Mit diesem Text hat Sabine Rückert den Reporterpreis 2009 in der
Kategorie "Reportage" gewonnen. Die in der ZEIT erschienene Reportage schildert die lange Beziehung zwischen einem brutalen Serienmörder und dem Kommissar, der ihn überführte. Die Jury prämierte den Text, weil er in kunstvoller Perfektion die Leben der beiden Männer einander verschränkt, deren fast freundschaftlicher Kontakt auch Jahre nach der Verurteilung bis heute andauert. Hier wird auf vorbildliche Weise, so die Jury, ein sehr eigenes Lehrstück von Schuld und Sühne erzählt.
An
einem Spätsommertag des Jahres 2009 sitzen zwei ältere Herren an
einem Tisch und sprechen über das Fernsehprogramm. In dem spärlich
möblierten Zimmer, durch dessen Fenster die Sonne hell hereinfällt,
ist niemand anders als die beiden Männer, die in ihren Kaffeetassen
rühren und manchmal zum Gebäck auf dem Tisch greifen. Hennes Jöris
und Otto Debisch* scheinen einander lange zu kennen. Sie könnten
früher Nachbarskinder gewesen sein oder Schulfreunde. Denn dass der
eine zehn Jahre jünger ist als der andere, müsste man wissen -
sehen kann man es nicht. Sie reden, was man so redet, über Leute,
die draußen am Fenster vorbeigehen, aber was sie wirklich verbindet,
erwähnen sie nicht.
Als
Hennes Jöris das erste Mal mit Otto Debisch zu tun bekam, war das an
einem Herbsttag des Jahres 1978. Damals betrat Hans-Josef Jöris, den
zu dieser Zeit schon alle Hennes nannten - frisch von der
Polizeihochschule und jetzt Praktikant bei der Mordkommission
Mönchengladbach - ein stillgelegtes Bahnhofsgebäude in der
rheinischen Kleinstadt Willich. Hier ist die verstümmelte Leiche des
kurz zuvor vermisst gemeldeten 12-jährigen Sohnes eines britischen
Besatzungssoldaten entdeckt worden. Jöris, 28 Jahre, erster
Mordfall, muss sich zusammenreißen, als die älteren Beamten den
Tapetenfetzen anheben, mit dem der Mörder sein Opfer abgedeckt hat.
Sein Blick fällt auf die geöffnete Bauchhöhle des Jungen. Jemand
hat ihn mit Messerstichen durchbohrt und ihn danach erwürgt, dem
Toten die Bauchdecke wie einen Deckel herausgeschnitten, die Beine
aufgesäbelt, die Geschlechtsorgane abgetrennt und mitgenommen. Der
ganze Raum steht unter Blut. So gewütet hat der Mörder, dass
darüber sein Messer kaputtgegangen ist. Das verbogene Tatwerkzeug
hat er zurückgelassen. "Dieses Schwein kriegen wir", hört
Jöris die Kollegen sagen. Da ahnen die Männer noch nicht, dass
ihnen genau dieses nie gelingen wird. Und der Praktikant ahnt nicht,
dass er es sein wird, der den Mörder fängt.
Erst
fast sechs Jahre später, im Februar 1984, begegnen sich Hennes
Jöris, nun schon KOK, Kriminaloberkommissar, und Otto Debisch das
erste Mal. Ein Jäger hat kurz zuvor im Wald bei Mönchengladbach die
vergrabenen Überreste eines Mannes entdeckt, der Willi F. hieß und
im Sommer des Vorjahres aus einem psychiatrischen Krankenhaus - in
dem Suizidanten und andere Problembeladene untergebracht sind -
verschwunden war. In der Klinik hatte man Willi nicht weiter
vermisst, er war ein unsteter Geselle, außerdem freiwillig da
gewesen. So einer kann gehen, wenn er will. Einer Schwester fällt
nun aber, da man ihn skelettiert aufgefunden hat, wieder ein, dass
der Mitpatient Otto Debisch kurz nach Willis Abgang behauptet habe,
der Willi sei "tot" - obwohl das doch zu jenem Zeitpunkt
noch niemand hatte wissen können. Der Patient Otto Debisch ist
inzwischen entlassen worden und lebt nun im Heim "Schöne
Aussicht", einer Unterkunft für gestrandete junge Leute,
irgendwo in der Eifel.
Also
reist Kommissar Jöris dorthin und nimmt Otto Debisch - Heimkind,
Schulabbrecher, berufslos, arbeitslos - in dessen Zimmer fest. Die
Polizei kommt zu dritt, einer stellt sich vors Fenster, einer vor die
Tür, Jöris setzt sich dem Verdächtigen gegenüber und bringt ihm
in sanften Worten bei, dass er sie nun begleiten müsse. Da tut
Debisch etwas Seltsames: Er zieht seine Kamera heraus und macht ein
Foto. Klick. Hennes Jöris, wie er Otto Debisch lächelnd verhaftet.
Es ist das letzte Bild auf dem Film. Dann ist er voll.
Als
Otto Debisch 25 Jahre später diese Fotografie vor Hennes Jöris auf
den Kaffeetisch legt, ist der perplex: "Mensch, hast du mich
damals fotografiert? Das hab ich ganz vergessen." - "Da
haste noch jung ausgesehen", antwortet Debisch. Er hat noch mehr
dabei: Aufnahmen vom Heim "Schöne Aussicht", das
abgeschieden an einem Abhang steht. Auch Debisch selbst ist irgendwo
auf dem Film, ein athletischer, etwas gebeugter Mann, mit halblangem
Haar und einem von Bitterkeit gezeichneten Gesicht.
Otto
Debisch wundert sich, wie der Polizist Hennes die Bilder vergessen
konnte. Er ruft: "Du hast sie doch damals selber zum Entwickeln
gebracht - in den Supermarkt, in dem du mir auch die Zündhölzer
gekauft hast!" Richtig, die Zündhölzer! Drei herrliche
Segelschiffe hat Otto aus Tausenden Streichhölzern gebaut in jenen
drei Monaten, die sie zusammen verbracht haben. Februar, März, April
1984. Über 90 Tage Aug in Auge, Hand in Hand, man könnte sagen: in
enger Umschlingung. Otto Debisch hat keinen Tag vergessen, Otto
Debisch vergisst nie etwas. Die Schiffe hat er seinem Freund Hennes
im Mai 1984 als Andenken dagelassen, die Fotos mitgenommen. Seit 25
Jahren liegt der lächelnde Hennes in Ottos Nachttischschublade.
Debischs
erste Vernehmung am 4. Februar 1984 läuft zäh. Jöris hat ihn mit
aufs Polizeirevier nach Mönchengladbach gebracht. Man duzt sich, was
in Verhören nicht ungewöhnlich ist, weil die Lage dann weniger
brenzlig erscheint. Es geht um den skelettierten Willi. Das Protokoll
hält fest, dass Debisch viel redet und nichts sagt. Schließlich
fragt Jöris ihn: "Hattest du Streit mit dem Willi?"
"Mit
dem hab ich noch nie Streit gehabt."
"Otto,
stimmt es, dass ihr beide zusammen rausgegangen seid, als der Willi
verschwand?"
"Ja,
aber wir sind getrennte Wege gegangen."
"Wann
ist dir dann aufgefallen, dass der Willi nicht mehr da ist?"
"Am
nächsten Morgen."
"Otto,
hast du was mit dem Tod vom Willi zu tun?"
"Ich
schwöre, dass ich damit nichts zu tun habe. Wenn ich von jemandem
wüsste, der damit zu tun haben könnte, dann würd' ich es sofort
sagen."
"Otto,
du sollst am 11. Juli 1983 abends gegen 19 Uhr von einem Ausgang
sturzbetrunken auf die Station zurückgekommen sein. Du sollst dich
vier Mal übergeben und außerdem geweint haben. Der Pflegerin
gegenüber sollst du dann gesagt haben: Maria, hilf mir, hilf mir!
Der Willi ist tot, der Willi ist tot! Was sagst du dazu?"
"Ich
weiß nur noch, dass ich an diesem Tag zwei Flaschen Whiskey
getrunken hab'. Kann sein, dass ich was gesagt hab', aber ich weiß
von nichts!"
Viel
haben sie nicht gegen Debisch in der Hand, als sie ihn schließlich
in eine Gefängniszelle stecken. Wenn Debisch nicht auspackt, müssen
sie ihn bald wieder laufen lassen. Es ist am selben Abend, als
Kommissar Jöris, der schon auf dem Weg nach Hause ist, einem
unbestimmten Gefühl gehorchend beschließt, noch einmal nach dem
Verhafteten zu schauen. Er hatte es ihm am Nachmittag versprochen,
und obwohl er jetzt eigentlich keine Lust mehr hat, fährt er doch
noch aufs Polizeirevier, um seine Zusage einzuhalten. "Gut, dass
de kommst", sagt der wachhabende Beamte, als er die grün
gestrichene Stahltür aufschließt, "der da drin is' am Heulen."
In Zelle 4 ist es finster. Durch die Glasbausteine, die das Fenster
ersetzen, fällt kein Licht mehr. Otto Debisch ist nicht zu sehen.
Auf der Pritsche hockt ein schluchzender Haufen Mensch, der die Decke
über sich gezogen hat. Vorsichtig streift Hennes Jöris die
Umhüllung zurück und legt den Arm um den Nassgeweinten. "Was
is' los?"
"Ich
will meine Sachen haben."
"Die
sind noch in der Eifel, die könn' wir jetzt nich' holen, es is'
Nacht."
"Ich
will sofort meine Sachen, sonst klaut mir die einer", erwidert
Debisch zitternd.
"Ich
schwör dir, morgen früh fahren wir als Erstes los und holen deine
Sachen", verspricht Jöris sanft. Und weil ihm ein so gewaltiger
Kummer wegen ein paar Klamotten und einem alten Kofferradio
merkwürdig vorkommt, fragt er: "Haste was mit dem Willi zu
tun?" Nicken. Und dann sagt der in seinem Arm noch etwas - es
rieselt Jöris bis heute kalt über den Rücken, wenn er daran denkt:
"Morgen erzähl ich dir noch mehr - auch das von dem englischen
Jungen. Und dann wirste berühmt."
Es
wurde der Fall seines Lebens, und er hat Jöris bei der Polizei den
Ruf eines Menschenflüsterers eingebracht: Denn der Mann, den Jöris
an jenem Abend tröstend im Arm hielt, war - obwohl kaum älter als
zwanzig Jahre - ein Serienmörder. Sechs Tötungsdelikte, die ihm
niemand hätte nachweisen können, hat er dem Kriminalbeamten am
nächsten Tag gestanden. Das erste - an einem alten Mann - hatte
Debisch schon als 13-Jähriger begangen, das letzte im Sommer zuvor -
an Willi. Manche waren zu regelrechten Blutbädern ausgeartet, wie
das an dem kleinen Engländer, das Otto Debisch mit 17 beging. Drei
der Taten waren ungeklärt geblieben, eine vierte war nicht einmal
bekannt geworden und als Vermisstensache verstaubt. Für weitere zwei
waren Unschuldige verurteilt worden. Und nun klärte Hennes Jöris
sechs Morde auf einmal, weil Otto Debisch in jener Nacht endlich eine
Seele gefunden hatte, die er für würdig hielt, sein entsetzliches
Wissen mit ihm zu teilen.
Hennes
Jöris hat keine Bücher geschrieben über diesen Fall, er ist nicht
im Fernsehen aufgetreten, hat nicht auf Tagungen geglänzt, ist nicht
mit Tatortlichtbildern umhergereist und hat keine Vorträge über
Verhörmethoden an Polizeiakademien gehalten. Er hätte auch gar
nicht gewusst, was er da sagen sollte. Vielleicht: Ich war bloß der
richtige Mensch zum richtigen Zeitpunkt. Oder: Ein Vernehmungsbeamter
trifft auf tausend verschiedene Menschenmodelle, und auf keines kann
er sich vorbereiten - es ist immer das erste Mal, und ich hatte
Glück.
Hennes
Jöris hielt an jenem Abend ein kleines Versprechen und ist dafür
übermäßig belohnt worden. Er war zuverlässig und freundlich
gegenüber einem Menschen, dem nie einer mit Treue und Güte begegnet
ist, den das Schicksal immer nur in die Irre geschickt und in den
Morast von Brutalität und Verrat getaucht hatte. Und dieser Mensch
hatte ihn nun zu seinem Freund erkoren und beschlossen, ihn - unter
Aufgabe der eigenen Existenz - berühmt zu machen. Blutiger Ruhm war
das Einzige, was Otto Debisch zu verschenken hatte.
Das
ist alles lange her. Nächstes Jahr geht Hennes Jöris in Pension.
Der Flur der Todesermittler im ersten Stock der alten
Backsteinkaserne, in der die Polizei Mönchengladbach sitzt, war über
all die Jahre sein Zuhause. Hier trat er 1978 als Praktikant seinen
Dienst an, jetzt ist er seit zwölf Jahren der Chef. Raum F169 ist
seiner, hier riecht es nicht nach Ruhm, sondern nach Pfeifenrauch.
Auch müsste mal gestrichen werden, die türkisfarbene Jalousie hängt
schief über sterbenden Topfpflanzen. Im Radio singt Marianne
Rosenberg leise von ewiger Liebe. Jöris, über dessen Schreibtisch
350 Todesermittlungen im Jahr gehen, der täglich Erstochene,
Ertrunkene, Erhängte, Erschlagene, Erwürgte und auf unklare Weise
Erloschene zu Gesicht bekommt, hört ständig WDR 4, einen
tröstlichen Sender für ältere Leute, aus einer unerreichbar heilen
Welt. Jöris sitzt täglich ab 6.30 Uhr an seinem Schreibtisch, um 10
Uhr hat er schon die zweite Pfeife geraucht. An den Wänden Fotos von
früher: Jöris im Kreise der Kollegen, klein, jung, drahtig, mit
halblangen Locken und Schnauzbart. Das Kinn trotzig vorgereckt. Die
Arme selbstbewusst vor der Brust verschränkt. Ein guter Bulle.
Debisch
reißt die Schreibmaschine hoch und brüllt: "Den bring ich um!"
Das
Ansehen eines Beamten wächst mit der Schwere des zu bekämpfenden
Verbrechens, deshalb gilt die Mordkommission als Gipfel der
Polizeiarbeit. Oder wie Jöris es ausdrückt: "'ne Steigerung
von tot jibt et nich!" Weil der gewaltsame Tod sich nicht an die
Dienstzeiten hält und Mörder keinen Feierabend machen, sondern
vorzugsweise nachts oder am Wochenende zuschlagen, hat Jöris zwei
Handys und zu Hause drei Festnetztelefone: in der Küche, neben dem
Fernseher, am Bett. Oft schreckt ihn das Klingeln in der tiefsten
Nacht hoch und zwingt ihn, im Halbschlaf Entscheidungen zu fällen.
Wie viele Weihnachtsfeste, Urlaube, Hochzeitstage, Kindergeburtstage
hat er in den vergangenen dreißig Jahren an Tatorten oder in
Vernehmungszimmern verbracht? Wie oft saß seine Frau neben einem
leeren Platz im Theater oder aß in einem Wellnesshotel für zwei? Er
kann nicht anders - "töter jibt et nich" - er muss. Er ist
geboren für diese ausgetretenen Treppenhäuser, diese gebohnerten
Gänge, diese mit hässlichen Fahndungsplakaten beklebten Wände.
Hennes Jöris ist geschaffen für das Verbrechen.
Und
für Täter wie Debisch, dessen drei Schiffe immer noch über den
Aktenschrank im Raum F169 segeln: ein Zweimaster, ein Dreimaster, ein
Viermaster. Mit Rahen und Takelage, hergestellt aus einem Berg von
Streichhölzern und einem Meer von Geduld. Hennes Jöris hat die
Streichhölzer damals büschelweise abgebrannt, bevor er sie Otto
Debisch in die Zelle brachte. Drei Monate war der
Untersuchungshäftling im Polizeigewahrsam, "ausgeantwortet",
wie es heißt, weil er so schrecklich viel zu gestehen hatte. Und
Jöris sorgte dafür, dass es Debisch in dieser Zeit gut ging.
Die
langen Gespräche zwischen Hennes Jöris und Otto Debisch sind bis
heute in den dicken Vernehmungsakten des Mönchengladbacher
Polizeiarchivs festgehalten. Auf ihnen haben sich inzwischen so viele
Jahre abgelagert, dass sich die Hände waschen muss, wer darin
blättert. Leicht kann es nicht gewesen sein mit Debisch, der,
mutterlos in sozialer Kälte aufgewachsen, den Menschen vor allem
Böses zutraute.
In
den ersten Tagen will er gar nicht essen, bis Hennes zur Pommes-Bude
läuft, um dieser Verweigerung eine dicke Currywurst
entgegenzusetzen. Später fahren Streifenwagen zum "Spickhof"
und holen von dort gewaltige Grillteller, die Otto dann gerne
vertilgt. Der Beschuldigte muss bei Laune gehalten werden. Ist er
schlecht drauf oder fehlt Jöris beim Verhör durch Zufall, schweigt
er einfach oder weist auf seine Rechte hin: Er sei nicht
verpflichtet, hier Angaben zu machen. Als ein hinzugezogener Polizist
im Verhör einmal laut wird und ihm mit Drohungen kommt ("wir
können auch anders"), reißt Debisch eine Schreibmaschine an
sich, schwenkt sie hoch über dem Kopf des Störenfrieds und brüllt:
"Den bring ich um!" Der Beamte muss den Raum sofort
verlassen, denn dröhnende Stimmen oder fuchtelnde Gebärden kann der
Beschuldigte nicht vertragen - er ist in seinem Leben zu viel
angeschrien und misshandelt worden.
Auch
bei Jöris schweigt Debisch manchmal lange im Verhör. Am Anfang
bringt er es nicht fertig, die grausamen Einzelheiten auszuspucken,
er wirft stumm den Kopf nach vorn, sodass ihm sein langes Haar ins
Gesicht fällt. Dann weiß Jöris, es ist Zeit für eine Pause. "Der
Vernehmer braucht vor allem: Geduld", sagt Jöris, "wer
eine Aussage erzwingen will, scheitert." Also hat er zugehört
und gewartet. Bis der andere Schutt ablädt. Debisch spricht und
spricht, die Schreibmaschine macht die Musik dazu. Was da kommt, ist
kein Geständnis mehr, es ist ein Befreiungsoratorium. Otto Debischs
lange Flucht vor sich selbst geht zu Ende.
Das
Vernehmungsprotokoll dokumentiert, dass der Redestrom Debischs
seitenlang durch keine einzige Frage unterbrochen wird. Und auch,
dass Gestehen eine sehr intime Sache ist, eine schreckliche innere
Leistung. Mörder wissen, wie die Gesellschaft über sie denkt. Und
wer sechs bestialische Morde schildert, wie Debisch, dem ist klar,
dass er sich im Prozess des Gestehens aus der Gemeinschaft der
Menschen hinausbewegt, dahin, wo die totale Einsamkeit herrscht. Bloß
Hennes Jöris ist noch da. Der geht mit auf Höllenfahrt und kümmert
sich, dass Debisch auch jetzt Teil der Menschheit bleibt. Jöris, der
keine Angst vor ihm hat, nicht das Ungeheuer sieht, sondern den
Gepeinigten, den Gehetzten, den Gottverlassenen. Jöris, der jeden
Tag in den Vernehmungspausen mit Debisch spazieren geht auf dem
großen, mit schönen Platanen bewachsenen Polizeigelände. Tag für
Tag, Woche um Woche, durch Handschellen und Fürsorge an ihn
gekettet. Bisweilen ertappt Jöris sich dabei, dass er dem anderen
auch etwas offenbart, erzählt von sich und seiner hübschen Frau,
die gerade ein Kind erwartet.
So
gelingt es dem Kriminalbeamten Hennes Jöris, Hüter von Recht und
Ordnung, um sich und den Mörder eine Zeit lang einen magischen Kreis
zu ziehen, in dem die Normen der Welt nicht mehr gelten und Recht und
Ordnung außer Kraft gesetzt sind. Keine der Abscheulichkeiten, die
Otto Debisch begangen hat, wird bewertet, keine verurteilt, keine
angewidert kommentiert. Sie stehen für sich - unberührt von Gut und
Böse. Ein Vernehmungszimmer ist kein Gerichtssaal, sondern ein
Beichtstuhl. Nie wieder wird jemand an Otto so Anteil nehmen wie
Hennes. Und nie wieder wird einer so zuhören. "Jeder hat einen
Grund für das, was er tut", sagt Jöris nüchtern, "auch
der Mörder." Jöris kennt die Physik des Verbrechens: Ursache
und Wirkung, Druck, der Gegendruck erzeugt, Zerstörung, die
Zerstörer gebiert. Und Otto lässt sich fallen, denn für Hennes
sind alle Menschen aus demselben Stoff gemacht: Was Otto auch getan
haben mag, nichts wird an dieser Einschätzung etwas ändern.
Mönchengladbach,
12. Februar 1984, 10.49 Uhr. Vernehmung Otto Debisch zum Tode des
Arnold P. in Essen.
"Woher
kanntest du den Arnold?"
"Aus
dem Heim, wir sind immer zusammen weggegangen. Er war aber in einer
anderen Gruppe, ich glaube H oder B."
Wie
alt war er denn?"
"So
17 oder 18."
"Und
was ist passiert?"
"Wir
sind auf den Schrottplatz Brombeeren pflücken gegangen", sagt
Debisch, "da hab ich ihn vor den Kopf gehauen."
"Womit
denn?"
"Mit
einem Knüppel, kann auch ne Eisenstange gewesen sein."
"Und
dann?"
"Dann
hat er sich nicht mehr gerührt, dann hab ich mit ihm dasselbe
gemacht wie mit den anderen."
"Was
denn?"
"Ich
habe ihm zuerst den elften Finger abgeschnitten"
"Und
weiter?"
"Dann
hab ich ihn abgeschlachtet."
"Wie
hast'n das gemacht?"
"Ich
hab das Fleisch von den Knochen getrennt."
"Womit?"
"Mit
einem Messer."
"Von
allen Knochen?"
"Von
allen!"
"Haste
sonst noch was abgeschnitten?"
"Ja,
die Hände und Füße an den Gelenken."
"Und
sonst?"
"Ich
hab das Fleisch vom ganzen Körper abgetrennt."
"Was
hast'n mit dem Fleisch gemacht?"
"In
ein Loch geschmissen, das war schon da."
"Haste
den Jungen vorher ausgezogen?"
"Ja,
dat musst ich ja wohl."
"Was
hast'n mit der Kleidung gemacht?"
"Liegen
lassen."
"Warum
haste denn das Fleisch abgeschnitten? War der da schon tot?"
"Der
war schon tot, der hat sich nicht mehr gerührt. Und warum ich das
gemacht hab, weiß ich nicht. Ich hab alle Knochen abgeschnitten und
einzeln in eine Tonne getan. Ich hab auch den Kopf abgeschnitten, da
hab ich auch das Fleisch von abgemacht. Erst hab ich die Füße
abgeschnitten, dann das Bein am Knie, dann oben an der Hüfte. Dann
den Körper in der Mitte durchtrennt, dann die Arme abgeschnitten und
nochmal in der Mitte geteilt, dann hab ich noch die Hände
abgeschnitten. Die Hände und Füße habe ich genommen und sie unter
der Brücke vergraben. Die Stelle könnte ich dir heute noch zeigen."
"Wie
weit ist die Brücke entfernt?"
"Ungefähr
500 Meter."
"Was
hast du dann gemacht?"
"Zurück
ins Heim gegangen."
"Bist
du eigentlich später mal von der Polizei überprüft worden?"
"Nee."
Wie
zerlegt man einen Menschen? Otto erklärt es stundenlang. Er hat es
ja wieder und wieder getan. Er hat sich quer durch den Nordwesten
Deutschlands gemordet, immer dem Weg folgend, auf dem man ihn als
Jugendlichen von Heim zu Heim weiterstieß. Immer da, wo Otto gerade
war, kam jemand grausig zu Tode. Arnolds Skelett hat er
beispielsweise - abzüglich Hände und Füße - an einem anderen Ort
anatomisch korrekt wieder zusammengesetzt und wie ein Memento mori
liegen lassen, auf dass die Menschheit es finde. Ein Symbol aus
archaischen Zeiten mitten in Essen, Nordrhein-Westfalen.
"Ich
habe nur Kirschen geklaut und den Willi umgebracht"
Manchmal
beschleichen KOK Jöris Zweifel an Debischs Berichten: Jeder Polizist
kennt die Schwätzer, die sich auf den Wachen wichtig tun mit ihrem
Wissen aus der Zeitung. Auch für den Mord an Arnold sitzt seit
Jahren schon ein anderer in einer Anstalt, ein Schizophrener, der
sich seinerzeit selbst bezichtigt hatte. "Otto", hält
Jöris dem Beschuldigten deshalb vor, "du sollst uns hier nicht
aus Gefallen Dinge erzählen, die du nicht gemacht hast. Hast du den
Arnold wirklich getötet?"
"Ja."
"Hast
du ihn alleine getötet?"
"Ja."
"Otto,
du weißt, dass jemand anderes längst gestanden hat, den Arnold
umgebracht zu haben. Wie erklärst du dir das?"
"Der
ist bekloppt in der Birne."
So
kommt es mitten in den Verhören plötzlich zu einer Art
Beweislastumkehr: Nicht der Polizist versucht dem Beschuldigten die
Tat nachzuweisen, sondern Debisch müht sich, den Kommissar davon zu
überzeugen, dass er tatsächlich ein Serienmörder ist. Im Fall des
kleinen Engländers kann Debisch das verschwundene Medaillon
beschreiben, das der 12-Jährige bei seiner Ermordung um den Hals
trug. Und im Fall Arnold glaubt der Kommissar dem Vernommenen die
Geschichte erst, als der ihn zur beschriebenen Brücke führt, unter
der die Beamten wirklich die Überreste von Händen und Füßen eines
jungen Mannes ausgraben.
Die
Fotos der besichtigten Tatorte und Rekonstruktionen liegen in den
Akten. Große Schwarz-Weiß-Abzüge, auf denen man Jöris und Debisch
aneinandergekettet zu Tatorten gehen und von Tatorten kommen sieht.
Gemeinsam durchmessen sie jene verbrannte Erde, die damals Debischs
Lebensraum war: Schrottplätze, Baustellen, Kinderheime, verhungerte
Schonungen, Industriebrachen, graue Wiesen, Unterführungen,
Schutthalden, Bahngeleise - die abgerissenen, die gemiedenen
Distrikte der Bundesrepublik. Otto Debisch hauste in einem
schmutzigen, gefährlichen Niemandsland, nur durch eine hauchdünne
Wand getrennt vom satten Frieden der Wohlstandsbürger. Hier in der
Vergessenheit war sein Platz. Hier tötete er. Gleich nebenan. Die
meisten seiner Opfer sind junge Heiminsassen, wie er selbst, oder
Zufallsbegegnungen. Keine der Taten ist von langer Hand geplant.
Gegen keinen der Männer, die er erschlägt, entmannt und
aufschneidet hegt Debisch besonderen Groll. In den Verhören kann er
für seine Blutexzesse nicht einmal einen Grund angeben.
Es
müssen Springfluten der Aggression gewesen sein, die über ihm
zusammenschlugen und ihn mit sich rissen. Attacken aus dem Nichts,
Rauschzustände der Allmachtsfantasie. Einen Menschen komplett
auseinanderzunehmen dauert - vorausgesetzt, man hat ein gutes Messer
- etwa einen Tag. Debisch hat sich lange und leidenschaftlich mit der
totalen Zerstörung von Personen beschäftigt - welches Ausmaß an
destruktiver Energie muss er aufgebracht haben! Wie viel Ergötzen
und Befriedigung muss sein Vernichtungswerk ihm beschert haben, dass
er es wieder und wieder verrichtete!
Nichts
von dieser Ekstase dringt in seinen Aussagen durch. Weder Blutrausch
noch Begeisterung. Seine Berichte sind detailreich und sachlich
genau, seine Skizzen übertreffen an Exaktheit die der Polizei, doch
bleibt alles dürr und seltsam ohne Regung. So, als beschriebe
Debisch einen Tag auf der Kfz-Zulassungsstelle. Debisch sagt Sätze
wie diesen: "In S. habe ich eigentlich gar nichts angestellt.
Außer Kirschen geklaut. Und außer den Willi umgebracht." Wenn
er in Tränen ausbricht, dann über sich und das eigene Schicksal -
nie über das der Getöteten.
Debischs
Geständnis erscheint wie eine weit zurückliegende Halluzination, in
die er den Kommissar jetzt entführt: Es gellen keine Schreie,
niemand kämpft oder bettelt um sein Leben. Hier gibt es keine
herausquellenden Därme, keine Qual, keine Angst, keinen Hass, keinen
Gestank, keinen Ekel, keine Reue, keine Lust, keinen Schmerz. Wie ein
Träumender bewegt sich der Mörder durch die abstrakte Szenerie der
eigenen Schilderung. Sobald er seine Opfer mit dem Messer berührt,
zerfallen sie scheinbar von selbst in ihre Bestandteile. Wie im
Märchen werden Figuren mühelos mittendurch gerissen, Hände und
Füße liegen plötzlich da, wie abgefallen. Alles scheint leicht und
selbstverständlich, und niemand muss sich wundern.
Zum
Kaffeetrinken 25 Jahre später hat Otto Debisch Cremeröllchen
mitgebracht und Schokopudding. Er schenkt aus der Thermoskanne nach,
Milch und Zucker, selbst das Geschirr hat er in seinem großen roten
Rucksack hergeschleppt. Otto ist der Gastgeber, Hennes sein Gast. Der
hat als Mitbringsel eine ganze Plastiktüte Schwarzer Krauser und
Zigarettenpapier dabei. Bis heute raucht Otto Debisch nur dieses
Kraut. Vielleicht sieht er deshalb älter aus, als er ist. Sehnig,
zerfurcht, eine Schirmmütze gegen die Sonne und gegen die Blicke,
immer gebeugt. Er könnte Bauarbeiter sein oder Trapper, er ist aber
Gärtner. Die beiden trinken Kaffee und reden nicht vom Tod, sondern
vom Leben: Otto erzählt von Eissalat, Kopfsalat, Johannisbeeren,
Radieschen, Gurken und Rhabarber, all dem Gemüse, das unter seinen
Händen gedeiht. Seine Finger sind voller winziger Stacheln, das
kommt von den Brombeeren und Disteln. Hennes merkt, dass Otto die
Stacheln nicht mehr richtig sehen kann. "Du brauchst 'ne
Brille", sagt er, "wir müssen uns drum kümmern."
Man
muss wohl schrumpfen und sich in Debischs klein gebliebenes,
versteinertes Seelenhaus quetschen, durch seine Schießscharten in
die Kloake hinausblicken, als die sich die Welt ihm präsentiert.
Genau das hat Jöris getan. Und hat verstanden. Hat im anderen die
entsetzlich schiefgelaufene Variante seiner selbst erkannt. Den
finsteren, wütenden Bruder, der für sein Unglück Rache am
Menschengeschlecht nahm, indem er Unbekannte als anonyme Vertreter
dieser Menschheit zermalmt hat. Aus dieser Anteilnahme hat Jöris nie
mehr ganz herausgefunden.
Die
Frage, woher das Böse rührt, hat die zwei Männer damals
zusammengeführt, wenn sie sich diesem Thema auch von
entgegengesetzten Seiten näherten. Jöris, der Polizist, aus seiner
intakten Welt - Debisch, der Mörder, aus seiner defekten:
Hier
Jöris, einziger geliebter Sohn hart arbeitender Bürger, der Vater
Kraftfahrer, die Mutter bei der Bahn. Dort Debisch, einer von zehn
verwahrlosten Söhnen, dessen hasserfüllte und gewalttätige Familie
in einem einzigen Zimmer und später in einem Abrisshaus vegetierte.
Hier
Jöris, dessen Mama mit dem Rad noch einmal einkaufen fuhr, wenn
ihrem Liebling das Mittagessen nicht passte, und die ihm tröstend
ein Bier servierte, als er durchs Abitur gefallen war. Dort Debisch,
dessen Mutter starb, als er ein kleines Kind war und dessen
alkoholisierter Vater die Söhne strafte, indem er ihre Hände auf
die heiße Herdplatte legte.
Hier
Jöris, der als junger Kriminalbeamter seine häusliche Helga
heiratete, die ihm bis heute jeden Tag ein vorgekochtes Mittagessen
fürs Büro einpackt. Dort Debisch, ein chaotischer Halbwüchsiger
auf Odyssee durch Kinderheime, psychiatrische Anstalten und
Waisenhäuser, ein abweisendes und verschlossenes Kind, nirgends
angenommen, nirgends gut gelitten.
Hier
Jöris, der nach Dienstschluss in sein Bullerbü heimfährt, worin
ein weißes Entenpaar, Bert und Berta, mit den Küken über den Teich
schwimmt und Helga ihm nach dem Nachtmahl die Pfeife in den Garten
trägt. Dort Debisch, der im März 1985 vom Landgericht
Mönchengladbach zu einer hohen Haftstrafe verurteilt und obendrein
wegen einer vom psychiatrischen Sachverständigen diagnostizierten
"schweren seelischen Abartigkeit" auf unabsehbare Zeit in
den Maßregelvollzug eingewiesen wurde, wo er heute noch sitzt.
Plötzlich
packte Debisch eine wilde Reue: Der Freund war bloß ein Spion
Und
jetzt sitzen sie beide da, im sonnendurchfluteten Besucherraum einer
modernen forensisch-psychiatrischen Anstalt, und reden. Hennes hat
auf Ottos Bitten Erkundigungen über dessen Geschwister eingezogen.
Und weil fast alle Debisch-Brüder dissozial, polizeilich auffällig
oder irgendwo eingesperrt sind, kann Hennes Ottos Familiengeschichte
ziemlich genau rekonstruieren: Wer wo wie lange brummen muss, wer vor
Gericht steht, wer festgenommen wurde, wer starb. Debisch selbst
erfährt von draußen nur das, was es bis in die Fernsehnachrichten
schafft. Kein Mensch besucht ihn - nur Jöris.
An
diesem Spätsommertag geht es um den ungeklärten Tod eines älteren
Bruders irgendwo in Norddeutschland, der ein paar Aspirintabletten
geschluckt hatte und dann leblos im versifften Zimmer eines weiteren
Bruders gefunden wurde. Die Suche nach der Todesursache war rasch
eingestellt, der Leichnam ohne Obduktion bestattet worden.
Als
Gegenleistung für die Recherche schenkt Debisch dem Besucher eine
Panflöte, gefertigt aus Goldregenholz, das im Anstaltsgarten wächst.
Die Zweige hat Otto mit dem Messer ausgehöhlt und zugeschnitten und
mit Zwirn zusammengebunden. Otto gilt mittlerweile als in sich
ruhender Patient, sodass er mit spitzen und scharfen Gegenständen
hantieren darf. Psychopharmaka bekommt er nicht, er ist nicht krank
im klassischen Sinne. Otto ist kaputt, dagegen gibt es keine
Medikamente. Als Otto dem Instrument ein paar Töne entlockt, sagt
Hennes: "Schön! So was kricht man nicht alle Tage." - "Auf
jeden Fall handgemacht", antwortet der andere befriedigt.
Debisch
ist der einzige Verurteilte, zu dem Jöris je Kontakt hielt, nachdem
alle Arbeit getan war. Mit dem er sich geschrieben, mit dem er
telefoniert und den er ab und zu besucht hat. Dabei darf man sich
diese Beziehung nicht als herzliche Männerfreundschaft unter
Gleichgesinnten vorstellen. Jöris besucht Debisch eher, so wie ein
Veteran einen alten Kriegskameraden besucht, mit dem es nicht mehr
viel zu reden gibt, an dem man aber hängt, weil man einst gemeinsam
vor Stalingrad im Schützengraben lag.
Eine
Rolle spielt dabei, dass Debisch nicht zu den kaltherzigen Taktikern
gehörte, die aus Geldgier töten und ihr Alibi minutiös planen.
Solche aalglatten Mörder hat Jöris später auch verhört - manche
haben dabei versucht, ihr Verbrechen unbeteiligten Dritten anzulasten
- , und er war jedes Mal froh, wenn die Sache vorbei war. Debisch
mochte sechs Morde auf dem Gewissen haben - irgendetwas an ihm hat
Jöris trotzdem angerührt, wenn er auch nicht genau sagen kann, was.
Wahrscheinlich, dass Otto so aus tiefstem Herzen von allem Übel
erlöst werden wollte und dass er dazu einen Freund und Helfer
brauchte. Es ist dieser Vertrauenskredit, den Hennes Jöris bis heute
abträgt. Seine Treue ist die Revanche für Ottos totale
Selbstauslieferung.
Und
Debisch? Für ihn war Jöris die beste Beziehung, die er je hatte.
Einer, der Wohlwollen in sein Leben getragen hat. Und Mitleid. Und
Gerechtigkeit.
Die
große Krise zog für Debisch herauf, als alles gesagt war, als die
gemeinsame Seifenblase platzte und seine Zweisamkeit mit Jöris ein
abruptes Ende nahm. Das war, als Debisch nach Abschluss der
Ermittlungen im Mai 1984 ins Untersuchungsgefängnis verlegt wurde.
Monatelang war er der Star des Mönchengladbacher Polizeireviers
gewesen, der Nabel der Welt. Jeder hatte an seinen Lippen gehangen.
An den Montagen war Debisch jedes Mal bockig und verstimmt gewesen,
weil ihm übers Wochenende Jöris' Aufmerksamkeit nicht im gewohnten
Maße gegolten hatte. Dann musste der gekränkte Beschuldigte durch
Sonderrationen an Zigaretten, Cola und Zuwendung wieder aufgemuntert
werden. All das hörte schlagartig auf. Kein Jöris mehr. Kein
Grillteller. Stille in seiner Zelle und auf dem Flur nur das kalte
Rasseln der Gefängnisschlüssel.
Otto
ist mit einem Mal wieder einsam. Allein mit dem Blut und der Schuld,
die er zusammen mit Hennes heraufbeschworen hat. Ohne Ablenkung,
Musik, Gerüche, Licht und Trost. Zurückverbannt in seine mit
Schreckensbildern ausgekleidete Innenwelt. Plötzlich muss in Otto
der Gedanke aufgestiegen sein, dass Jöris niemals sein Freund war,
sondern bloß ein Spion, ein Aushorcher. Und eine wilde Reue muss ihn
gepackt haben, eine ohnmächtige Wut. Die Hassbriefe, die Otto im
Frühjahr 1984 aus dem Gefängnis an den "Polizeipräsidenten
Hennes Jöris" geschrieben hat, füllen einen halben Ordner. Sie
schnappen über vor Zorn und Enttäuschung. "Ihr könnt mich
alle am Arsch lecken", kreischt es in entfesselter Orthografie,
"ich schreibe jetzt an die Zeitung, die werden mir geben, was
ich brauche. Der Hennes war immer noch nicht bei mir. Ich habe jetzt
die Wahrheit aufgeschrieben, denn das, was ihr habt, ist nicht die
Wahrheit. Ich habe euch alle in der Hand. Ich kann immer noch sagen,
dass ihr mich gezwungen habt, alles zuzugeben. Damit ihr einen Mörder
habt, der in den Knast geht. Doch in der Zelle habe ich mich kaputt
gelacht über euch, weil ich euch so verarscht habe. Kaputt gelacht.
Ich bin kein Mörder! Ihr seid die Irren! Ich bin kein Mörder! Der
wahre Mörder ist noch frei."
Vorbei
ist es jetzt mit Otto Debischs Ruhe, von der er in den Vernehmungen
durchdrungen war. Mit aller Macht will er Jöris herbeizwingen. Er
schimpft, er droht mit dem Anwalt, mit der Presse und mit Suizid. Er
bittet und fleht. Im Mai 1984 schreibt er: "Mein Freund! Kannst
du dich nicht wieder bei mir einnisten? Dann hast auch du Gitter vor
den Fenstern. Ist das nicht ein guter Vorschlag? Du und ich in einer
Zelle. Dann kannst du mit mir sprechen über was du möchtest. Ich
hab es so satt, alleine zu sein. Für zwei Wochen ist das sicher zu
machen. Wenn du nur willst!!" Und Jöris überlegt allen
Ernstes, sich auf Debischs Vorschlag einzulassen. Vielleicht habe der
ja noch mehr düstere Geheimnisse. Die Vorgesetzten müssen es Hennes
Jöris ausdrücklich verbieten, zu Otto Debisch ins Gefängnis zu
ziehen.
Als
Debisch merkt, dass alles nichts fruchtet, bekommt die Polizei
ungewöhnliche Post: eine selbst gezeichnete maßstabsgetreue
Geländeskizze eines alten Steinbruchs, in die der
Untersuchungshäftling mit Kreuzen und hingestreckt gemalten Männchen
die angeblichen Gräber fünf weiterer Mordopfer eingezeichnet hat.
Endlich geschieht, worauf Debisch zielt: Jöris kommt zurück und
setzt die Vernehmung fort: "Otto, du hast in dieser Zeichnung
fünf kleine Personen eingezeichnet, was hat es damit auf sich?"
"Das
sind fünf Menschen, die da noch liegen müssten."
"Männer
oder Frauen?"
"Alles
Männer."
"Sind
die vergraben?"
"Ja."
"Wie
tief denn?"
"So
50 bis 60 Zentimeter."
"Wer
hat sie vergraben?"
"Na
wer wohl? Ich."
"Wann?"
"1981
alle."
"Waren
die tot?"
"Nee,
ich hab ihnen mit dem Knüppel auf den Kopf gehauen."
"Allen
an einem Tag?"
"Nee,
ich hab sie an fünf Tagen hintereinander umgehauen."
"Sagst
du das jetzt nur, um wieder mal rauszukommen?"
"Nein,
es stimmt. Bisher hat mich halt keiner danach gefragt."
"Haste
die auch zerschnitten?"
"Nee."
"Kann
die einer gefunden haben?"
"Nee,
wie denn?"
"Also
liegen die da noch."
"Ja."
"Und
du kannst uns die Stellen zeigen?"
"Klar."
Ein
Polizeivermerk vom 3. Juli 1984 erzählt, wie die Geschichte
weitergeht: "Heute wurde Debisch in der Justizvollzugsanstalt
abgeholt und an Ort und Stelle gebracht. Dort erklärte er plötzlich,
er habe uns nur verarschen wollen. Er habe hier niemanden umgebracht
und vergraben." Dennoch lässt der damalige Chefermittler das
Gelände zwei Tage lang von vier Leichenspürhunden und sieben
Polizeibeamten absuchen. Sie finden nichts.
Danach
streitet Debisch alles ab. Auch vor Gericht. Da gibt er zwar zu,
Jöris die Taten genau so geschildert zu haben wie protokolliert,
doch er beharrt darauf, sie nicht begangen zu haben. Auf die Frage
des Vorsitzenden Richters, warum Debisch über die Morde Einzelheiten
wisse, die nur der Täter kennen kann, behauptet Debisch plötzlich,
in allen sechs Fällen als Zeuge dabei gewesen zu sein. Aber er
weigert sich, die Identität des wahren Mörders preiszugeben. "Aus
Angst", wie er sagt.
Und
Debisch hatte Angst. Vielleicht muss man sich seine Psyche wie das in
Segmente aufgeteilte Innere einer Apfelsine vorstellen. Alle seine
bösen Wünsche und traumatischen Erinnerungen hatte Debisch in ein
einziges vergiftetes Apfelsinenrippchen gepackt und es dem Kommissar
Jöris im Verhör übergeben. Das Ich-bin-es-gewesen hatte Jöris ihm
abgenommen. Und jetzt war Debisch es los, ein für allemal. Um
weiterleben zu können, müssen seelisch instabile Mörder den
verhassten Teil der eigenen Persönlichkeit manchmal abspalten und
wie einen Fremden fortschicken. Sprechen sie dann über ihre
Bluttaten, stehen sie im Wortsinne neben sich und beobachten sich aus
der Perspektive eines Dritten, eines Zeugen. Die Wahrheit, dass sie
selbst es gewesen sind, die da handeln, könnten sie nicht aushalten.
Debisch
hat nie wieder über seine Taten gesprochen. Dem Nervenarzt, der ihn
für die Hauptverhandlung untersucht hatte, gab er ausweichende
Antworten. Vor Gericht hat er alles abgestritten. In der Anstalt
schweigt er seit 25 Jahren. Einen Polizeiprofiler, der ihn befragen
wollte, hat er aus der Zelle geworfen. Einem Fernsehsender, der eine
große Dokumentation über ihn drehen wollte, hat er geschrieben:
"Leckt mich am Arsch!" Fragt man Debisch heute, warum er
sich ausschließlich Jöris anvertraut hat, sagt er: "Weil der
zuhört."
Wenn
Hennes ihn hin und wieder nach dem Fortgang irgendwelcher Therapien
fragt, zuckt Otto die Achseln. Manchmal, sagt er, unterhalte er sich
mit dem netten Anstaltspsychologen, aber bloß über das aktuelle
Wohlbefinden. Zu mehr ist er nicht bereit. Debischs Vergangenheit
liegt unter einer Grabplatte. Zu den gerichtlichen Anhörungen, in
denen über die Fortdauer seiner Unterbringung entschieden wird, geht
er schon lange nicht mehr. Briefe des Gerichts wirft er weg. "Die
Versuche einer therapeutischen Arbeit mit Herrn Debisch waren
weitgehend erfolglos", schrieb ein externer Gutachter vor drei
Jahren über ihn. "Herr Debisch hat es bisher nicht zugelassen,
auch nur ansatzweise etwas von seinem inneren Erleben preiszugeben."
Bei dieser Haltung sei an eine Entlassung nicht zu denken.
So
lebt Otto Debisch nunmehr hinterm Mond. Dort ist es sicher und still.
Wie ein Astronaut sieht er die Erde aus sehr großer Entfernung, und
die Geräusche der Welt dringen so gedämpft an sein Ohr, dass sie
ihn nicht irritieren können. Ein Mann im Schwebezustand, frei von
Erwartungen, Hoffnungen, Anforderungen. Ohne Vergangenheit und ohne
Zukunft, ohne Erinnerung und ohne Ziel. Dass er letztlich wegen
Hennes Jöris hier ist, nimmt Otto ihm nicht übel. Otto sagt: "Alles
meine Schuld gewesen. Der Jöris kann da nichts für."
Gleich
nach der Verurteilung kamen Ottos Briefe: "Mein lieber Freund,
wie geht es dir? Ich denke gern an die alten Zeiten zurück"
Inzwischen hat Jöris eine ganze Mappe voll von diesen Schreiben, an
deren Anfang und Ende - wie bei einer polizeilichen Vernehmung -
immer die genaue Uhrzeit steht. Hennes hat zurückgeschrieben, später
auch angerufen und irgendwann den ersten Besuch gemacht. Seine
Kollegen auf der Wache erinnern sich, dass Ottos Telefonate ab und zu
mitten in Polizeibesprechungen platzten und Jöris sich dann erst mal
mit Otto unterhielt. "Wenn ich geknickt bin, dann rufe ich halt
den Hennes an, und dann beruhigt er mich wieder für ein paar Jahre",
sagt Otto Debisch. Er hat sogar die Telefonnummer des
Privatanschlusses der Familie Jöris. "Wenn Debisch eines Tages
ausbricht", prophezeien die Kollegen, "steht er bei dir vor
der Tür."
Die
Besuchszeit ist um, Otto packt die Kaffeetassen ein. Hennes muss
gehen. Auch er hat mit Otto seither nie mehr über die Morde geredet
und ihn nie nach dem Warum gefragt. Er fürchtet, Otto könne den
Verstand verlieren, wenn er ihn noch einmal zwänge, sich umzudrehen
und zurückzuschauen ins finstere Tal seines Lebens. Hennes gibt Otto
zum Abschied die Hand, dann tritt er durch die Sicherheitsschleuse
aus Panzerglas hinaus in die freie Welt. Er wird wiederkommen.
Irgendwann. Weil Otto wartet.
Zurück |