Daniela Jaschob war die Publikums-Jurorin beim Deutschen Reporterpreis 2012.
Eben hat David McAllister die Wahl verloren. Auch Bundesumweltminister Peter Altmaier und sein Ex-Kumpel Norbert Röttgen konnten die Wählerinnen und Wähler nicht überzeugen. Nun heißt das Duell heißt Doris Schröder-Köpf gegen Angela Merkel. Beide Kandidatinnen vereinigen die gleiche Anzahl Stimmen auf sich. Ein klassisches Patt. Der Wahlleiter regt eine letzte Debatte an. Noch einmal recken sich Hände in die Höhe. Dann ist es entschieden: Doris Schröder-Köpf gewinnt.
Es ist Montagnachmittag, 3. Dezember, ein sonniger Wintertag. Das Wahllokal trägt den Namen Soho House, die Wählerinnen und Wähler sind die Juroren des diesjährigen Deutschen Reporterpreises, und abgestimmt wird über Texte, in diesem Fall: über politische Reportagen.
Vier Tage zuvor, am Donnerstag, bin ich auf den Weg in die Redaktion des "Kölner Stadtanzeigers", als mein Handy brummt. Ein verpasster Anruf und eine Nachricht in meiner Mailbox. Matthias Thiele fragt, ob ich die Mail schon gelesen habe? Ich sei vom Reporter-Forum für den Reporterpreis als Publikumsjurorin ausgelost worden. Er bräuchte dringend eine Antwort. Ich fange an zu laufen, nein, ich renne die Treppen hoch, nehme zwei Stufen auf einmal, in den dritten Stock und stürme das Büro meines Chefs. Klar könne ich fahren.
Vier Tage später sitze ich mit Ullrich Fichtner vom "Spiegel", Sabine Rückert von der "Zeit", der Autorin und Filmemacherin Doris Dörrie und vielen weiteren illustren Menschen in dem holzvertäfelten Raum in Berlin. Soeben hat Tanja Stelzer von der "Zeit" in der Kategorie „Beste politische Reportage“ gewonnen. Mit ihrer Nahaufnahme „Die Doris-Show“ über die Ex-Kanzlergattin Schröder-Köpf hat sie sich knapp gegen Christoph Schwennickes „Die Glucke der Nation“ durchgesetzt, sein Porträt über Angela Merkel.
Nächste Kategorie: Lokalreportage. Alle klappen ihre Reader mit den gesammelten Werken auf, die die Vorjuroren zuvor aus den Einsendungen ausgewählt haben. Ich beäuge – Halt! Beäugen sei ein Unwort, habe ich eben gelernt – also, ich schaue auf die Notizen meiner Sitznachbarin und sehe nur ein Wort, das aber gleich mehrfach. Nein! Nein! Nein! – davor der Titel der jeweiligen Texte. „Die Qualität in dieser Kategorie ist wirklich unterirdisch“, sagt sie und holt aus. Währenddessen sinke ich immer tiefer in meinen Stuhl. Nicht vor Scham, sondern weil ich unbemerkt mitschreiben will, welche Formulierungen ich nie wieder – wirklich NIE WIEDER – verwenden werde. Die Details ihres Vortrags spare ich an dieser Stelle aus, nur so viel: Ihre Notizen erstreckten sich über drei Seiten.
Jeder Juror nominiert reihum seine drei Favoriten. Kurze Debatte, dann bleiben zwei Texte übrig: die Geschichte einer jüdischen Familie, sie hat die Verlegung eines "Stolpersteins" in Berlin in Auftrag gegeben, eines Pflasterstein, der an ihre ermordeten Vorfahren erinnern soll; und ein Stück über eine Mutter, deren Sohn zum Mörder wurde. Die Wahl fällt, sehr schnell, auf „Der goldene Stein“ von Anja Reich von der "Berliner Zeitung". Übrigens: Auch meine strenge Sitznachbarin hat hinter diesem Text ausnahmsweise ein „Ja!“ stehen.
Mein Zwischenfazit zu diesem Zeitpunkt: Bisher liege ich mit meinen Favoriten daneben, ebenso Friedrich Küppersbusch. Ich bin also nicht die einzige. Zum Glück. Aber noch habe ich zwei Kategorien, um meine Bilanz wenigstens ein bisschen aufzubessern.
Jetzt die Abstimmung über den „Besten freien Reporter“. Soll es der Autor einer Reportage über die Berliner Großdisko "Berghain" sein, oder aber der Mann, der über den „Bürgermeister der Hölle“ geschrieben hat? Beim Lesen der Reportage über das Berghain ist mir, milde gesagt, übel geworden. Mein Favorit ist der "Bürgermeister"-Text - der die Abstimmung auch gewinnt. Nicht nur, weil dessen Autor, Michael Obert, eine sehr lesbare Reportage eingereicht hat, sondern auch, weil er den Mut aufbrachte, nach Mogadischu zu reisen, einen der gefährlichsten Orte der Welt. Und während sich die Mitglieder der parallel tagenden zweiten Hauptjury gerade über den "Besten Essay" in Rage reden und sich – wie sie später bei der Preisverleihung sagen werden – um ein Haar die Köpfe eingehauen hätten, läutet Christoph Kucklick, unser Moderator, die erste längere Pause ein.
Ich denke über die Kategorie "Bester freier Reporter" nach. Irgendwie verstehe ich sie nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, die Namen der Nominierten aus den immergleichen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen zu kennen. Wäre es nicht sinnvoller, die Autoren nicht für ihren Mitarbeiterstatus zu prämieren, sondern die Texte anderen Kategorien zuzuordnen - und eine neue Kategorie zu schaffen? Etwa "Bester Nachwuchsreporter"?
Zurück in den holzvertäfelten Raum. „Das hier ist reine Fiktion – oder war er etwa die ganze Zeit am Krankenbett des Mädchens?“, fragt Ullrich Fichtner. Gemeint ist Erwin Koch, der mit seinem Text „Sarah“ das diesjährige Publikums-Voting für sich entschieden hat. Für den auch ich gestimmt habe. Aufmerksam wurde ich auf „Sarah“, als ich Anfang Februar bei Facebook den Post einer Freundin las: „Unbedingt diese Geschichte lesen! Soooo traurig!!!“ – darunter der Link zum Text. Und in der Tat, die Geschichte von der an Leukämie erkrankten Sarah und ihrer Familie war traurig. Sarah stirbt, vier Jahre nach der Diagnose. Mir blieb dieser Text im Gedächtnis wie kaum ein anderer. Sicher auch wegen der Art und Weise, wie Koch Sarahs Leben aufgeschrieben hat: Reduziert, nüchtern, protokollartig, klar und hart, er zählt emotionslos die Medikamente auf, mit denen man sie vollpumpt, und zitiert ergreifende Passagen aus ihrem Tagebuch. Eine minutiöse Rekonstruktion.
Als ich gesehen habe, dass Kochs Text zu den Nominierten des Reporterpreises gehörte, fiel mir die Entscheidung nicht schwer. So wie vielen anderen, die sich an der Abstimmung beteiligt haben. Doch genau das, was uns faszinierte, gefällt der Jury überhaupt nicht. Sie misstraut einzelnen Passagen, bezweifelt, das man das Schicksal einer Verstorbenen derart kleinteilig rekonstruieren kann. „Vielleicht sollte man eine neue Kategorie einführen“, schlägt Verlegerin Antje Kunstmann vor, „und einen Preis für literarischen Journalismus vergeben“. Kopfnicken erntet sie dafür nicht. „Wir suchen nicht den besten Roman, sondern die beste journalistische Reportage, und die muss stimmen“, insistiert Ulrich Fichtner.
Die Debatte verdichtet sich auf zwei Texte: einmal Wolfgang Bauer, „Der Tod kommt von oben“, zum anderen Takis Würger, „Das verlorene Bataillon“. Ein letztes Mal entscheidet sich, wieder zwischen zwei Texten, wer einen Reporterpreis gewinnt. Hier die Beschreibung der Kämpfe in Syrien, dort ein deutscher Scharfschütze in Afghanistan, der noch nie geschossen hat, sich aber nichts sehnlicher wünscht, als endlich abzudrücken. Brilliant sind beide Texte. Am Ende gewinnt Takis Würger, vielleicht kommt das entscheidende Argument von Geo-Redakteurin Hania Luczak, die sagt: Wie gelungen das Stück von Takis Würger sei, merke man spätestens daran, dass man sich fast wünsche, der Scharfschütze möge abdrücken.
So endet die Jurysitzung.
Und was macht nun eine gute Reportage aus? Hier die Antwort meiner strengen Sitznachbarin: Hingehen. Gucken. Zuhören. Aufschreiben.
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