Auf einem Schlepper fuhr Wolfgang Bauer mit libyschen Rebellen in die Stadt Misrata und erlebte, wie Gadhafis Truppen dort wüteten.
Das Schiff, das den einen das Leben bringt und den anderen das Verderben, legt ab, es kratzt kurz am Kai entlang, die „Ezzarouk“, ein in Holland gebauter Hafenschlepper, dann löst es sich und fährt hinaus auf die offene See. Die Männer an Deck heben die Hände. Sie rufen Gott an, nicht so euphorisch wie sonst, verhaltener. Die Reise der „Ezzarouk“ ist geheim, wenige in der libyschen Hafenstadt Bengasi wissen von ihr. Dr. Sulaiman Fortia, 57, in Anzug und gebügeltem Herrenhemd, umklammert die Reling. Er kämpft mit der Übelkeit, noch mehr aber mit der Angst.„Heute wird es keine Probleme geben,“ sagt er und versucht ein befreiendes Lachen, was ihm misslingt. 25 junge Männer begleiten ihn, sie schlagen den heiligen Koran auf, versinken in ihm, flüstern Suren und bereiten sich vor auf ein Leben, das dem Tode folgt.
Die Reise soll 24 Stunden dauern und nach 240 Meilen in Misurata enden, der drittgrößten Stadt Libyens. Ihre Einwohner haben sich am 20. Februar gegen den Despoten Muammar al-Gaddafi erhoben, mit Massendemonstrationen und Kundgebungen wie in anderen Orten. Doch nirgendwo reagierte das Regime brutal wie in Misurata. Seit fünf Wochen wird die Stadt von Regierungstruppen belagert. Eine halbe Million Menschen leben eingeschlossen auf wenigen Quadratkilometern, sämtliche Ausfallstraßen sind von Gaddafis Panzerverbänden blockiert. Scharfschützen haben Teile des Zentrums besetzt und zielen auf alles, was sich bewegt. Wahllos feuert schwere Artillerie in den Ort hinein. Der Name Misurata, den im Ausland zuvor kaum jemand kannte, steht für das bisher größte Drama des Bürgerkriegs. Das Leningrad Libyens.„Wenn wir das Schiff nicht durchbringen,“ sagt Sulaiman Fortio auf der „Ezzarouk“, „wird die Stadt in den nächsten drei Tagen fallen.“
Diese Fahrt ist auch eine ins vermutlich nächste Einsatzgebiet der Bundesmarine. Deutschland hat sich bisher nicht an der UN-Intervention gegen Gaddafi beteiligt, doch selbst Berlin kann es sich nicht leisten, die Tragödie dieser Stadt zu ignorieren. Die EU erwägt eine Rettungsaktion, die Gremien tagen - viel Zeit bleibt ihnen nicht.
Ich habe am Hafenkai in Bengasi gezögert, an Bord zu gehen, diesen Schritt ins Unwägbare zu tun.„Was ist jetzt? Entscheiden Sie sich!“, rief Fortio ungehalten. Ich warf das Gepäck aufs Deck und fand nur schwer einen Platz, um es in den Mannschaftsräumen zu verstauen. Der 26 Meter lange Schlepper ist voller Waffen und Munition. Gewehre unterschiedlichster Typen, in graue Decken eingewickelt, liegen auf dem Boden der Kajüten. Unter den Tischen der kleinen Messe stapeln sich Gewehre, die Waschküche ist angefüllt mit Panzerfäusten. Patronengurte hängen aus den Deckenverkleidungen wie anderswo Isolierwolle. Das Boot ist eine schwimmende Bombe. Es gibt keine andere Möglichkeit, die belagerte Stadt zu versorgen, als den Weg übers Meer. Kleine Fischerboote pendeln seit Wochen zwischen Bengasi und Misurata, unregelmäßig, wetteranfällig. Drei Tage brauchen die Nussschalen für die einfache Strecke. Die „Ezzarouk“ ist der Riese unter den Zwergen, das bislang größte Schiff, mit dem die Rebellen gaddafis Blockade zu durchbrechen hoffen.
Der Bordmechaniker verteilt schwarze Plastiktüten, in die sich die Freiheitskämpfer erbrechen. Eigentlich nur für die Hafenarbeit ausgelegt, taucht der Schlepper, kurz und hoch, in das aufgewühlte Mittelmeer. Die Kajüten teilen sich bärtige Feldarbeiter aus dem Hinterland, Studenten unterschiedlicher Fächer, Exil-Libyer aus dem Ausland, unter ihnen der neue Öl- und Wirtschaftsminister der Übergangsregierung, Ali Tarhouni, der vor einem Monat aus Seattle kam. Nervös sieht der bisherige Wirtschaftsprofessor auf den Bordradar und raucht Kette. Er ist seit Wochen übernächtigt, die Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab.
Er hat drei Holzkisten mit Bargeld auf den Schlepper verladen lassen, weil die Belagerten nichts mehr haben. Mehrere Millionäre senken auf der „Ezzarouk“ ihre Köpfe in die schwarzen Tüten. In Misurata erhoben sich nicht nur die Jugendlichen und Rechtsanwälte wie in Bengasi, sondern vor allem das Unternehmertum. Sulaiman Fortia ist Leiter eines internationalen Ingenieursbüros, sein Vater starb unter Gaddafi im Gefängnis, sein jüngster Bruder bei den Demonstrationen vor fünf Wochen. Die Schiffsreise hat er gemeinsam mit Mohamed el-Muntasser organisiert, dem Vorsitzenden der Deutsch-Libyschen Wirtschaftskammer, einem der wichtigsten Unternehmer des Landes. Die beiden Männer, Mitglieder der Übergangsregierung, sind vor drei Tagen nach Bengasi gekommen, zum ersten Mal seit der Belagerung, um Waffen zu kaufen. 650 Gewehre, erzählt el-Muntasser, haben sie auf dem Schwarzmarkt erstanden.„Wenn wir es nach Misurata schaffen, verdreifachen wir die Zahl der Waffen.“ Gegen zehn schwer mechanisierte Bataillone hat sich die Stadt bislang mit 250 Gewehren und einem Dutzend Flugabwehrgeschützen verteidigt.
Hinter der „Ezzaraouk“ kämpfen zwei weitere Schiffe gegen die Wellen an, alte Fischtrawler, die ebenfalls Waffen in sich tragen. El-Muntasser hat sie aus eigener Tasche bezahlt, erzählt er. „Wir bekommen in Bengasi nichts geschenkt. Die sagen, sie brauchen die Sachen an ihrer eigenen Front.“ Der Koch bereitet Reis mit Hühnchen, der Mechaniker klärt im Maschinenraum einen falschen Feueralarm und Ingenieur Fortia hat sich meinen Notizblock ausgeliehen, um den jungen Kämpfern einen Schlachtplan für Misurata aufzumalen, eine verwirrende Skizze mit Kreisen und Pfeilen, da meldet sich zum ersten Mal die Nato.„Was transportieren Sie, Kapitän?“, funkt eine italienische Fregatte die Brücke an. „Milch, Gemüse und Waffen für die Revolution,“ sagt Abdullah, der Kapitän. Damit beginnen die Probleme.
Täglich nehmen die Spannungen zwischen der Nato und den Rebellen zu, Luftschläge treffen Aufständische statt Regierungstruppen. Die Flugzeuge des Militärbündnisses können die Opposition immer weniger schützen, weil sich Gaddafis Anhänger mittlerweile in Zivilfahrzeugen und Zivilkleidern bewegen, ihre schweren Waffen verstecken. Am nächsten Morgen entern acht italienische Marinesoldaten die „Ezzarouk“, ein Helikopter kreist über dem Schlepper. Sie zwingen die Besatzung in die Bugspitze. „Ich bin völlig verwirrt,“ ruft der Ölminister, der als Einziger auf der Brücke bleiben durfte und pausenlos mit dem Satellitentelefon telefoniert. Zum Abschied hatte ihm der französische Botschafter in Bengasi eine gute Reise gewünscht, auch der britische Gesandte, doch jetzt meldet ihm die Nato-Zentrale, sie wisse von nichts. Die Fregatte der Italiener nähert sich dem Waffenschmuggler auf wenige Meter, auf allen Plattformen und Balkonen stehen Marinesoldaten und halten ihre Handykameras in die See. Als Erinnerung für die Lieben daheim.
Es vergehen fünf Stunden, der Konvoi droht zu scheitern, 40 Meilen vor Misurata, wo Gaddafi die Abwehrstellungen der Rebellen jederzeit durchbrechen kann. Die Männer in der Bugspitze werden unruhig, einer, der zum Kämpfen aus Schottland kam, beginnt zu weinen.„Seid ihr nun für oder gegen uns?“, schreit schluchzend er einen Soldaten an. Der Minister telefoniert weiter, er wählt die Nummern von Botschaftern und Nato-Verbindungsoffizieren. Besorgt schaut er über seine Brillengläser zum Schiffsbug hinunter, wo die Kämpfer zu streiten beginnen, einige wollen auf die Italiener losgehen, sie von Bord werfen. Die Beschützten drohen sich gegen jene zu wenden, die sie beschützen wollen. Tarhouni erreicht auf der Brücke den italienischen Verteidigungsminister. Der rettet die Situation. Gibt das Okay zur Weiterfahrt.
Als wenig später eine griechische Korvette den Konvoi erneut stoppen will, die Nato sich noch immer nicht abgestimmt hat, brüllt Minister Tarhouni dem Verbindungsoffizier des Bündnisses ins Telefon. „Ich habe im Namen der libyschen Regierung die Anweisung gegeben, diese Schiffe nach Misurata zu bringen! Wenn die Nato auf uns schießen und sie einen internationalen Zwischenfall provozieren will, soll sie es doch tun. Wir werden weiterfahren!“
Noch am selben Nachmittag kommen in Brüssel die Spitzen der Bündnisbürokratie zusammen und beschließen, die Waffenkonvois künftig nicht mehr zu behelligen. Als Tarhouni davon erfährt, tanzt er auf der Schlepperbrücke.
Die wichtigste Fracht der „Ezzaroux“ ist eine neue Waffe im Kampf gegen Gaddafis Panzer. Das Milan-Raketensystem, eine deutsch-französische Entwicklung, die sich die Stadträte von Misurata aus dem Ausland besorgt haben. Zwei Männer an Bord - im Zivilleben angeblich Kommunikations-Studenten - sollen die Verteidiger der Stadt daran schulen.„Wir werden das Blatt wenden,“ sagt der Unternehmer Mohamed el-Montasser euphorisch. Doch zunächst muss es das Schiff in den Hafen schaffen, der immer wieder Ziel ist von Artillerieangriffen, das Nadelöhr, der gefährlichste Moment der Reise.
Es ist früher Abend, der zweite Tag auf See, als die Stadt am Horizont erscheint, hell erleuchtet, die Türme des Stahlwerkes, der Hafenspeicher. Druckwellen von Explosionen laufen über das Meer. Schübe von Luft, die immer wieder unvermittelt über die Haut streichen. Still ist es auf dem Schiff mit einem Mal, alle haben sich vorne an der Reling aufgereiht, schauen auf Misurata. Über der Stadt liegt ein metallisches Hämmern, aus der Ferne hallt Donnern. Als habe sich ein entsetzliches Gewitter am Horizont festgefressen. Kapitän Abdullah drosselt die Geschwindigkeit, vorsichtig nähert sich das Schiff der Küstenlinie, die Donnerschläge werden lauter, mit jeder Seemeile. Noch weit vor dem Hafen wirft er den Anker. „Wir müssen die Dunkelheit abwarten,“ sagt er. „Wir wissen nicht, warum. Aber nach neun Uhr hören sie meistens auf zu schießen.“
Dem Sterben der Stadt sehen wir aus sicherer Entfernung zu, der Koch macht noch einmal Hühnchen. Sulaiman Fortia versucht, mit dem Satellitentelefon die Männer im Hafen anzurufen, die das Boot in Empfang nehmen sollen. Er kommt nicht durch. Er knetet fortwährend seine Hände. Ein verdächtiger Punkt auf dem Radar, der kurz die Aufregung steigert, ist bloß ein Fischerboot. Die Nato hat drei Küstenwachschiffe Gaddafis versenkt, die in den ersten Wochen der Belagerung den Hafen blockierten, doch bleibt die Angst vor plötzlichen Schlauchboot-Angriffen. Die Freiheitskämpfer reichen sich Fernstecher und starren auf den Horizont.
„Der Mensch,“ sagt Tarhouni, der Ölminister, als er zu mir an die Reling tritt,„ist ein Irrtum der Evolution. Sogar dann, wenn du etwas Gutes machst, verursachst du viel Schlechtes. Wie soll man da nicht an sich selbst verzweifeln?“
Ich gehe unter Deck, als sich das Schiff abermals in Bewegung setzt, langsam, ganz sachte führt der Kapitän die „Ezzarouk“ an die Stadt heran, eine Stunde nach der letzten Explosion. Die Brücke ist in Rotlicht getaucht, die Rebellen halten die glimmenden Zigaretten in der hohlen Hand. Die Gesichter sind angespannt, jeder ist mit sich allein, die Wände der Kaimauern ziehen an dem Schiff vorüber.
Es kann dann gar nicht schnell genug gehen, das Anlegen, das Löschen der Ladung, das Warten auf den Abfertigungstrupp, der zunächst nicht da ist.„Wo bleiben sie?“, fragt Fortia bang in die Nacht hinein. Lange stehen die Blockadebrecher alleine auf dem Kai, noch immer in Gefahr, jederzeit beschossen zu werden, kirchturmhohe Containerbrücken umgeben sie, kilometerlange beleuchtete verlassene Kaianlagen. In der Ferne blenden die Frontlichter zweier Autos auf, Fortia atmet durch, seine Leute, sie hatten an einem anderen Abschnitt des Hafens gewartet, sie rasen auf uns zu, steigen aus, die Männer der beiden Gruppen umarmen sich, lachen erleichtert, klopfen sich auf die Rücken. Im Licht der Autoscheinwerfer sehe ich zum ersten Mal die Gesichter der Eingeschlossenen von Misurata, stressgegerbt, graue Bartstoppeln, ausgezehrte Menschen, die fahrig sind in allen Bewegungen, sich immer wieder über die Schultern schauen, die Augen aufreißen, wie gejagtes Wild. Die Männer gehören zum Übergangsrat von Misurata, Akademiker, Rechtsanwälte und Ingenieure.„Wir sind froh“ sagen sie.„dass ihr gekommen seid.“
Gaddafi hat seine Truppen in der Stadt heute um 30 neue T-72-Panzer verstärkt.
Der in Sibirien gebaute T-72 ist die gefürchtetste Waffe im Arsenal des Despoten, der Tyrannosaurus seiner Truppen. Alle Panzerfäuste prallen an seinem Stahl ab, alle Benzinbomben, die sie in Misurata in ihren Wohnungen bauen. Der T-72 macht Gaddafi in dieser Stadt fast unverwundbar – bislang.
Feuer brennen in der Nacht, durch die ich im Wagen eines Rechtsanwaltes fahre, viel zu schnell flieht er über Straßen, auf denen Tausende Menschen kampieren. Zum Hafen hin drängten in den vergangenen Wochen lange Kolonnen ägyptischer Gastarbeiter, jetzt gibt es von dort kein Weiterkommen. Die Gruppe an Fahrzeugen, die sich an der Liegestelle der „Ezzarouk“ bildete, hat sich so rasch aufgelöst, wie sie zusammengekommen war.„Wir müssen von hier weg,“ hat der Anwalt gesagt,„bevor sich die Nachricht von der Ankunft des Schiffes in der Stadt herumgesprochen hat.“ Auch hinter den Kampflinien wird getötet und entführt, herrscht Misstrauen, sickern Scharfschützen von außen ein. Deshalb die Eile, diese fortwährende Hast, nur minutenlange Aufenthalte an einem Ort, Ankommen und Aufbrechen im selben Moment, das lernten die Belagerten in diesen Wochen, den Takt des Überlebens.
Die Stadt Misurata war Libyens Tor zur Welt, die Wirtschaftsmetropole des Landes, durch ihren Hafen liefen die meisten Waren. Es ist die Heimat der Millionäre und gilt als vermögendste des Wüstenstaats. Die wenige Industrie, die Gaddafi in den 42 Jahren seiner Herrschaft aufkommen ließ, konzentriert sich hier. Im Stahlwerk arbeiten 6000 Menschen, es gibt Textilfabriken, Druckhäuser, viel Transportgewerbe, eine Freihandelszone. Von Misurata aus wollte Gaddafi, der hier zur Schule ging, in den nächsten Jahren eine Schnellzugverbindung nach Bengasi bauen. Großzügige Villen prägen den Ort und nicht Armutsviertel.„Wir hatten die Stadt bei der Revolution nicht auf der Rechnung,“ sagt Minister Tarhouni, der im Exil über Jahrzehnte die libysche Opposition organisierte. „Bengasi,“ sagt er, „das war schon immer Unruheherd, auch Zawia im Westen, aber Misurata?“
Der Rat der Stadt schart sich zwei Stunden nach Mitternacht um Tarhouni, der als erstes Mitglied der Übergangsregierung aus Bengasi hierhergekommen ist, eine private Versammlungshalle, Männer hocken auf dem Teppichboden, draußen die Explosionen von Artilleriegeschossen, mal ferner, mal näher.„Gaddafi hat in den letzten Tagen Geländegewinne erzielen können,“ berichtet der Ratsvorsitzende Khalifa Abdelah, ein Richter. Die USA, die den Despoten von U-Booten aus mit Tomahawk-Raketen angriffen, konnten den Vormarsch stoppen. Jetzt haben aber die Kanadier übernommen.„Die sind zu vorsichtig,“ klagt der Ratsvorsitzende. Gaddafis Panzer, die entlang einer Zentralachse in die Innenstadt vorrückten, der Tripolis Straße, versteckten sich unter Bäumen, im Schutz von zivilen Gebäuden, sie parkten in den Erdgeschossen von Häusern, deren Zwischenwände sie zuvor niedergerissen hatten.„Seit drei Tagen sind die Panzerfahrer wieder mutiger, sie fürchten den Himmel nicht mehr.“ Fällt die Verteidigung der Rebellen, das wissen die Männer hier im Saal, wird Gaddafi keine Gnade kennen, das kannte er noch nie, sie werden sterben. Der Rat der Stadt ist in diesen Tagen ein Rat der Angst.
In den nächsten Stunden, die wir in einer aufgegebenen Ferienanlage verbringen, unternehmen Regierungseinheiten einen weiteren Versuch, die Straße zum 15 Kilometer entfernten Hafen zu erobern. Und damit Misurata von seiner letzten Nachschublinie abzuschneiden. Dem Meer.
Das Blut der Nacht bedeckt am Morgen den Parkplatz, auf dem viel zu wenige Ärzte viel zu viele Verletzte operieren. Zwischen den Markierungslinien stehen Notfallbetten, darüber ist ein Partyzelt gespannt. Misurata hat in der tiefsten Not kein funktionierendes Krankenhaus. Das alte wird seit anderthalb Jahren renoviert, das Ausweichspital ist von Gaddafis Truppen in Brand geschossen. Den Ärzten bleiben nur drei kleine Privatkliniken, bessere Gemeinschaftspraxen, in denen früher Zahnärzte und Orthopäden untergebracht waren. Eine dieser Kliniken wird gerade Richtung Meer verlegt, weil die Front ihr allmählich zu nahe kommt. Ich treffe auf dem Parkplatz auf verängstigte philippinische Krankenschwestern und erschöpfte Chirurgen, mit glasigen Augen, sich überschlagender Stimme.
„Ich bitte dich,“ sagt einer und berührt mich am Arm. „Bete für uns.“ Er behandelt einen 28-Jährigen, den sie eben aus einem Vorort brachten, vor seinem Haus von einer Granate getroffen, wie die Sanitäter erzählen, bevor sie wieder vom Parkplatz hasten. Der Unterleib ist ein klaffendes Loch, aus dem der Dickdarm ragt.„Es wird wehtun,“ sagt der Arzt zu ihm, als er dem Mann einem Plastikschlauch durch die blutverkrustete Nase zwängt. Ein anderer, mit Kopfbinden verhüllt, bebt am ganzen Körper. Ein Bombensplitter ist ihm durch das linke Auge in den Schädel geschlagen.
Es sind komplette Familien, die hierher gebracht werden, Familien, die in der Stadt mit dem Auto unterwegs waren, als sie eine Granate traf, die in der Wohnung saßen, Kinder, die im Garten spielten. Unterschiedslos wie Hagelkörner gehen die Metallklingen über den Häusern nieder. Sie bedecken den Boden der Straßen, 15 Zentimeter lang manchmal, wild gezackt, eine leichte Berührung genügt, um sich an ihnen zu schneiden. Die Mediziner operieren Tag und Nacht, immer in Gefahr, ebenfalls getroffen zu werden. Sie beugen sich über Wunden, die auch sie bisher nicht kannten, Verletzungen, wie sie nur großkalibrige Artillerie anrichtet. Es gibt Doktoren, die können nicht mehr. Ein Anästhesist steht am Bett eines Kindes, eine halbe Stunde lang, die gesamte Zeit, die ich in der Klinik bin, in der Hand eine Spritze, reglos, unansprechbar.
Die Kämpfe um die Straße zum Hafen nehmen im Laufe des Tages an Heftigkeit zu. Über den Häusern ballen sich Rauchwolken. Ich sitze im Wagen von Ahmed, einem gemütlichen Mann mit feisten Backen. Er ist Mitarbeiter des Medienzentrums der Rebellen und meist der Einzige, der die Welt mit Nachrichten aus Misurata versorgt. Ahmed, eigentlich Personalleiter der Molkerei, ist Reuters, CNN und BBC. Er zeigt mir die Stadt, über deren Straßen frische Aufschüttungen laufen, hohe Sandwälle, auf denen die Fahne des neuen Libyens weht. Die Rebellen haben alle 150 Meter Kontrollpunkte eingerichtet, Container mit Fernseher drin dienen als Unterstände. Es gibt dort meist keine Waffen, nur Stahlnägel im Sand, um Reifen platzen zu lassen. So geht es stoßweise durch den Verkehr, in einem Zustand kontrollierter Panik. Mehrfach am Tag verlegen die Einwohner ihre Familien, wenn sie das Gefühl haben, es sei in einem anderen Quartier etwas sicherer. Heftig wie in einem Wasserglas schwappen die Automassen innerhalb des Belagerungsringes hin und her.
Wozu die Axt auf dem Armaturenbrett, frage ich Ahmed. Willst du damit jemanden erschlagen? Genau das, sagt er. Vor zwei Wochen habe er damit im Stau auf einen Wagen eingehackt. „Die hatten mich verfolgt. Ich muss mich schützen.“ Und Schusswaffen sind Mangelware in Misurata.
Die drei Kinder von Nadira Hiba drängen sich an ihre Mutter, eine Zahnärztin, die zusammen mit anderen Ausgebombten im Klassenzimmer eines Gymnasiums lebt.„Wir haben genug, zu essen,“ sagt die 38 Jahre alte Frau. „Die Schulkomitee kocht für uns. Wir haben genug, zu trinken. Aber diese Angst. Ich habe solche Angst um meine Kinder.“ Der Fünfjährige käme mit den ständigen Explosionen noch am besten zurecht. „Er glaubt, es ist ein Spiel. Ganz ist er auf seinen Gameboy konzentriert. Sein Bruder, acht Jahre alt, weine viel. Er uriniere nachts in die Decken. Die größte Sorge der Mutter aber gilt ihrer 17-jährigen Tochter, „meine Liebe,“ sagt sie und umarmt das Mädchen. Reiche und arme Familien leben in der Schule, ständig gebe es Zank, erzählt Hiba. Um die Sauberkeit. Über falsch verstandene Blicke. Die Nachbarn beschwerten sich über die im Hof spielenden Flüchtlingskinder. Die Wucht der Explosionen reiße immer wieder die Fenster der Klassenzimmer auf. „Kommt denn kein Schiff, um uns hier rauszuholen?“, fragt sie mich. „Bringen die denn nur Waffen?“ Die Telefonnummer ihrer Mutter schreibt sie mir auf den Block, die wohne in Bengasi, seit Wochen gebe es keine Telefonverbindungen mehr, ich solle ihr sagen, dass sie am Leben seien.
Ahmed, der Mann aus dem Medienzentrum, mahnt zum Gehen. Zu lange seien wir schon hier, überall gebe es Spione.
Die Front zerfasert in Misurata wie ein Krebsgeschwür, sie metastasiert in alle Richtungen. Der Tod ist in vielen Fensterhöhlen. Keilförmig sind Gaddafis Truppen in die Stadt vorgestoßen. Die beiden wichtigsten Straßen sind inzwischen ihre Operationsbasen, von hier aus rasseln Panzer in die Stadtviertel und ziehen sich dann wieder hierher zurück. Sie werden gesichert von Scharfschützen in den umliegenden Gebäuden. So deckten sie sich gegenseitig, erklärt Ahmed. Du weißt nie, wo wer ist. Die Hochhäuser der Stadt sind jetzt ihr Fluch. Drei gibt es noch von ihnen, wie weiße Schneidezähne ragen sie aus dem Häusermeer, das vierte ist am Vortag von einer Nato-Rakete dem Erdboden gleichgemacht worden.„Es war ein Nest,“ sagt Ahmed.„Wir fanden darin die Leichen von 25 Gaddafi-Leuten.“40 Prozent aller Verletzten und Toten, schätzen die Ärzte, werden Opfer von Scharfschützen.
Ahmed will mir die Zerstörungen im Zentrum zeigen, aus sicherer Entfernung, biegt dorthin ab, wo sich der Verkehr ausdünnt. Ahmeds Wagen passiert einen Kontrollpunkt, für die sie einen Bosch-Kühlschrank quergelegt haben. Über ein Funkgerät am Seitenfenster hält er sich über die Kampfhandlungen auf dem Laufenden. Die Straßen sind mit Teppichbahnen bedeckt, getränkt mit Benzin. Bei Panzerangriffen stecken sie die Rebellen in Brand, manchmal gelingt es ihnen über solche Feuerbarrieren, ältere russische T-Modelle außer Gefecht zu setzen. Eine große Stille ist über den Flaniermeilen der Stadt, herab gebrochene Fassaden liegen auf ihnen, Müll und ausgeglühte Autowracks. Die Straßen ähneln hier Gusskanälen, durch die im Stahlwerk flüssiges Eisen schießt.„Ahmed,“ dränge ich,„kehr um.“„Noch nicht,“ sagt er. Die nächste Feuerlinie sei weit weg.„Ahmed,“ setzte ich wieder an, als wir in eine weitere schwarz ausgebrannte Gasse biegen, da setzt Gewehrfeuer ein, von irgendwoher, nach irgendwohin, nah auf jeden Fall, viel zu nah.„Zurück!“ schreie ich, schreit der Fotograf. Jetzt endlich hält Ahmed den Wagen an, legt den Rückwärtsgang ein. Seine Augen sind starr, die Stirn ist verschwitzt, wie im Wahn wirkt plötzlich der sonst so bedächtige Mann.
Die Imane besteigen die Minarette der Stadt, wenn die Regierungstruppen angreifen. Durch Megafone beschwören sie den Allmächtigen und singen gegen den Lärm der Explosionen an. Der Radiosender „Freies Libyen“ spielt Marschmusik. Vier Mal musste die kleine Mannschaft von Rebellenreportern schon innerhalb der Stadt umziehen, die Granaten Gaddafis treiben sie vor sich her. Die 120 Meter hohe Sendeantenne an der Küste ist das Ziel ständigen Artilleriefeuers. Zwei Tage zuvor landeten Spezialeinheiten mit einem Schlauchboot hinter den Linien und sprengten am Masten eine Haftmine. Der Turm knickte ein, fiel aber nicht. In gefährlicher Schieflage hängt er seither über der Stadt.
Zum Abschied hält Minister Tarhouni in einem Sportlerheim eine Rede an die Ratsmitglieder. Sie sitzen in tiefen pfirsichfarbenen Sesseln. Er spricht von Misurata als Krone der Revolution. Dass Libyen wieder das Recht erworben habe, in Würde aufzuerstehen. Er muss dann gehen. Ein Mitarbeiter in Bengasi berichtete ihm über das Satellitentelefon, dass die Ölquellen im Süden in Brand gesteckt worden seien. Der Rat bittet ihn noch um finanzielle Garantien für die Händler, die ihre Waren zu Niedrigstpreisen abgeben, dabei draufzahlen würden. Tarhouni stimmt zu, will zudem Doktoren, Medikamente, Windeln organisieren. Der Hafenschlepper „Ezzarouk“ wartet wieder auf ihn. Einige der ägyptischen Flüchtlinge trommeln bei der Einfahrt zum Hafen auf den Wagen, sie versuchen ihn zu stoppen, die Türen aufzureißen, legen die Handflächen auf die Seitenfenster, gleiten ab, brüllen hinterher. Es heißt, heute Morgen hätten sie zwei Granaten nur knapp verfehlt.
Am Kai bleibt Sulamain Fortia zurück und winkt. Er wird am nächsten Tag ein Fischerboot nehmen und seine zwei Söhne aus der Stadt schaffen. El-Muntasser, der Millionär, reist mit uns auf der „Ezzarouk“ zurück, um in Bengasi weitere Waffen zu besorgen. Der Seegang ist schwer, viele liegen mit Übelkeit in den Kajüten. Kapitän Abdullah ist auf der Brücke meist allein. Aus dem Funk dringen die Durchhalteparolen des Senders in Misurata, laut und durchdringend, schließlich schwächer. Es knackt und kratzt, bis nur noch einzelne Silben zu uns hinausreichen.
Dann ist es im Funk wieder stumm. Zurück |