Ganz Europa starrt in diesen Tagen auf Irland. Auf jene unschuldig schöne Insel, von der Heinrich Böll einst schwärmte, und die heute den ganzen Kontinent und seine Währung in den Abgrund zu ziehen droht. Wie konnte aus dem verträumten Land der Krisenherd Nummer eins werden?
Markus Feldenkirchen beschreibt in seinem Roman "Was zusammengehört" die Entwicklung Irlands vom ärmsten und rückständigsten Land Europas zum Paradies für Immobilienhaie und Finanzjongleure. Er zeigt, wie mit dem Verfall der kirchlichen Autorität und dem Hunger nach Wohlstand in kürzester Zeit ein völlig neues Irland entstehen konnte: Das Krisen-Irland, das nur noch wenig gemein hat mit den romantischen Klischees der Vergangenheit.
Benjamin, der Protagonist des Romans, lebt als erfolgreicher Banker in Frankfurt. Gleich zu Beginn der Geschichte tritt er eine Dienstreise in die Docklands an, das neue Finanzviertel Dublins, und begibt sich zugleich auf die Spuren seiner ersten großen Liebe. In Dublin soll er bei der kriselnden Tochterbank nach dem Rechten sehen. Hochaktuell beschreibt der Autor in "Was zusammengehört" jenes Milieu und jene Mentalität, die Irland an den Rand des Ruins gebracht haben.
Auf dem Hinflug hatte ich ein Dossier meiner Bank über den Finanzplatz Irland überflogen. Anfang der neunziger Jahre hatte die irische Regierung den Steuersatz für Unternehmen auf zehn Prozent gesenkt, und diese Zehn wirkte fortan wie eine Sirene auf die Unternehmer in aller Welt. Ähnlich wie die Iren hatte Ende der Achtziger auch die Chinesen gehandelt. Die Kommunistische Partei hatte kleine Kapitalismusparadiese geschaffen, in denen alles möglich war, was Unternehmern Spaß macht, und das ganze "Sonderwirtschaftszone" genannt.
Der Einladung in die "Sonderwirtschaftszone Docklands" waren seit den Neunzigern vor allem wir Finanzmenschen gefolgt, Irland zog uns an wie es einst die Hippies und Träumer angezogen hatte. Viele Banken hatten Zweckgesellschaften in Irland gegründet, um ihre risikoreichsten Geschäfte aus ihren Bilanzen auszulagern, die Staatsaufsicht drückte gern die Augen zu. Irland hatte etwas von einem Bordell, einem Ort, wohin man geht, um die schmutzigen Sachen zu machen, die man sich zu Hause nicht traut.
Auf dem Glastisch im Foyer unserer Tochterbank lag die lachsfarbene Zeitung und ein Magazin namens PORTfolio, eine Zeitschrift für alle, die in den Docklands lebten und arbeiteten. Auf der ersten Seite warb ein VIP-Taxibetrieb für seine Dienste, Chirurgen verhießen schöne neue Nasen, Sauerstoff-Salons hechelten nach Kundschaft, in Kleinanzeigen wurde Tagesbetreuung für Hunde, Kinder und Katzen angeboten. Über das ganze Heft verteilt konkurrierten zahlreiche Zahnspezialisten und Kliniken darum, wer die weißesten Zähne hinbekommt. War es im 19. Jahrhundert die Weißheit der Haut, an der man die jeweiligen Eliten erkennen konnte, so war es nun die Weißheit der Zähne.
Plötzlich stand eines der Models vom Empfang vor mir und lächelte mich an. "Darf ich Sie nach oben bitten?" Sie führte mich zu den Aufzügen. "Fahren Sie bitte in den zehnten Stock. Herr Davenport erwartet Sie dort."
Als die Türen auseinanderschnurrten, wartete ein Mann mit halb geöffneten Armen auf mich. "Da ist er ja, unser Sherlock Holmes aus Germany", sagte er zur Begrüßung, er lachte schallend. Alles an ihm funkelte, die Schuhe, die Uhr, die Zähne. Die Zahnspezialisten der Docklands hatten ganze Arbeit geleistet.
"War nur ein Scherz", schob er hinterher, als sein Lachen abgeklungen war.
"Sind die Zähne echt?", fragte ich. Er blickte mich irritiert an.
"War auch nur ein Scherz", sagte ich. Wieder wieherte er los. Bis zu diesem Moment war ich davon ausgegangen, dass Lachen die Menschen schöner mache.
"Edward Davenport", sagte er und fuhr seine Hand wie einen schussbereiten Colt aus. "Just call me Ed." Er klopfte mir auf die Schulter, als wären wir alte Kumpel. "Ich bin hier der Senior Vice President, der Hilfssheriff, wenn Sie so wollen. Der Sheriff selbst ist gerade in London." Dann wies er mir den Weg in einen Besprechungsraum, aus dem sich ein prächtiger Blick auf den Fluss Liffey öffnete.
"Schön haben Sie's hier."
"Wer hart arbeitet, darfs auch schön haben", entgegnete Davenport. Er blickte mich an. "Oder?"
"Absolut", sagte ich. "War auch nicht als Vorwurf gemeint." Ich wusste, dass es in unserer Branche von Lackaffen wimmelte, manche hielten mich wahrscheinlich selbst für einen, obwohl ich mich immer bemüht hatte, keiner zu werden. Ein solcher Oberlackaffe wie Davenport aber war mir schon lange nicht mehr begegnet.
"Ich weiß, dass Sie sich in Deutschland Sorgen über unsere Performance machen. Kommen wir also gleich zur Sache. Brandy?" Ich schüttelte den Kopf.
"Ich habe eine kleine Übersicht vorbereitet, wenn Sie gestatten." Er drückte die Tasten einer Fernbedienung, vor den Fenstern fuhren Lamellen herunter. Dann stand er auf und klappte ein weißes Notebook auf, das am Ende des Tisches auf seinen Einsatz gewartet hatte. "Ich denke, das gibt Ihnen einen guten Eindruck, was wir hier machen." An der Wand erschien ein Schriftzug: "Herzlich willkommen in Dublin, Benjamin."
Bald flogen Kurven und Diagramme an die Wand, kleine Bilanzkunstwerke, einige farbig, andere schwarzweiß, denen der Künstler das immer selbe Thema gegeben hatte: Erfolg.
Nach fünf Minuten unterbrach ich die Präsentation.
"Entschuldigung, aber das ist alles bekannt, das ist alles Vergangenheit. Was mich interessiert, ist die Gegenwart."
"Tja, die Gegenwart", murmelte Davenport. "Die ist in diesen Diagrammen natürlich noch nicht ganz eingespeist."
Er wolle aber festhalten, fuhr er fort, dass die Vergangenheit großartig gewesen sei, fette Jahre mit fetten Gewinnen, von denen wir in Deutschland fett profitiert hätten. Er könne sich jedenfalls nicht erinnern, dass es in der Vergangenheit Klagen oder Warnungen aus Frankfurt gegeben habe.
"Geschenkt", sagte ich. "Und wie ist es nun um die Gegenwart bestellt?"
"Um ehrlich zu sein: schlecht." Er wartete vergeblich auf eine Reaktion von mir, schließlich ergänzte er: "Sehr schlecht."
So viel wusste ich bereits. Um Präziseres über den wahren Zustand unserer irischen Tochter zu erfahren, hatte Edzatt, mein Boss, mir einen Fragenkatalog auf meinen Blackberry geschickt, den ich nun abarbeiten wollte.
"Machen Sie das Ding bitte aus." Ich zeigte auf den Laptop.
"Jetzt reden wir über die Wirklichkeit." Ich holte meinen Blackberry aus der Sakkotasche, um Edzatts Fragen zu überfliegen. "Mich würde zum Beispiel interessieren, ob es in letzter Zeit Stresstestmessungen gegeben hat?"
"Hat es", antwortete Davenport. "Wobei aber kein vollständiges Worst-Case-Szenario unterstellt wurde."
"Und was hat der Stresstest ergeben?"
"Dass sich in zwanzig Geschäftstagen erstmals ein negativer Liquiditätssaldo ergeben könnte."
Wieder fiel mir auf, was ich in letzter Zeit häufiger bemerkt hatte: in was für merkwürdigen Sätzen wir miteinander sprachen, ohne dabei lachen zu müssen. Die gesamte Finanzbranche hatte sich zu einer gigantischen Verpackungsindustrie entwickelt. Mit den faulen Krediten verfuhren wir ähnlich wie die Leute auf dem Rummelplatz mit alten Äpfeln oder Bananen: Sie überzogen sie einfach mit Schokoladenglasur und verkauften das Ganze als Spezialität.
Unsere Glasur war die Sprache; wir waren durchaus kreativ gewesen.
"Ein negativer Liquiditätssaldo also?"
Davenport nickte.
"Im Klartext: Ihr seid pleite."
Er zuckte mit den Schultern. Als er merkte, dass mein Blick nicht von ihm wich, nickte er, erst zögernd, dann bestimmter. Ich spürte eine leichte Übelkeit in mir aufsteigen, es war einer jener Augenblicke des Unwohlseins, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren stellte ich mir ernsthaft die Frage, wie ich zum Bankmenschen hatte werden können.
Als ich einsehen musste, dass aus mir kein Fußballprofi werden würde, musste ich mir notgedrungen neue Ziele setzen. So studierte ich brav BWL, reihte mich ein ins Heer der Barbour-Jacken, ohne selbst eine dieser Uniformen zu tragen, und fand im Laufe der Semester sogar ein wenig Gefallen an der Materie. Betriebswirtschaft war weit weniger anstrengend als ein Jurastudium, trotzdem verhieß es die Chance auf eine ordentliche Karriere. Was mir weniger gefiel, waren die Mädchen mit den Perlenohrringen.
"Sherlock Holmes hätte im Prinzip nur noch eine Frage."
Ich blickte Davenport an. "Nur zu", sagte er.
"Wie konnten Sie so weit gehen, ich meine, bis an den Rand der Pleite?"
Inzwischen erinnerte nichts mehr an jenen Davenport, der mich vor einer halben Stunde mit strahlendem Grinsen am Aufzug empfangen hatte. Er sah aus wie ein Kind, das beim heimlichen Naschen ertappt worden war. Selbst seine Zähne wirkten plötzlich belegt.
"Das größte Problem sind diese Dinger."
Er klappte seinen Laptop wieder auf und suchte etwas auf der Festplatte. Auf der Leinwand erschienen die Umrisse eines Hauses, darüber stand North Wall Quay. "Eine unserer Einzweckgesellschaften, taucht in keinen Büchern auf. Randvoll mit Credit Default Swap, das meiste aus den USA." Seine Stimme klang so unaufgeregt, als rede er über Sparschweine. "Wir sprechen hier über Ramschkredite, oder?", unterbrach ich ihn. "Über Kredite für Häuser, die sich die Menschen in Wahrheit gar nicht leisten können."
"Dass sie es sich nicht leisten können, konnte ja vorher keiner wissen", antwortete Davenport. "Außerdem haben wir schon seit einiger Zeit Probleme, selbst an Kredite zu kommen. Seit dem Fall der Mauer aber geht gar nichts mehr."
"Seit dem Fall der Mauer?"
"Ist lustig, was? Habe ich in der Zeitung gelesen: dass der Fall der Lehman-Bank für den Kapitalismus das sei, was der Fall der Berliner Mauer für den Kommunismus gewesen ist. Keine Ahnung, ob das stimmt."
Ich musste an das Interview mit diesem katholischen Erzbischof denken, das ich neulich im Radio gehört hatte. Es ging darum, ob der Mauerfall etwas mit der gegenwärtigen Finanzkrise zu tun habe. "Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Entfesselung des Kapitalismus und dem Zusammenbruch des Kommunismus?", wurde der Bischof gefragt, der lustigerweise Marx hieß und lange Zeit in Trier gepredigt hatte. "Absolut", meinte er. Im Wendejahr 1989 finde man den tieferen, den eigentlichen Ursprung für diese Zockerei an den Finanzmärkten, unter deren Folgen wir jetzt litten. "Da war der Druck des Systemwettbewerbs plötzlich weg."
Ich glaube, Marx hat recht. Seit der Kommunismus an seinem Unvermögen starb, fehlt dem Kapitalismus der Anreiz, nett zu sein. Er muss sich nicht mehr schön machen, er kann sich gehen lassen, er hat ja gewonnen. Es ist wie bei Eheleuten, die hemmungslos futtern, sobald sie verheiratet sind. Als es den bösen Ostblock noch gab, hatte der Kapitalismus Maß gehalten, obwohl das seinem Wesen eigentlich fremd ist. Er wollte nicht nur effizienter sein, sondern auch anständiger als sein Feind, der Kommunismus. Er wollte überlegen sein, in jeder Hinsicht. Als der Gegner dann besiegt war, als die Menschen, die lange im Kommunismus gelebt hatten, ihm willenlos in die Arme fielen, da musste der Kapitalismus sich nicht mehr rechtfertigen, da hatte er nicht mehr viel zu verteidigen. Vor allem keinen Ruf.
"Seit Lehman Brothers vor zwei Wochen kapituliert hat, geht gar nichts mehr", sagte Davenport. "Keine Bank leiht der anderen mehr Geld." Er deutete aus dem Fenster. "Niemand dort draußen traut seinem Nachbarn noch über den Weg. Dabei benötigt niemand dringender Kredite als wir."
"Und nun?" Ich zeigte auf die Leinwand, wo noch immer die Umrisse des Hauses leuchteten. "Was passiert jetzt mit North Wall Quay?"
Davenport war völlig in sich zusammengesunken, er hing schlaff mit seiner Brust gegen die Tischkante. "Wir brauchen ein paar Milliarden aus Frankfurt, ihr müsst uns helfen", sagte er leise. "Sonst gehen wir alle unter."
"Ihr geht dann unter", erwiderte ich.
"Nein, wir alle gehen dann unter. Ihr haftet für uns, falls ihr das vergessen habt."
"Wie viel braucht ihr genau?"
Er ließ sich lange Zeit mit seiner Antwort. "Sechs Milliarden vielleicht." Er schwieg eine Weile. "Vorerst." Wieder eine Pause. "Später eventuell mehr."
Ich hatte den Eindruck, meinen Auftrag damit erledigt zu haben, den Rest mussten andere regeln. "Okay Ed, dann überlassen wir alles Weitere unseren Chefs", sagte ich. "Den Obersheriffs, wenn Sie so wollen."
"Einverstanden", sagte Davenport, er klang erleichtert. "Kommen Sie, wir gehen jetzt was essen. Ich habe einen Tisch in der Ely Brasserie reservieren lassen, gleich drüben am George's Dock, wo früher die Frachter entladen wurden. Da gibt es die blutigsten Rumpsteaks der Stadt. Dazu trinken wir einen schönen Pétrus Pomerol, Jahrgang 2000."
"Warum gerade den?", fragte ich. "Zur Feier des Tages?"
"Weil er der Beste ist. Ist sicher nicht zufällig der teuerste Wein der Karte."
Ich kannte dieses Argument. Der Preis diente in meiner Branche häufig als Geschmackshilfe. Nicht nur bei Weinen.
"Tut mir leid", antwortete ich. "Aber das geht nicht."
"Kommen Sie, ein Fläschchen geht immer. Wenn unser Kahn hier schon untergeht, sollten wir die letzten Stunden an Bord wenigstens genießen." Er grinste jetzt wieder wie zu Beginn unserer Begegnung.
"Geht leider nicht, ich habe noch eine Verabredung."
"Nun denn", sagte Davenport. "Dann hoffe ich, dass es sich wenigstens um eine Frau handelt."
"In gewisser Weise schon."
"Ist sie hübsch?"
"Ich hoffe es."
"Wie? Das wissen Sie nicht?"
Ich gab ihm die Hand, sagte noch, dass Edzatt, mein Boss, in den nächsten Tagen sicher vorbeikommen werde, drehte mich um und verschwand im Aufzug.
Als ich das Gebäude verlassen hatte und nach einem Taxi Ausschau hielt, um schneller bei Victorias Briefen zu sein, fiel mir eine Graffiti-Zeichnung an einem der Bankgebäude auf. Sie zeigte einen in seinem Blut liegenden Tiger, der ein Halsband der Marke Gucci trug. Darunter hatte der Künstler einen Spruch gesprayt: Keltisches Kätzchen, ruhe in Frieden. Zurück |