Dieser Text ist "Text des Jahres" beim Reporterpreis 2009, gewann in der Kategorie "Dokumentation" den Henri-Nannen-Preis 2009 sowie drei weitere Journalistenpreise.
Dünner Regen plätschert auf den Zürichsee, es ist unwirtlich kalt in der Schweiz Ende Oktober, in der vornehmen Bahnhofstraße tragen die Damen schon den Winterpelz, sie entsteigen flachen Lamborghini, die im Halteverbot parken vor der großen UBS-Bankfiliale. Dort bilden sich jetzt kleine Menschentrauben jeden Tag, Passanten studieren die Bildschirme im Schaufenster, die Aktienkurse, die Rentenmärkte, die Rohstoffbörsen - sie notieren tiefer im Minus, Stunde um Stunde, fast alle Werte im freien Fall, fast alle Pfeile zeigen zum Boden, und im Kongresshaus am See beginnt die Finanzmesse mit dem Namen: "Strukturierte Produkte".
Auf zwei Etagen wie Theaterfoyers haben junge Banker ihre Stände und Lounges aufgebaut, die Commerzbank, die Credit Suisse, JP Morgan, Merrill Lynch. Goldman Sachs ist da, Julius Bär, die Deutsche Bank, BNP Paribas, ABN Amro, Citigroup, Société Générale. Es gibt Obst und Preisausschreiben, Espresso und Computerspiele, es stehen Formel-1-Autos zur Zierde herum, und schöne Frauen in Hosenanzügen führen Begriffe im Mund, die sonst kaum ein Mensch fehlerfrei buchstabieren, geschweige denn definieren kann: "Tracker-Zertifikate" und "Knock-out-Warrants", "Barrier Reverse Convertibles" und "Outperformance-Bonus-Zertifikate". Das Motto der Messe lautet: "Bei jedem Börsenklima erfolgreich investieren".
Wer noch den Mut aufbringt, kann "vom Wirtschaftsaufschwung in Kasachstan profitieren" oder von der Performance des SaraZert "Medicine Basket". Er kann spekulieren auf die Entwicklung des Wechselkurses vom Schweizer Franken zum US-Dollar oder "partizipieren" am Wachstum afrikanischer Düngemittelmärkte. "Uran ist ein Thema", sagt ein Händler von Merrill Lynch und gibt ein Faltblatt aus wie ein Verschwörer, bei Goldman Sachs stecken dicke Hefte in Ständern über das "Wirtschaftswunder" in den großen Schwellenländern Brasilien, Indien, China, Russland. Aber die Broschüren sind wertlos, allesamt, sie wurden gedruckt vor einem Jahr oder vor ein paar Monaten, als die Welt noch eine ganz andere war.
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