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Prämierte Texte

Konstantin Richter „Der Kulturkampf

Diese Reportage wurde mit dem Reporterpreis 2011 in der Kategorie Kultur prämiert.

Also Nabucco. Der neue Generalintendant hat sich das genau überlegt. Mit welcher Oper er einsteigt, ist wichtig. Eine große Produktion muss es sein, eine Produktion, die was hermacht. Kein Mozart, das wäre nicht groß genug. Auch nichts Modernes. Den Fehler hat der Generalintendant schon mal gemacht, Mitte der neunziger Jahre in Bremerhaven, als er gleich zwei Opern aus dem 20. Jahrhundert zeigte. Am Ende der Saison wurde das Stadttheater zum Opernhaus des Jahres nominiert und hatte 8000 Zuschauer weniger. So etwas kann sich der Generalintendant nicht mehr leisten. Nicht jetzt, nicht hier, in Flensburg, am Landestheater Schleswig-Holstein.

Nein, es sollte schon das 19. Jahrhundert sein. Was Italienisches mit Gefühl. Also Verdi. Dummerweise sind die beliebtesten Verdi-Opern gerade in Flensburg gespielt worden. La Traviata und Rigoletto hatte der Vorgänger des Generalintendanten schon auf den Spielplan gesetzt. Und der Rigoletto gefiel den Flensburgern nicht einmal, obwohl er doch ein Klassiker ist, eine von den zehn bis zwanzig Opern, die immer wieder gezeigt werden. Der Flensburger Rigoletto spielte in einer Nazikneipe, Rigoletto war Türke, seine Tochter hielt er im Keller gefangen, und am Ende buhten die Flensburger so laut wie Schalke-Fans, wenn der Erzrivale Borussia Dortmund aufläuft. Mit solchen Inszenierungen hat der Vorgänger des Generalintendanten viele Opernfreunde vergrault.

Dann gibt es noch Nabucco. Auch eine berühmte Verdi-Oper. Nabucco spielt in vorchristlicher Zeit und handelt von der Unterdrückung der Hebräer durch die Babylonier. Am berühmtesten ist der Gefangenenchor, »Steig, Gedanke, auf goldenen Flügeln«, gerade erst hat man ihn in der Flensburger Fußgängerzone gehört. Jeden Freitag demonstrieren dort Dutzende Mitarbeiter für ihr Theater, sie singen den Gefangenenchor und das Schleswig-Holstein-Lied. Der Generalintendant sagt, der Gefangenenchor sei in Flensburg »fast ein Fanal« geworden. Er sieht durchaus eine Parallele zwischen den unterdrückten Juden in Nabucco und dem Landestheater Schleswig-Holstein, das ja ebenfalls bedroht ist. In beiden Fällen, sagt er, gehe es um Freiheit und kulturelle Identifikation.

Der Generalintendant heißt Peter Grisebach, ist gelernter Konzertpianist und Balletttänzer, bei mehr als hundert Opern hat er Regie geführt. Zuletzt hatte er das Angebot, Alban Bergs Lulu in Südkorea zu inszenieren. Stattdessen ist er in Schleswig-Holstein und inszeniert die Rettung des Landestheaters. Es ist April dieses Jahres, im Foyer steht ein Plakat: »Noch 31 Wochen bis zur Entscheidung am 30.11.2010. Helfen Sie uns!« Die Zahl 31 steht auf einem losen Blatt, Woche für Woche wird sie durch niedrigere Zahlen ersetzt werden, und Ende November wird dort die Null stehen. Dann wird der Aufsichtsrat tagen.

1,4 Millionen Euro pro Jahr sind es, die dem Landestheater fehlen. Wenn das Land die Zuschüsse nicht erhöhe, sagt der Generalintendant, müsse der Aufsichtsrat den Opernbetrieb einstellen, um die Insolvenz zu vermeiden. 85 Mitarbeiter müssten gehen, knapp ein Viertel der Belegschaft. Und dann? Der Generalintendant macht eine Pause, dann buchstabiert er dem Reporter die Katastrophe ins Notizbuch: »Der gesamte Norden Schleswig-Holsteins«, Pause, »die Mitte Schleswig-Holsteins«, Pause, »und der Westen«, Pause, »würden von der Versorgung mit klassischem Musiktheater abgeschnitten.«

Generalintendant Grisebach ist 57 Jahre alt. Sein schwarzer Mercedes mit hellen Polstern steht vor der Tür, die Lederjacke hat er über einen Stuhl geworfen. Die Krawatte ist rosa und mintgrün gestreift, die hohe Stirn ein bisschen zu stark gebräunt für die Jahreszeit. Grisebach liebt den großen Auftritt, und er weiß, dass er jetzt eine gute Dramaturgie braucht. Wenn überall in Schleswig-Holstein gespart werden soll, wenn Kliniken privatisiert und an Hochschulen Studiengänge abgeschafft werden, stellt sich die Frage, warum ein Theater, das allein in der vergangenen Saison 20.000 Zuschauer verloren hat, mehr Geld bekommen soll. Knapp 17 Millionen Euro erhält das Landestheater jährlich vom Land und von den Kommunen, es muss sich zeigen, muss für sich werben, das hat es in der Vergangenheit nicht immer getan. In Flensburg ist es wie überall im Land: Der Wirtschaft geht es plötzlich viel besser, aber der Staat ist hoch verschuldet. Die Kommunen müssen sparen, doch wenn es der Kultur an den Kragen gehen soll, gibt es sofort Proteste. In Hamburg wird um Theater und Museen gestritten, in Wuppertal ums Schauspielhaus, in Dessau ist das Anhaltinische Theater bedroht. Darf an der Kultur nicht gespart werden?

Grisebach sagt, dass die Oper in den nächsten Monaten um ihre Existenz spiele und also alles an der einzigen großen Produktion hänge: an Nabucco. »Das ist ein Wahnsinn!«, ruft er und breitet die Arme aus, wendet sich an ein imaginäres Publikum: »Wir reißen hier die Türen weit auf und rufen hinaus: Kommt zurück, ihr werdet nicht enttäuscht!«

Das Flensburger Theater versteckt sich in einer Seitenstraße der Fußgängerzone, ein roter Backsteinbau aus dem späten 19. Jahrhundert. Die weißen Säulen und Rundbogenfenster sollen nach italienischer Renaissance aussehen. Flensburg ist bekannt für sein Bier, für die Punkte und für seine Sexindustrie, denn hier in der nördlichen Randlage hat Beate Uhse ihre Firma aufgebaut. Wenn man Ortsfremden erzählt, Flensburg habe dazu noch einen Opernbetrieb, sind sie meist überrascht, und auch manche Flensburger sind überrascht, weil sie von der Oper noch nie gehört haben – dabei ist an der Tatsache, dass Flensburg eine Oper hat, nichts Überraschendes.

Hochkultur ist in Deutschland überall zu finden, nicht nur in Berlin, Hamburg und München. Seit den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei gibt es hier so viele Theater wie nirgendwo sonst auf der Welt. In jeder Stadt steht zwischen Karstadt und Sparkasse ein Theater mit Sängern, Tänzern, Schauspielern, Chor und Orchester. Das Landestheater Schleswig-Holstein ist eine Wanderbühne: Schauspiel in den Städten Schleswig und Rendsburg, Oper und Ballett in Flensburg, dazu Auftritte in den Städten ringsum.

Doch die Hochkultur ist ins Blickfeld der Sparpolitiker geraten, und es ist die Oper, die sich zum Sparen anbietet. Als elitär und verstaubt gilt sie, anders als das Schauspiel, das mit neuen Stücken und Inszenierungen oft einen Nerv trifft, die Dresdner Weber mit ihrem Hartz-IV-Chor waren so ein Beispiel. Am Landestheater Schleswig-Holstein hatte die Oper zuletzt immer weniger Publikum, in Flensburg lag die Auslastung in der vergangenen Saison bei 68 Prozent, in der Stadt Schleswig waren es 37. Dabei kosten die billigsten Opernkarten bloß 15,50 Euro, wenig mehr als der Eintritt für einen Film im Kino um die Ecke.

Noch 26 Wochen bis zur Entscheidung, ein Tag Anfang Juni, die Proben für Nabucco haben angefangen. Nabucco steht in der Herrenschneiderei des Flensburger Theaters und betrachtet sein Spiegelbild. Nicht alles, was er sieht, gefällt ihm. Zwar ist die dunkelgraue Uniform eigens für ihn angefertigt worden, der Stoff hat 500 Euro gekostet. Doch die Schaftstiefel kommen aus dem Fundus. Zuletzt hat der Zigeunerbaron sie getragen, der Titelheld aus der Operette von Johann Strauß. Nabucco ist auch ein Titelheld, er wird vom Bariton Alan Cemore gesungen, und Cemore findet, maßgefertigte Stiefel wären angebracht gewesen. »Einen Schuhmacher bräuchte man«, sagt er, während er prüfend in den Spiegel blickt. »Ist die Stelle gespart worden?«

Die Kostümbildnerin zuckt mit den Achseln. Das Landestheater Schleswig-Holstein hat 381 Mitarbeiter, 25 arbeiten in der Schneiderei, ein paar von ihnen stehen um Cemore herum. Der Gewandmeister passt die Uniform an.

»In Saarbrücken«, sagt Cemore, »da hatten wir einen Schuhmacher, der hat maßgefertigte Schuhe gemacht.«

Der Gewandmeister steckt den Kragen ab. Cemore sagt: »In Wiesbaden gab es einen Rüstmeister, der einem gezeigt hat, wie man mit Waffen umgeht. Die Bühne ist gefährlich.«

Der Gewandmeister geht auf die Knie, mit Kreide markiert er am Hosenbein den Saum. Nabucco sagt: »In Bremen hatten wir jemanden, der nur Pyrotechnik gemacht hat, alles mit Schießen und Feuer.«

Der Gewandmeister rutscht auf dem Boden um Cemore herum. Dabei platzen ihm die Jeans an beiden Knien auf. »Scheiße«, sagt der Gewandmeister, »die waren neu.« Cemore sagt: »Die deutsche Stadttheater-Tradition ist wunderbar, es wäre schade, wenn das verloren ginge.«

Alan Cemore ist ein Italoamerikaner aus Wisconsin in den USA, er spricht ein sorgfältiges, von der Lektüre zahlloser Libretti geprägtes Deutsch. Wenn er »Die deutsche Stadttheater-Tradition ist wunderbar« sagt, klingt das wie der Traum eines Integrationsbeauftragten. Für Opernsänger ist Deutschland der wichtigste Arbeitsmarkt, jede siebte Oper weltweit steht hier, die Ensembles sind internationaler besetzt als die Vorstände von Dax-Unternehmen. Im Flensburger Nabucco stammen fünf von acht Solisten aus dem Ausland, im Chor sind es 16 von 23.

Vielleicht hätte ein Sänger mit wohlklingendem Bariton wie Cemore auch in Amerika bleiben können, bloß gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine begrenzte Anzahl von Opernhäusern. Als er sich an der San Francisco Opera vorstellte, riet man ihm: Wenn Sie die Chance haben, gehen Sie nach Wiesbaden! Das war vor 24 Jahren, seitdem hat Cemore überall in Deutschland gesungen. Saarbrücken, Münster, Bremen, Flensburg, sein Lebenslauf klingt wie der Fahrplan eines Intercitys.

Seit einigen Jahren beobachtet Cemore Verfallserscheinungen. Früher traten Sänger und Chor in prächtigen Gewändern auf, heute stammt die Kleidung manchmal von H&M und anderen Billigläden. In Flensburg gönnt man Cemore nicht einmal eine Perücke. Warum auch? Cemore hat einen kurz geschorenen Charakterschädel, das passt auch zum babylonischen Diktator Nabucco. Unter der Uniform trägt er ein grünes T-Shirt, in seiner Freizeit trainiert er das örtliche American-Football-Team, die Flensburg Sealords.

Wenn Cemore nicht im Theater ist, reden die anderen über ihn. Weil er in den Nabucco-Proben seine Stimme schont. Weil er oft krankgeschrieben ist. Und weil er sich darüber beklagt, dass seine Stiefel nicht maßgefertigt sind. Aber sie brauchen Cemore jetzt mehr denn je. Nabucco soll die Oper retten! Dass die Oper wegen 1,4 Millionen Euro geschlossen wird, kann sich Cemore allerdings nicht vorstellen. Er hebt skeptisch die Brauen und sagt: »Das sollen wir wirklich glauben?«

Immer noch Juni, immer noch 26 Wochen bis zur Sitzung des Aufsichtsrats. Der neue Operndirektor sitzt an einem Tapeziertisch und bespricht das Konzept mit den acht Sängern. Nabucco ist gar nicht so leicht zu erklären, der Operndirektor sagt: »Nabucco ist eine historische Erzählung, unterfüttert mit einer Dreiecksliebesgeschichte zwischen zwei Königstöchtern oder vermeintlichen Königstöchtern und einem Prinzen und mit einer politischen Geschichte, dem Konflikt zwischen zwei Machthabern. Was machen wir jetzt damit? Tja.«

Der Job des Operndirektors lässt wenig Spielraum. Die Zauberflöte, Tosca, der Freischütz und zu Weihnachten Hänsel und Gretel – die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins verzeichnet Jahr für Jahr dieselben Opern auf den Spitzenplätzen. Aus dem 20. Jahrhundert wollen die Opernfreunde allenfalls noch den Rosenkavalier hören, der nach Mozart und Wiener Walzer klingt, und die späten Puccinis, die nach Puccini klingen. Weil zeitgenössische Musik dem Publikum nicht gefällig genug ist, fehlt der Oper die Gegenwart, und die Regisseure müssen immer wieder die Evergreens inszenieren. Das erfordert Langmut. Oder Fantasie.

Die Handlung von Nabucco ist schon öfter ins Konzentrationslager verlegt worden. In München ist der Nabucco als Saddam Hussein aufgetreten, und in Berlin steckten die Babylonier in Biene-Maja-Kostümen. Aber das deutsche Publikum ist konservativ, besonders in den kleinen Städten, und viele Besucher haben die Versuche des Regietheaters satt, die Oper auf Biegen und Brechen ins Jetzt zu zerren.

In Flensburg sind selbst die treuesten Freunde ihrer Oper zuletzt untreu geworden, im Besucherbuch wurde der Ton rau. »Schrecklich«, stand dort, »Schrottreif«, und: »Was haben Bühne und Kostüme mit der Handlung zu tun? Ihr nehmt einem alle Illusionen!« Ende Februar dieses Jahres griff Grisebachs Vorgänger durch. Puccinis Schwester Angelika, inszeniert von einem Gastregisseur, der aus dem Schauplatz Kloster ein Bordell gemacht hatte, wurde gestrichen und durch eine Serie von Operngalas ersetzt. Das Ensemble sang das Trinklied aus der Traviata, das Publikum schunkelte. Im Besucherbuch stand: »Bravo! Warum ist euch das nicht früher eingefallen?«

Der Operndirektor, der Flensburg vor dem Regietheater retten soll, heißt Markus Hertel. Er ist 46 Jahre alt, ein freundlicher Brillenträger, klein und stämmig, sein Hemd ist kariert, die Jeans sitzen sehr gemütlich. Chronologisch geht Hertel das Stück durch, fünf Probewochen lang, Nabucco von A bis Z. Im ersten Akt will eine Fesselszene nicht gelingen. Wie in Jehovas Namen soll der jüdische Hohepriester gleichzeitig singen und eine babylonische Prinzessin fesseln? Versehentlich schlägt er der Prinzessin das Seil ins Gesicht, er verstummt, sie kichert verlegen. Hertel kommt auf die Bühne, macht einen fachgerechten Knoten und sagt: »Das lernt man bei den Pfadfindern.«

Als Nabucco endlich durchgeprobt ist, sind schon fast Theaterferien. Ein warmer Juliabend und noch 21 Wochen bis zur Entscheidung. Eine Operafolie wird auf die Bühne heruntergelassen. Zuletzt hat Hertels Vorgänger darauf die Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib gezeigt, der Kapuzenmann als Kulisse für die Folterszene in Tosca. Nun läuft das Erste Deutsche Fernsehen mit dem WM-Halbfinale, im Parkett sitzen die Mitarbeiter. Der Bass hat eine Vuvuzela dabei, die Maskenbildnerin erscheint im Podolski-Trikot. Für die deutsche Hymne gibt es Szenenapplaus.

Nur Hertel hadert noch. Nabucco ist eine Oper wie so viele andere – wäre sie bloß Text ohne Musik, wäre sie längst vergessen. Die Handlung ist verwickelt, es gibt zu wenig Liebe und zu viel Chor. Wie inszeniert man so etwas lebendig und bleibt trotzdem werktreu? Hertel sagt: »Ich würde mich nicht darum reißen, das Stück noch mal zu inszenieren.«

Wie Nabucco in Flensburg inszeniert wird, ob in den hängenden Gärten von Babylon oder im Big Brother-Container, das ist dem Staatssekretär egal. Er sagt: »Ich werde hier kein Opernintendant, das ist nicht meine Aufgabe.« Seine Aufgabe ist es, die Theater zum Sparen zu bringen, seine Argumente sind die Zahlen. 65 Milliarden Euro Schulden hat das Land Schleswig-Holstein, wenn man den Anteil an der Bundesschuld und die Kommunen mitzählt. »Und das steigt weiter an«, sagt er und hebt die Hände stufenweise in Richtung Decke. »Letzte Ausfahrt Griechenland!«

Der Staatssekretär arbeitet im achten Stock des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Kultur und Bildung. Ein pragmatischer Fünfziger-Jahre-Bau in Kiel mit einem Paternoster. »Letzter Stock. Weiterfahrt ungefährlich!«, steht auf einem Schild, kurz bevor man aussteigt, so als fahre der Aufzug ins Himmelreich. Aber Gott möchte hier niemand spielen, wenn es um die Kulturpolitik geht.

Wie die Sparvorgaben der Politik umgesetzt werden, sollen die Theater unter sich ausmachen. »Die handwerklichen Details können wir von hier oben nicht steuern«, sagt der Staatssekretär. Draußen vor dem Fenster schreien die Möwen.

Der Staatssekretär heißt Eckhard Zirkmann, er ist 44 Jahre alt, war Assistent der FDP-Fraktion, danach Prüfer im Landesrechnungshof. »Prüfgruppe Haushalt«, präzisiert er. Zirkmann trägt das Haar so kurz, dass die Farbe kaum auszumachen ist, die Brille ist randlos, und wenn Kulturschaffende in Schleswig-Holstein über ihn reden, sagen sie: »Irgend so ein Staatssekretär.«

Bald wird Zirkmann die Arbeitsgruppe der »Theaterstrukturkommission« moderieren, da sollen die Theaterdirektoren Vorschläge für eine kostensparende Zusammenarbeit machen. Viele eigene Ideen hat Zirkmann nicht, er weiß bloß, dass Lübeck und Kiel ähnliche Probleme haben wie das Landestheater, sie sind zu teuer. 36,7 Millionen Euro jährlich bekommen die drei Theater aus dem kommunalen Finanzausgleich, das entspricht der Hälfte des Landesetats für Kultur, und doch reicht es nicht einmal für die Personalkosten.

Hätten die Politiker in Schleswig-Holstein mehr Mut, wäre längst jemand zu den Theatern hingefahren und hätte entschieden, worauf man hier am ehesten verzichten könnte. Aber wer möchte schon als neoliberaler Banause dastehen, der die Theater vernichtet? Zirkmann hat gerade erst einen Solidaritätsbesuch hinter sich, bei den Eutiner Opernfestspielen, die ebenfalls Geldnöte haben. »Der Freischütz«, sagt er, »am Samstag«, und schaut zum Pressesprecher, der die Auskunft bestätigt: »Ja, am Samstag.« – »Schöne Aufführung«, sagt Zirkmann.

Die meisten Kritiker fanden den Eutiner Freischütz auch schön, das Hamburger Abendblatt schrieb: »Bestes Regiemusiktheater«, und zeigte das Foto einer Nackten mit aufgesetztem Rehkopf, dahinter eine Gruppe von Jägern, die, wie das Abendblatt erklärte, »singend ihre Flinten wichsen«.

13 Wochen noch bis zur Entscheidung im November, die Theaterferien sind vorbei, die Klavierhauptprobe ist angesetzt, bis auf das Orchester kommt alles zusammen: Kostüm, Maske, Ton, Technik, Licht, Requisite, Souffleuse, Statisten, Chor. Die Bühne misst 12 mal 15 Meter, kaum Platz für die 48 orthodoxen Juden, die sich mit angeklebten Bärten und breitkrempigen schwarzen Hüten an den Seiten drängen. Die Techniker scheuchen die Juden mal hierhin, mal dorthin, und dann müssen noch zwei Leute mit Druckspritzgeräten durch das Gedränge, weil der Nabucco seine Stimmbänder vor Trockenheit schützen will. Ein Techniker sagt: »Manchmal sitzen im Zuschauerraum 500 Leute, und wir turnen hier hinten mit 150 Mann rum«, und er klingt stolz, als habe er vor, irgendwann gleichzuziehen.

Dabei ist Nabucco keine aufwendige Produktion. Der technische Ablaufplan passt auf eine DIN-A4-Seite, und Technik und Licht, die mit einem Dutzend Leuten sowie zwei studentischen Hilfskräften da sind, haben nicht viel zu tun. Wenn Traubensaft, der Rotwein-Ersatz, auf die Bühne schwappt, holt ein Techniker den Wischmopp, ein zweiter übernimmt den Mopp und wischt, und wenn Statisten ordnungswidrig hinter der Bühne durchlaufen, werden sie von gleich zwei Technikern zur Schnecke gemacht. »Mensch, ihr habt doch ’n paar Jahre Bühnenerfahrung«, sagt der eine, »Ich weiß ’n guten Ohrenarzt«, der andere.

82 Prozent des Etats von rund 19 Millionen Euro gibt das Landestheater für sein Personal aus, mehr, als das Haus sich auf Dauer leisten kann. Ökonomen sprechen von der Baumolschen Kostenkrankheit: Die Kultur kann steigende Löhne nur bedingt durch Produktivitätszuwächse auffangen. Nabucco erfordert nun einmal eine festgelegte Anzahl von Musikern und Sängern, und der Nabucco kann noch so gut singen – die Rolle seiner Tochter wird er nicht zusätzlich übernehmen.

Also muss der Staat die Subventionen erhöhen. Oder die Intendanten müssen sparen, das haben sie in den letzten Jahren vor allem auf der Bühne gemacht, dort sind Einsparungen am leichtesten umzusetzen. Die Bühnenbilder sind karger geworden, die Kostüme billiger, und die Solisten verdienen inzwischen oft weniger als Chorsänger, Musiker und Techniker. In Flensburg kommt ein junger Sänger auf 1800 Euro brutto im Monat. Man kann den deutschen Opernbetrieb auch als den Gegenentwurf eines Potemkinschen Dorfs begreifen: Gespart worden ist dort, wo man es sieht.

Jetzt ist auf der Bühne nichts mehr zu holen, und das Landestheater müsste anderswo sparen. 5 Millionen Euro bekommen Technik, Werkstätten, Maske und Kostüm pro Jahr, ein Drittel der Lohnkosten. Weitere 1,4 Millionen Euro gehen in die Verwaltung. Die nicht künstlerischen Berufe – die Verwaltung und ein Teil der Technik – fallen unter den Tarifvertrag Öffentlicher Dienst. Betriebsbedingte Kündigungen sind teuer und müssen gegen Gewerkschaften und Lokalpolitiker durchgesetzt werden.

Ein Intendant kann versuchen, das fehlende Geld scheibchenweise durch Einsparungen zusammenzubekommen, das ginge auf Kosten der Mitarbeiter und irgendwann an die Substanz. Er müsste ein paar Entlassungen aussprechen, hier und da das Programm reduzieren und hoffen, dass sich die Haushaltslage bald so weit entspannt, dass die Zuschüsse für das Opernhaus steigen – bis zum nächsten finanziellen Abschwung.

Der Intendant kann aber auch drohen, dass man die Oper schließen müsse. Dafür hat sich Generalintendant Grisebach entschieden. Das ist nicht nur Taktik, sondern auch eine Glaubensfrage. Denn Grisebach glaubt, dass der Kultur das Geld zustehe und das Land für die Tariferhöhungen zahlen müsse. Auf dem Rücken der Spielplanvorschau steht in großen Lettern: »Auch die Landesregierung in Schleswig-Holstein muss lernen, was die weltweite Finanzkrise lehrt: Kultur kann ohne Geld nicht leben, aber Geld ohne Kultur ist nichts wert.« Darunter der Verfasser: Peter Grisebach.

Lübeck. Noch so eine Stadt in Schleswig-Holstein, die sparen muss. Der Theaterdirektor heißt Christian Schwandt, ist 48 Jahre alt, arbeitete früher als Steuerberater in Mecklenburg-Vorpommern und beriet dort auch Theater.

Dass Steuerberater Theaterdirektoren werden, ist in Deutschland unüblich. Aber man wollte in Lübeck keinen Intendanten, der in Verhandlungen immer wieder sagt, Kunst sei halt teuer. In Lübeck ist Schwandt der Chef, und wenn er über den Generalmusikdirektor redet, sagt er liebevoll: »Mein GMD«, und wenn der Generalmusikdirektor über den Chef redet, sagt er neutral: »Der Schwandt.« Sie teilen sich eine Sekretärin, die Zusammenarbeit funktioniert.

Schwandt hat gerade tausend Seiten gelesen, das ganze Tagebuch des Feuilletonisten Fritz J. Raddatz. Den Raddatz gelesen zu haben ist Schwandt wichtig. Offenbar möchte er nicht, dass man ihn für einen typischen Steuerberater hält. Zum Essen schlägt er das Buffetrestaurant von Karstadt vor, die Stempelkarte hat er im Portemonnaie.

Seitdem Schwandt in Lübeck ist, hat er Dinge gemacht, mit denen sich Künstlerintendanten ungern beschäftigen. Er hat mit dem Stromanbieter und der Feuerwehr neu verhandelt, die Verwaltungskosten um ein Drittel gesenkt, die Eintrittspreise erhöht und die Aufführungszahl verringert. An drei Wochentagen wird auf der großen Bühne nur geprobt, so entfallen die Nachtzuschläge für Umbauten, und das Haus ist an den anderen Abenden voll. Und die Kunst?

Schwandt läuft durchs Theater, einen Jugendstilbau mit verspielten Stuckdecken, er erzählt von Thomas Adès’ Oper The Tempest, ein zeitgenössisches Werk, trotzdem habe man über 90 Prozent Auslastung gehabt. Er zeigt die große Bühne, wo Arbeiter an der Götterdämmerung basteln. Die Götterdämmerung ist die letzte Oper aus Wagners Ring des Nibelungen, eine 16-Stunden-Tetralogie, das Aufwendigste, was die Opernliteratur zu bieten hat. Eine Lübecker Firmenstiftung hat das mitfinanziert.

Im Bühneneingang hängen die Kritiken zur Götterdämmerung aus der FAZ und der Welt. Sie sind überschwänglich, weil die Regie den Kompromiss zwischen Werktreue und ironischem Zeitgeist gefunden hat, den jetzt alle Theater suchen. In der Lübecker Götterdämmerung treten Siegfried und Brünnhilde als normale Familie auf, ihre Kinder tragen Wikingerhelme und Nibelungenfelle wie Faschingskostüme. Man denkt an die Wagners in Bayreuth. Einer der Kleinen hat ein Hitlerbärtchen – bloß eine Pointe unter vielen, kein Regietheaterhammer, der den ganzen Ring in den Führerbunker verlegt.

Eines freut Schwandt besonders: dass man den Ring mit einem 70-Mann-Orchester gespielt hat, nicht mit mehr als 100 Musikern wie von Wagner vorgeschrieben, und dass die Kritiker das nicht erwähnen. Wenn Schwandt sich freut, hat er das schiefe Lächeln eines Jungen, der nicht so beliebt ist bei den anderen Jungs, aber schlauer als sie.

Bei den anderen Jungs ist vor allem Schwandts Vermerk zur Theaterfinanzierung nicht gut angekommen. Schwandt schickte ihn an 100 Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft, er schlug vor, dass das Landestheater und die Theater in Kiel und Lübeck vom Land bloß Sockelbeträge erhalten, der Rest solle nach Leistung verteilt werden: nach Besucherzahlen, Einnahmen, Personalkosten, dem Anteil junger Zuschauer.

In der Theaterstrukturkommission werden Lübeck und das Landestheater aufeinandertreffen, hier der Steuerberater Schwandt, der findet, die Kultur müsse die Not der öffentlichen Hand berücksichtigen, dort der Balletttänzer Grisebach, der sagt, er werde sehr unangenehm, wenn jemand die Kultur zu teuer finde. Schwandts Vorschlag eines Wettbewerbs findet Grisebach unmöglich. Er sagt, dass das Landestheater mit einem Stadttheater nicht vergleichbar sei – womit er recht hat. Es hat höhere Kosten, weil es mehrere Bühnen bespielen muss.

Aber was soll geschehen, wenn alles in der Kultur unantastbar ist und nichts vergleichbar? Theater sind keine feudale Liebhaberei, sie werden vom Staat finanziert, mit jährlich 2,1 Milliarden Euro. Nicht viel, sagen die Menschen, die wie Grisebach denken, und verweisen auf das Rettungspaket für die Banken in der Finanzkrise, das fast 500 Milliarden Euro umfasst habe.

Und trotzdem müssen sich die Theater an ihrer Behauptung, ihre Arbeit sei unverzichtbar, messen lassen – so schwierig es auch sein mag, die Kriterien festzulegen. Sie müssen Vergleiche zulassen, untereinander und auch mit anderen Einrichtungen, die bedroht sind. Wenn die Zuschüsse für die drei Theater in Schleswig-Holstein erhöht werden, geschieht das mit Mitteln aus dem kommunalen Finanzausgleich, also auf Kosten aller schleswig-holsteinischen Kommunen. Die sind schon jetzt hoch verschuldet. Flensburg hat gerade seine Bürger aufgefordert, Vorschläge zu machen, wie die Stadt fünf Millionen Euro einsparen könnte. Über 100 Sparvorschläge sind eingegangen, und das Landestheater steht mit »Angebote zusammenstreichen« und »Preise erhöhen« ganz oben auf der Liste. Ist Nabucco wirklich unverzichtbar?

Premiere in Flensburg. Noch zwölf Wochen bis zur Entscheidung, und Nabucco soll es richten. Doch Nabucco ist nicht da. Im Eingang hängt das Plakat mit dem lächelnden Alan Cemore im Tweedjackett. Damit wollte man Identifikation schaffen. Man wollte erreichen, dass sich der Flensburger wundert und sagt: Mensch, der Nabucco kauft auch im Edeka ein. Jetzt ist Cemore krank, und im Foyer wird geredet: Wieder der Cemore, der hat doch schon die Premieren von Rigoletto und Tosca verpasst!

Das Flensburger Publikum weiß so einiges über sein Theater, mehr als das Theater über sein Publikum. Zuschauerbefragungen gibt es hier nicht, bloß eine einsame Marketingfrau, die in einem Dachzimmer sitzt und sagt, man werbe für Nabucco mit Plakaten.

Wer also kommt in die Oper? Ein Stammpublikum, das sich kennt. Die Sänger nennen es den Silbersee, denn wenn sie ins Parkett schauen, schimmert es dort silbrig und schneeweiß. Barbara Kolzer, schneeweiß, ist 72 Jahre alt. Ihre Freundin Jutta Hitzke, dunkelblond, ist ein Jahr jünger. Am 30. Dezember 1954 waren die beiden zum ersten Mal hier, sie verliebten sich in den Bariton, einen Dänen namens Herman Hansen. Hansen war mit einer Tänzerin liiert, die Kolzer und Hitzig »die Ziege« nannten. Vor Hansens Haus sangen sie ein Liebesduett, sie waren jung, sie waren Groupies. Doch Hansen ließ sich nicht blicken, er blieb bei seiner Ziege.

Heute hat das Landestheater keine Groupies mehr. Aber wenn man Hitzke und Kolzer zuhört, ahnt man, wie grandios die Oper in den fünfziger Jahren gewirkt haben muss. Damals entwickelten die beiden ihre Vorliebe für große Stimmen, wallende Kostüme und luxuriöse Bühnenbilder.

Die letzten Jahre allerdings seien schwer zu ertragen gewesen. »Im Rigoletto habe ich mir erlaubt zu buhen«, sagt Hitzke, und Kolzer sagt: »Ich habe in der Zauberflöte gebuht.« Eigentlich wollte Kolzer ihre Enkelin mitbringen, doch die Königin der Nacht war besoffen und Papageno ein Hippie. Anstatt auf der Panflöte zu spielen, rauchte Papageno eine Selbstgedrehte. Kolzer beschwerte sich beim Intendanten. Der Intendant sagte ihr, die Oper brauche einen Generationenwechsel.

Der Generationenwechsel ist der Oper bis heute nicht geglückt. Das Durchschnittsalter der deutschen Opernbesucher liegt bei 57 Jahren, und die Konkurrenz durch die Unterhaltungsindustrie ist hart: Wer schnelle Plots und Reizüberflutung gewohnt ist, langweilt sich in der Oper. Und zur klassischen Musik haben viele, die unter 50 sind, keinen Zugang, weil sie mit Pop und Rock aufgewachsen sind.

Dabei ist das musikalische Niveau in Flensburg beachtlich, der neue Koreaner mit dem geschmeidigen Tenor zum Beispiel oder die schüchterne Ukrainerin, deren weicher Mezzosopran die lyrischen Momente hervorbringt. Auch der Ersatz für Cemore, der Kroate Predrag Stojanovic, eingeflogen aus Graz, singt den Nabucco, wie es sich für einen Tyrannen gehört, mit einer ans Brachiale grenzenden Stimmgewalt.

Als Nabucco den Juden im vierten Akt die Freiheit schenkt und diese fortwährend lächeln und sich umarmen, als steckten sie in einer Endlosschleife der Seligkeit fest, da breitet sich auch im Parkett ein warmes Happy-End-Gefühl aus. Es gibt 15 Minuten lang Applaus, und nur das Versprechen Grisebachs bleibt unerfüllt: Unverzichtbares Musiktheater ist das nicht. Allzu sklavisch hält sich die Regie an den Text, ohne große Ideen wirkt dieser Nabucco hölzern und bieder. Der Opernfreundin Hitzke wäre »ein bisschen mehr Action« lieber gewesen, und Kolzer sagt: »Hätte man auch konzertant machen können.«

Es ist Anfang November, noch drei Wochen bis zur Entscheidung, doch die Entscheidung ist vertagt worden. Generalintendant Grisebach sagt, man stehe plötzlich um 700.000 Euro besser als geplant da, das ist die Hälfte des im letzten Jahresabschluss prognostizierten Defizits. Die Insolvenz ist vorerst abgewendet, die Oper für ein weiteres Jahr gerettet.

Ein bisschen überraschend kommt das schon, dieser Deus ex Machina von 700.000 Euro, immerhin hat man ein paar Tage zuvor noch mit 300 Leuten demonstriert, man hat in der Fußgängerzone den Gefangenenchor gesungen.

Doch diese Oper ist noch lange nicht vorbei, die Rettung des Landestheaters wird das große Thema bleiben. Schon 2012 könnten neue Tarifabschlüsse kommen, die das Landestheater nicht verkraften kann. Und bald wird man sich grundsätzlich überlegen müssen, wie es weitergehen soll. Denn würde man das Landestheater neu gründen, wären die Ressourcen ganz anders verteilt.

Mehr Kunst, weniger Apparat, da muss die Oper hin. Und vielleicht sollte sie sich auch von der Idee verabschieden, dass sie unter den Artenschutz fällt. Sie braucht gutes Marketing und zeitgenössische Stoffe, Sponsoren und ein ausgeklügeltes Abonnementsystem. Sie braucht Veranstaltungen jenseits des gewöhnlichen Spielbetriebs. Sie muss sich etwas einfallen lassen, die Oper, mehr als nur Nabucco, sonst ist sie nur noch mit ihrer Rettung beschäftigt und stirbt vor sich hin.

»Helfen Sie uns!« Das Plakat mit dem Countdown, der die Wochen bis zur Aufsichtsratssitzung anzeigt, steht in Flensburg immer noch im Foyer. Die vier Kassenfrauen, die Woche für Woche die Zahl auf dem losen Blatt auswechseln, arbeiten im Schichtdienst. Sie sind fest angestellt und haben wunderbar nordische Namen, sie heißen Birte Starke, Meike Mielke, Wiebke Wagner und Heike Friedrichsen. Wenn niemand kommt und sagt, dass sie aufhören sollen, werden sie die Zahl noch dreimal austauschen, dann tagt der Aufsichtsrat, dann steht dort die Null. Und der Countdown geht von vorne los.





Zahlen

1,4 Mio. € Gagen für die Sänger

3,7 Mio. € Gagen für das Orchester

5 Mio. € Ausgaben für die Technik, inklusive Werkstätten, Maske und Kostüm

15,50 € Preis der günstigsten Karte für »Nabucco«

99,95 € Staatlicher Zuschuss pro Eintrittskarte

2,2 Mio. € Eigeneinnahmen des Landestheaters Schleswig-Holstein

16,9 Mio. € Staatliche Zuschüsse für das Landestheater Schleswig-Holstein

Die Oper in Flensburg gehört zum Landestheater Schleswig-Holstein, die Zahlen stammen aus der Spielzeit 2008/09



Opern-Paradies

In keinem anderen Land gibt es so viele Opernhäuser wie in Deutschland. Von den 560 Musiktheatern, die weltweit existieren, stehen 84 hierzulande. Anders gesagt: Jedes siebte Opernhaus auf der Welt ist ein deutsches. Und in dieser Zahl sind die privat finanzierten Häuser noch nicht einmal enthalten.

In der jüngsten statistisch erfassten Spielzeit 2007/08 sahen 4,4 Millionen Menschen 6500 Opernvorstellungen in Deutschland. Acht Prozent der Bevölkerung – auch dies weltweit Spitze – sind regelmäßige Opernbesucher.

Diese Vielfalt ist ein Relikt der deutschen Kleinstaaterei. Der Großteil der Staatsopern geht auf ehemalige Hof- und Residenztheater zurück. Nach dem Ende der Fürstenherrschaft wurden die meisten von ihnen in Staatstheater überführt. Berlin hat gleich drei Staatsopern, München die größte und älteste (gegründet 1657). Die kommunal verwalteten Stadttheater hingegen entstanden zumeist auf private Initiative im 19. Jahrhundert. Viele von ihnen wurden ebenfalls in der Weimarer Republik von den Stadtverwaltungen übernommen.

Kosten

Keine Kunst ist so teuer wie die Oper. Der größte Teil der staatlichen Kulturausgaben entfällt auf die Theater; bei denen wiederum sind die Kosten für die Oper der größte Brocken. Der Jahresetat eines Opernhauses schwankt zwischen 6 Millionen Euro an kleineren Häusern (wie Lüneburg oder Annaberg) und mehr als 80 Millionen Euro an großen Bühnen (wie Stuttgart oder München). Die Theater und Opern in Deutschland kosten im Jahr mehr als 2,5 Milliarden Euro, rund drei Viertel davon sind Personalausgaben.

Subventionen

Nur knapp 20 Prozent dieser Kosten erwirtschaften die Opernhäuser aus eigener Kraft. So wird jede Eintrittskarte heute mit durchschnittlich 100 Euro subventioniert.

Das »ökonomische Dilemma« der darstellenden Künste bestehe darin, erklärt der Deutsche Musikrat, dass »Produktivitätssteigerungen in ihrem Kernbereich«, also der Bühnendarstellung, »so gut wie unmöglich« seien.

Während die Industrie in den vergangenen 200 Jahren immense Produktivitätssteigerungen verzeichnet habe, erfordere die Aufführung einer Oper nach wie vor die gleiche Personalstärke und den gleichen Arbeitsaufwand »wie zum Zeitpunkt ihrer Uraufführung vor 150 oder 200 Jahren«.

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Konstantin Richter


Konstantin Richter ist 1971 in Berlin geboren, hat in Edinburgh Englische Literatur und Philosohpie studiert und Journalismus an der Columbia in New York. Als Assistant Editor für die Columbia Journalism Review hat er in New York gearbeitet und als Reporter für das Wall Street Journal in Brüssel. Sein deutschsprachiger Roman "Bettermann" ist 2007 erschienen, das Sachbuch "Kafka war jung und brauchte das Geld -- Eine rasante Kulturgeschichte für Vielbeschäftigte" im Mai 2011.
Dokumente
Der Kulturkampf (PDF)
Interview zum Text

erschienen in:
Süddeutsche Zeitung (SZ),
am 11.11.2010

 

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