-Krieg, der im
Januar 2010 im Zeit-Magazin erschien. Darin zweifelt Emcke unter
anderem an ihrer Rolle als unabhängig beobachtende Journalistin in
einem Kriegsgebiet und beschreibt gleichzeitig ein in ihr
aufkommendes Gefühl der Hilfslosigkeit.
Ähnlich
sahen es übrigens die Internetteilnehmerinnen und -teilnehmer: sie
hievten Emckes Reportage gleichfalls an die zweite Stelle. Nach
einigem Hin und Her in der Diskussion, macht sich Doris Dörrie
schließlich für Emcke stark: Sie sei in der Wahl der sprachlichen
Stilmittel sparsamer und deswegen wirkungsvoller, argumentiert sie.
Zudem sei das „Happyend“ in der Geschichte von Bauer zu erwartbar
(Fatmata überlebt und gebiert schließlich eine Tochter). Gegen
dieses Argument regt sich Widerspruch. „Ich habe etwas gemacht, was
ich sonst nie mache“, sagt die Vorjahressiegerin: „Ich habe nach
ein paar Seiten ans Ende der Geschichte geschielt und gebangt:
Fatmata durfte einfach nicht sterben!“ Und Manfred Bissinger meinte
gar: „Wäre die Frau gestorben, wäre die Geschichte wohl auch nie
erschienen...“ Es kommt zur Kampfabstimmung. Die Mehrheit ist
eindeutig. Dörrie argumentierte überzeugend: Bis auf den
Publikumsjoker stimmen alle für Emcke.
Nach
kurzer Pause ging es schlussendlich um den besten freien Reporter.
Hätten wir vorher gewusst, dass unsere Präferenzen so eindeutig
sind, hätten wir allerdings auf die Unterbrechung verzichten können;
alle Mitglieder der Jury haben Mario Kaisers Geschichte um den
Tagelöhner Dursun Ince auf dem Zettel. Seine Arbeit wird ohne
nennenswerte Konkurrenz und ohne kontroverse Diskussion einstimmig
gewählt.
Geschafft.
Die Preise sind vergeben. Ab jetzt heißt es den Abend der
Preisverleihung genießen. Lange Tischreihen in einer dunklen Halle
des ehemaligen Kreuzberger Umspannwerks. Emphatisch werden die
Preisträger gefeiert. Ein Höhepunkt die Laudatio für den besten
freien Reporter. Genüsslich liest die Vorjahressiegerin einen
Abschnitt aus der Geschichte vor, wie Ince und ein weiterer
Tagelöhner unter großen Mühen einen grauen Filzboden von einem
Fußboden reißen. Etwas so Banales plastisch zu beschreiben,
zeichnet einen Sieger aus. Wohlgefälliges Nicken von Peter-Matthias
Gaede, Chefredakteur und Herausgeber des Hamburger Reportagemagazins
GEO und allen anderen Medienvertretern.
Spätestens
jetzt nehme ich mir fest vor, das nächste Mal wieder für die beste
Reportage zu stimmen. Selbst wenn mir das Losglück dann nicht hold
ist: Mitreißende Erzählungen liest man stets gern. Aber vielleicht
gibt es im nächsten Jahr dann auch eine Kategorie „Die beste
Wissenschaftsreportage“. Zumindest versprach Cordt Schnibben mir zu
helfen, die Wissenschaftsreportage stärker ins Rampenlicht zu
rücken. Schön wär´s.
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