Ich war genervt, müde und ohne jede Hoffnung, daß wir doch noch einmal zu einer Party kommen würden, die nicht vorbei oder verschoben oder sonstwie ausgefallen war. Sieben Stunden Autofahrt steckten mir im Rücken, und diese Stadt gefiel mir nicht, und die Wohnung, in die man mich gebracht hatte, gefiel mir auch nicht, und am wenigsten gefiel ich mir selbst.
Same old story. Der alte bescheuerte Blues. Irgendein Zigeuner erzählt mir etwas von Wahnsinns-Fiestas, zu denen er mich bringen will, und von dem einzigen, dem echten, dem ursprünglichen Flamenco, und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihn und seine Frau und seine Tochter und seinen Sohn in den Wagen zu packen und mich für den Rest des Lebens darauf einzustellen, ihr Essen zu bezahlen.
Doch der Mann hatte mich beeindruckt. Allein sein Name. Loco Romantico. Zuerst hörte ich noch ein L zuviel. Local Romantico. Und ich fand das enorm witzig. Der lokale Romantiker. So wie der lokale Säufer, der lokale Hurenbock, der lokale Journalist. Sie klärten mich auf. Kein zweites L. Nur Loco. Und „loco“ ist das spanische Wort für verrückt.
Er hat sich den Namen selbst gegeben. Er darf das. Loco ist ein Sänger, ein cantaor, wie man unter Zigeunern sagt. Noch dazu ist er ein genialer Poet. Erzählte mir seine Frau. Und alles, was sie mir über Loco erzählte, ging in die Richtung, es hier mit dem begnadetsten Naturtalent zu tun zu haben, daß das lichtbeschienene Andalusien in den letzten fünfhundert Jahren hervorgebracht hat. Die Bauern der Sierra Nevada werden zu weinen beginnen, wenn sie Locos Gedichte hören. Geschichten über die Kommunikation zwischen Biene und Ameise und ähnliches. „Zen“, sagte seine Frau. „Reiner, naiver Zen.“
Ich gehe also mit Loco und seiner ehrgeizigen, höchst manipulativen Frau Samina seit drei Stunden durch die Straßen von Jerez, und im Kinderwagen schläft Sol, der neun Monate alte Säugling, und daneben trabt Nu, die neunjährige Tochter, und Nu weint. Weil es spät nach Mitternacht ist und der Wind Regen aus Marokko bringt. Und egal, wohin wir gehen, wir kommen nicht an. Keine Fiestas, kein Flamenco.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, versuche ich es ihnen beizubringen. In einem Kaffeehaus, an einem Marmortisch, irgendwo in der Nacht. Ich bestelle Bier für die Großen und Cola für die Kleine und sage: „Ich habe einen Fehler gemacht. Das passiert mir öfter, daß ich den Bogen einer Recherche nicht schließe. Ich habe in Sacramonte ein paar nette Leute kennengelernt, und man hat mich zu einer Feier eingeladen. Morgen. Ich glaube, ich muß zurück.“
Das war gut gesprochen. Kein Wort der Enttäuschung über diesen erfolglosen Abend, nichts, was ihnen das Gesicht geraubt hätte. Alles nur meine Schuld. „Wann willst du zurück?“ fragt Samina. „Nach dem Frühstück.“
Sie übersetzt es Loco. Er spricht kein Englisch. Er kann noch nicht einmal lesen, geschweige denn schreiben. Und er bekommt plötzlich sehr traurige Augen. Ein großes, dickes, 36jähriges Baby mit schwarzen Rastalocken, das ein Gesicht macht, als habe man gerade zum ersten Mal sein Urvertrauen zerstört. Er sagt nur einen Satz, und Samina übersetzt.
„Loco sagt, du seist wahrscheinlich doch kein so guter Journalist, wenn du Loco Romantico verlassen willst.“
Das brachte mich zum Nachdenken. Was hatte ich denn bisher erlebt? Und gesehen? Gewiß sind die Höhlen von Sacramonte traumhaft. Mit einem wunderbaren Ausblick auf die Alhambra, auf die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada und auf die weißen Dächer der Altstadt von Granada. Vor ein paar hundert Jahren muß es da richtig gut gewesen ein. Mit Feuern und Liedern, die die Nacht zerreißen. Aber dann kam Hemingway vorbei und dann der internationale Massentourismus, und jetzt ist Sacramonte im Grunde nichts anderes als so eine Art Zigeunerzoo, wo sie fürs Rumhampeln bezahlt werden.
Ja, auch ich war dabei. In einer weißgekalkten Höhle mit hundert kitschigen Tellern an den Wänden, und ein paar grell geschminkte Omas wollten mir und den fünf Gästen aus Tokio Kastagnetten andrehen, zum zehnfachen des üblichen Preises. Ja, sie haben auch getanzt und gesungen und Gitarre gespielt, eine halbe Stunde lang, für zweitausend Peseten pro Mann und Japaner, und genauso gut hätten sie einen blökenden Esel durch die Stuhlreihen treiben können. Um ein Haar hätte ich die Contenance verloren, als ich da wieder herauskam. Weil ich der Esel war und es hätte wissen müssen. Für Flamenco zu bezahlen, bringt dasselbe, wie bezahlter Sex. Für beide Seiten. Als Konsument bist du ein Freier, als Interpret eine Hure. Und was dabei auf der Strecke bleibt, ist diese menschliche Qualität, die man Ehre nennt. Oder, wie die Spanier sagen: honor. Und es gibt keinen Flamenco ohne honor.
Loco hatte noch immer traurige Augen. Er sagte wieder nur einen Satz und Samina übersetzte. „Loco sagt, du gibst der Zeit keine Zeit.“
„Hat er das genau so formuliert“, fragte ich Samina, „oder sind das deine Worte?“
„Seine“, sagte sie.
„Dann ist er wirklich gut.“
„Er ist noch besser. Du hast ihn überhaupt noch nicht kennengelernt. Und du wirst ihn auch nicht mehr kennenlernen. Du fährst ja nach dem Frühstück.“ Sie lächelte.
Ich mochte diese Frau nicht. Während unserer Fahrt von Granada an die Küste hatte ich sie einmal im Rückspiegel dabei beobachtet, wie sie mit ihren Händen tanzte. Zehn Finger wie zehn Schlangen direkt über meinem Kopf. Ich mag keine Frauen, die mich zu verhexen versuchen. Ich mag auch nicht die Art, wie sie mit ihren Kindern umgeht.
Ein neunjähriges, übermüdetes Mädchen durch die Nacht zu schleppen und weinen zu lassen. Ist das Zigeunerleben?
Oder ist es Gastfreundschaft, und sie tun es nur für mich? Weil Loco und ich Samina zum Übersetzen brauchten und weil kein Geld für einen Babysitter da war, und weil sie die einzigen Zigeuner waren, die mich nicht sofort nach Geld gefragt hatten. Sie wollten kein Geld, aber vielleicht wollten sie Popularität, was dasselbe ist. Loco hatte eine Platte produziert. „Flamenco Colours“. Er hat Samba reingemischt und Rock und Jazz, und die Produktion war ein Flop. Niemand in Andalusien interessierte sich dafür. Zu strange, zu neu, zu unkonventionell. Vielleicht interessierte man sich in Deutschland dafür, und vielleicht war das der Grund, warum sie mir halfen? Durchaus ein faires Geschäft. Ich verschaffe ihnen Popularität und sie verschaffen mir den reinen Flamenco. Eine Hand klatscht in die andere.
Nur nicht in dieser Nacht. Und es war bereits gegen zwei Uhr. Du gibst der Zeit keine Zeit, hatte Loco gesagt. Na schön, ich werde sie diesem verrückten Romantiker geben. „Sag ihm, daß ich bleibe“, bat ich Samina, und sie tat’s, und Locos Augen veränderten sich. „Amigo“, sagte Loco, und das mußte nicht übersetzt werden. Wir gingen.
Was war geschehen? Nicht viel. Ich hatte ein bißchen Flamenco verstanden. Dieses Phänomen, das am besten von einem Sänger beschrieben worden ist, den sie El Chocolate nannten, und der wie Loco aus Jerez kam. Chocolate sprach einmal über seine Erfahrungen mit Plattenaufnahmen: „Die sagen zu dir, komm morgen früh ins Studio und sing. Aber wie soll das gehen? Wie soll ich wissen, ob ich morgen früh singen kann? Darum taugen meine Platten nichts. Es sind Morgenplatten. Mit Flamenco haben sie nur wenig zu tun.“
Das sagen alle. Du kannst den Flamenco nicht planen, nicht zwingen, nicht locken, nicht herbeischmeicheln, bezahlen schon gar nicht, im Grunde nicht einmal suchen. Flamenco ist wie eine Sternschnuppe, wie ein Regenbogen, wie Verlieben. Und manchmal wie ein Blitz. Und wenn er wie ein Blitz ist, dann zerreißt er dir das Herz.
Das war mein Problem. Darunter wollte ich es nicht machen. Und in Granada war es darunter. Nicht immer so tief wie in der Touristen-Abzockerhöhle. Nein, ich hatte Samina nicht belogen. Ich hatte durchaus nette Leute dort getroffen, an durchaus netten Abenden, in durchaus netten Bars. Die Gang zum Beispiel. Drei Zigeuner, die immer nur zusammen auftauchen, und der Boß hatte die linkesten Augen, die ich je gesehen hatte, und außer seinen beiden Wasserträgern schien ihn dort niemand zu mögen. Nur sie klatschten mit, als er zu singen begann. Laut und dermaßen aggressiv, daß ich bereits die langen, schmalen, feingeschmiedeten Zigeunermesser fliegen sah. Ich ließ mir den Text übersetzen. Er handelte von Geld.
Als er Luft holte, nutzte einer der Männer von der anderen Seite der Bar die Chance und sang eine Antwort, und jetzt schlugen dessen Freunde mit ihren Handknöcheln den Rhythmus auf die Tische und sein Text handelte von Philosophie, und noch bevor der Gangchef etwas darauf erwidern konnte, legte der Wirt seinen unglaublichen Bauch auf die Theke und schlichtete mit zwei Liedern den Streit. Das erste handelte von Mutterliebe, das zweite vom Essen und Trinken.
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Auszüge mit freundlicher Genehmigung aus: Helge Timmerberg: Tiger fressen keine Yogis. Stories von unterwegs.
Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011
ISBN 978-3-932927-22-5; 256 Seiten; Preis: 7,95 Euro
Erscheint September 2011 Zurück |