Am Ende dieser Sitzung wird der Journalist Claus Kleber eine Rechnung aufstellen, die kein Großmeister der Arithmetik je lösen könnte. Kleber aber nickt anerkennend, als er den offenbar beeindruckend hohen Wert verliest, den eine Reportage von Wolfgang Uchatius in seinem „chaotisch-additiven Punktesystem“ erreicht hat: „Drei von Fünf plus Top plus Ausrufezeichen“, stehe auf seinem Zettel. Ein AAA von der Einmann-Rating-Agentur Claus Kleber.
Man fragt da lieber nicht nach, zu welcher enigmatischen Kodierung er bei anderen Texten der Kategorie „Beste Reportage“ gekommen ist. Oder, wie es um die Vergleichbarkeit bestellt wäre, stünde neben dem „Drei von Fünf plus Top plus Ausrufezeichen“ ein, sagen wir, „Pi von Sieben minus Flop plus Fragezeichen“. Denn ein schneller Blick auf die Zettelwirtschaften der anderen Jurymitglieder verrät, dass fast alle versucht haben, Texte mit Zeichen und Symbolen so zu bewerten, dass sie sich hernach in eine Rangfolge bringen lassen.
Jede Jurysitzung ist ein eigentlich unzulässiges Experiment: Eine Gruppe von Menschen versucht durch den Austausch vieler subjektiver Betrachtungen zu einem möglichst objektiven Ergebnis zu kommen. So ein Experiment bleibt ein Annäherungsversuch, sein Ergebnis: subjektiv.
An einem dieser Annäherungsversuche, der Jurysitzung für den Reporterpreis 2011, durfte ich als Gastjuror teilnehmen. Ich habe diesen Versuch als gelungen empfunden, dies vorweg. Man kann mit dieser Form von Subjektivität gut leben.
Weil hier Redakteure nicht starrsinnig für Geschichten ihrer Magazine und Zeitungen kämpfen, wie man es hätte befürchten können. Weil die Kriterien für eine gute Geschichte genauso diskutiert werden wie die guten Geschichten selbst. Und weil in so einer Diskussion vieles möglich ist.
Natürlich gehe jeder Juror mit „Schwarmmandaten“ in so eine Sitzung, formuliert Matthias Thiele. Doch wenn Jörg Thadeusz beim Patt zwischen den zwei wahrscheinlich besten Geschichten einer Kategorie auf einmal „als Fähnchen im Wind die Seiten wechselt“ und seinen Schwarm fallen lässt, dann erkennt Axel Hacke darin keine Schwäche. Er erkennt darin vielmehr „ein Zeichen innerer Stärke“. Ähnlich sieht es Claus Kleber, der mit seiner Formulierung gleich noch großzügig die Größe der Aufgabe vermisst – ein Umfaller? Ach was, das laufe „im Konklave doch genauso“. Plus Top plus Ausrufezeichen.
Wechselnde Mehrheiten gibt es freilich in fast jeder Jurysitzung, was aber gab es noch in dieser? Folgende Dinge sind mir aufgefallen:
1) War Ulrike Demmer bei der Telefonkonferenz im Bendlerblock, Haus 7, Raum 6108, dabei, von der sie so wunderbar berichtet? Ein fröhliches Glühen dimmt sich auf die Wangen von Jörg Thadeusz, er freut sich, den „Rene-Pfister-Moment dieser Jurysitzung“ ausgemacht zu haben. Die Frage stellt sich mehr denn je: Wer war dabei, wer tut nur so. Demmer war dabei. Und bekommt den Preis für die „Beste politische Reportage“ 2011.
2) Wenn es gut läuft in einer Kategorie, dann legen sich die Juroren bald mit Volkskammermehrheit auf eine der nominierten Geschichten fest. Oft aber bleiben zwei, vielleicht drei Texte im Spiel. Dann pendelt die Gunst, alle paar Minuten wechselt sie die Seiten. In so einem Fall kann Axel Hacke einer Geschichte zum Erfolg verhelfen. Manchmal sitzt er viele Minuten lang ruhig da und lässt Diskussionen laufen, bis diese kurz vor dem Ermüdungsbruch stehen: Alle haben ihre Argumente vorgebracht und damit verbrannt, die Jury liegt nicht gut in der Zeit und müsste eigentlich zur nächsten Kategorie, gleichzeitig gilt aber das Pokalgesetz: unentschieden geht nicht. In so einem Moment braucht es nur zwei, drei kraftvolle Sätze, um ein Schwarmmandat unter mehreren ähnlich guten Kandidaten durchzubringen. Axel Hacke hat ein Gespür für solche Momente.
3) Welchen Unterschied kann es ausmachen, ob Sabine Rückert in einer Jury sitzt oder nicht? Einen gewaltigen. Es gibt eine Geschichte, sie gefällt fast allen in der Jury sehr gut, sie hat – so sieht es aus – gute Chancen, zu gewinnen. Dann aber zitiert Rückert ein paar Stellen daraus, juristische Dinge, und fällt ein eigenes Urteil: stimmt so nicht, unsauber gearbeitet, Schwachsinn. Die Geschichte geht in die Dunkelhaft einer Schublade, eine andere gewinnt. Hätte Sabine Rückert nicht in dieser Jury gesessen, wäre der Text womöglich prämiert worden – es kommt also auch darauf an, welcher Sachverstand (über den journalistischen hinaus) in einer Jury vertreten ist.
4) Ob ein Text gut ist oder nicht, kann an dem Jahr liegen, in dem er veröffentlicht wird. Es gibt subjektive Trends, die Text-Mode 2011 geht weg vom „Tugendterror“ und weg von der „Wollsockigkeit“. Geschichten, „…erzählt von der Enkelin, der Tochter, des Ehemannes“ trägt die Jury heuer nicht mehr zum Sieg, „mit einer bizarren Ausname“: Nadine Ahr wird gegen den Trend beste Freie Reporterin.
5) Und in der sogenannten Königskategorie, der besten Reportage, gewinnt also Wolfgang Uchatius. Hauptsächlich wird sein Text „Die Riester-Bombe“ ausgezeichnet, ein bisschen aber auch die Methode Uchatius: Das rechercheintensive Sichtbar-Machen von Zusammenhängen einer sich immer weiter globalisierenden Wirtschaft. Damit entspricht der Juryentscheid erstmals dem Vorentscheid der Online-Abstimmung. Dabei hatte Uchatius schon eine stabile Mehrheit geholt, ungefähr vier von fünf Ausrufezeichen plus zwei, drei Tops.
Alles in allem habe ich das Gefühl, dass diese Jury sich ehrlich und fair um ein gutes Ergebnis bemüht hat. Fast überflüssig zu erwähnen, dass dieser Eindruck vor allem eines ist: im höchsten Maße subjektiv. Zurück |