Gewinner des Deutschen Reporterpreises 2010 - Kategorie Kulturreportage.
Junge
Nummer eins
München
ehrt den Regisseur Klaus Lemke - den härtesten Rocker und
entschlossensten Träumer des deutschen Films. Begegnung mit einem
Schwabinger Freiheitskämpfer, dessen Blick unter der Schiebermütze
immer noch schärfer wird.
Alexander Gorkow und
Tobias Kniebe, Süddeutsche Zeitung, 24.07.2010
Man ist als
schamhafter Kleinbürger drauf trainiert, an solchen Sachen nicht
lange hängenzubleiben, aber man kann ja auch nicht drüber
hinwegsehen. Klaus Lemkes Poloshirt ist am Kragen zerrissen, und
seine Sneakers sind vorne aufgeplatzt.
Dazu kommt aber eine
furchterregende Pünktlichkeit. Auf die Sekunde steht Klaus Lemke vor
dem "Arri"-Kino in der Türkenstraße. Er ist fast 70 Jahre
alt, braungebrannt, schlank, der Körper topfit durch tägliches
Training im "Leos" hinter der Uni. Er trägt die
Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen. Jetzt kommt das Grinsen, es
folgen zwei Lemke-Schlüsselwörter: die Anrede "Cowboys!",
dann der Ausruf "Bombe!"
Klar ist: Die
Zerfetztheit gehört zu dem Mann wie seine Pünktlichkeit, seine Wahl
des Ortes, seine Selbststilisierung, seine Sprache: Kontrolle und
Verwahrlosung. Genie und Wahn. Das Gesamtpaket Lemke, so wie es jetzt
gerade die Türkenstraße schmückt, hat eine Botschaft. Die
Botschaft ist nicht, dass hier ein genialer und unterschätzter
Filmemacher die zehntausend Euro, die er am Montag als
Filmpreisträger der Stadt München bekommen wird, dringend braucht.
Sagen wir so: Er braucht sie nicht, aber er kann sie ganz gut
gebrauchen. Dass er unterschätzt werden würde? Stimmt auch nicht.
Dominik Graf hält am Montag die Laudatio, weil Graf einer von jenen
ist, die Lemkes Filme maßlos verehren. Die Botschaft ist noch
weniger, dass das saturierte deutsche Filmestablishment, dem die
staatlichen Fördermillionen aus allen Taschen quillen, seinen
Schwabing-Botschafter vor die Hunde gehen ließe. Nur weil Lemke es
versäumt hat, sich wie alle anderen ergrauten Ex-Talente in Patricia
Riekels Bunte -Wohnstift für alte Hofnarren einweisen zu lassen?
Nein, die Botschaft
Klaus Lemkes ist fröhlicher. Und sie ist subversiver.
An einem heißen
Sommertag in München ist er zunächst einmal die
Straßenjungenausgabe eines unbedingten Bildungsbürgers, der den
modernen Kulturkanon pfeilgerade'runterbrummt: Nietzsche,
Heidegger,Howard Hawks, Sergio Leone, was du willst und vor allem,
wie es ihm selbst gerade passt, um das Leben der Mädchen und Jungs
in den deutschen Städten zu beschreiben; in Hamburg, seiner
Hafen-Liebe, in Köln, seiner Prolo- Liebe, natürlich in München,
seiner Luxus-Liebe - nicht in Berlin, das ist für ihn seit eh und je
"subventionierter Unsinn für verspannte Töchter und Söhne".
Und wie viel Liebe
für die Kinder der Städte Lemke im Herzen trägt, für diese
revolutionäre Phantasie in feindlichen Verhältnissen! Er schenkte
ihnen Szenen wie diese, aus seinem Film "Brandstifter"
(1969): Da will der linke Hipster Friedel mit seinem Opel aus einer
Parklücke, rammt den Wagen davor. Spießer versammeln sich am
Straßenrand, um den Schaden zu ermessen. Friedel zieht nun einen
Zettel aus seinem schwarzen Sakko, schreibt etwas drauf und klemmt
den Zettel an die Scheibe des von ihm gerammten Autos. Die Gaffer
ziehen ab. Auf dem Zettel unterm Scheibenwischer steht dieser feine
Text hier: "Leute haben mich gesehen. Sie beobachten mich,
während ich dies schreibe. Sie denken, ich hinterlasse Ihnen meine
Adresse. Sie irren sich." Dann fährt er mit quietschenden
Reifen weg. Wenig später folgt der Abspann, fette rote Schrift über
dem Kölner Dom, dazu singt Bob Dylan vom "Drifter's Escape".
Zunächst muss die
Legende besehen werden. Es fing an, 1967, mit dem Acapulco-Lemke.
Dieser Lemke war Teil einer Gang von Künstlern und harten Trinkern,
die Mitte der Sechziger, weiß der Geier warum, alle in Schwabing
gelandet waren und den Traum vom amerikanischen Kino träumten, wie
er mit Howard Hawks und seinem "Rio Bravo" gerade im
"Türkendolch" lief. Zugleich solidarisierten sie sich mit
anderen Träumern, die auf dem Weg dieser Sehnsucht schon
vorangegangen waren, wie Jean-Luc Godard mit "Außer Atem".
Werner Enke gehörte dazu, Rudolf Thome, Wim Wenders auch, der aber
als Trittbrettfahrer. Untrennbar verbunden mit der Vorstellung,
selbst solche Filme zu machen, war die Idee dieser Leute, endlich bei
den richtigen Mädchen zu landen.
Daraus entstanden -
in einer dreijährigen Explosion aus Begehren, Chuzpe,
Ahnungslosigkeit und todesmutigem Autodidaktentum - Filme wie
"Detektive" und "Rote Sonne" von Rudolf Thome,
"Zur Sache, Schätzchen" von May Spils und Werner Enke. Und
"48 Stunden bis Acapulco", "Negresco" und
"Brandstifter" von Klaus Lemke. Für einen Augenblick
fühlte sich das deutsche Kino rebellisch, leicht und schön an. Die
Mädchen, die entdeckt wurden und bei denen die Filmemacher auch
landen konnten, waren unter anderem Iris Berben, Uschi Glas und Uschi
Obermaier.
Es gibt eine Szene
in "Acapulco", da blitzt der wahre Lemke schon auf. Ein
Mann, zum Killer geworden, sitzt in Mexiko in einer Taverne, im
schwarzen Anzug, Krawatte, Sonnenbrille. Ein Junge drückt auf die
Wurlitzer, es ertönt eine Instrumentalversion von "Summer in
the City". Fädenziehender Weltpopkäse aus den 60ern, wie vom
Cheeseburger 'runtergekratzt. Als Nächstes sieht man den Mann eine
mexikanische Staubpiste entlangfahren. Ein Wagen kommt ihm entgegen,
er erkennt Monika, die blonde Frau, die ihn nach Acapulco gelockt
hat. Beide Autos halten. Er setzt zurück. Dann steigt er aus seinem
Wagen aus und in ihren ein. Ohne ein weiteres Wort fährt sie los,
die Kamera schaut durch die Heckscheibe zurück, wo sein Auto
verlassen am Rand dieser Piste steht, die Fahrertür zur Straße hin
weit offen.
Plötzlich liegt
eine starke Vibration in der Luft, ein Gefühl, dass alles jetzt
absolut wurscht ist, dass hier jemand im Scheitern die Freiheit
findet, aber dass diese Freiheit zugleich etwas Endgültiges, fast
schon Jenseitiges hat. Man könnte verrückt werden vor Nostalgie,
dass man damals nicht dabei war. Andererseits ist das ein glücklicher
Moment, wenn man sieht, dass Kunst die Wirklichkeit eines Lebens
vorwegnehmen kann: Ist denn nicht Klaus Lemke heute exakt dieser
Junge? Der damals seinen Wagen zurückließ?
Man kann mit ihm
zusammen auf einen weißen Rauputzbau starren, mit einem
verunglückten Logo in Blassblau, auf dem "Amalienpassage"
steht. "Da war eine Wiese und ein Trümmergrundstück,
mittendrin stand 'ne Holzhütte. Das war der ,Bungalow`", knurrt
Lemke: "Da gab es das billigste Bier. Und eine der ersten
Musicboxen. Und da ging es los." Im "Paulo" trinkt er
einen Espresso und blickt über die morgendlich belebte Türkenstraße.
"Schwachsinn", sagt Lemke plötzlich unter seiner Mütze.
Frei zu sein, heißt für ihn auch, sich frei zu machen von der
Vergangenheit, die seine Gesprächspartner gerade abklopfen wollen,
der ganze Kram in Schwabing damals, nicht zuletzt der Kokain-Wahnsinn
mit Fassbinder und dessen Kohorte in der "Klappe". Es gibt
schöne Fotos, wie sie in diesen Tagen das Gericht verlassen, wie
Gangster vom Auto-Schrottplatz aus einem frühen Lino-Ventura-Film.
Klaus Lemke kann
heute über so etwas milde lächeln, und Sentimentalitäten sind ihm
recht fremd: "Der Fassbinder wurde übrigens erst schwul, als es
ihm was genützt hat."
Im Oktober wird er
also siebzig Jahre alt, er findet das "im Grunde genommen
Scheiße", sieht aber jedem neuen Tag mit Freude entgegen - und
mit nicht graeterhaftem, sondern straßenethnologischem Interesse
auch den Mädchen, die gerade die Türkenstraße 'runterlaufen. Der
Mädchen-Lemke. Das ist die nächste Legende. Dass er diese tollen
Frauen immer wieder verliert, oder sie ihn, so wie die schöne junge
Revoluzzerin Iris Berben, die seitdem ihren Marsch durch die
Institutionen des Fernsehprogramms gegangen ist, um jetzt Präsidentin
der Filmakademie zu sein. Weiter kann man sich nicht entfernen vom
Universum des Klaus Lemke.
Für ein paar Jahre
holt er in den frühen Siebzigern das neurotische Topmodel Sylvie
Winter zum Film, bevor die in die Fänge des Bhagwan gerät. Dann
bemerkt er hinter einer Bar in Schwabing den, wie er mit Ernst sagt,
"wirklich unglaublichen Po" einer Kellnerin aus
Niederbayern, den diese auf die "denkbar arroganteste Art
ausstellt - als wär's ein Gemälde von Picasso". Das war Cleo
Kretschmer. Mit der dreht er - angefangen 1976 mit "Idole"
- eine Serie von sehr bayerischen, sehr improvisierten Filmen, in
denen auch der erfolglose DJ Wolfgang Fierek mitspielt. Die Filme
kosten praktisch nichts, sind aber enorme Kassenerfolge. Irgendwann
läuft auch diese Nummer auf Autopilot, und wenn es so weit ist, muss
für Lemke immer etwas Neues kommen. So geht das bis heute.
Am 16. August, kurz
nach Mitternacht, wird der Lemke-Film "Schmutziger Süden"
im ZDF laufen, der gleich drei neue, in Schwabing entdeckte
Lemke-Mädchen enthält. Der übernächste dann wird den schönen
Titel "Drei Kreuze für einen Bestseller" tragen. Er wurde
im Winter auf Fuerteventura gedreht. Es geht um ein Mädchen, das
sich zu Unrecht für eine hochbegabte Schriftstellerin hält, und
einen Jungen, der sich unglücklicherweise in sie verliebt.
Wenn man sich viel
traut, könnte man Lemkes Mädchen-und-Jungs-Universum so
zusammenfassen: Tolle Mädchen mit romantischen Hummeln im Hirn
zerstören rührende Jungs, die von einem eigenen Hirn gewissermaßen
nur träumen können. Die Dialoge und Bilder, die Lemke dann mit
seinen Laien beim Drehen bastelt, sie sind von so unverstellter
Komik, dass man danach für das normale deutsche Fernsehen relativ
verloren ist.
Und so läuft das
Lemke-Ding: Die Filme kosten fast nichts, alles wird improvisiert und
mit einfachsten Mitteln auf digitalen Kameras gedreht. Jeder, der
mitmacht, bekommt 50 Euro am Tag und keinen Cent mehr. Was noch an
Geld gebraucht wird, finanziert Lemke selbst, meist mit der Gage des
letzten ZDF- oder WDR-Verkaufs. Seit Jahrzehnten hat er bei keiner
Filmförderanstalt mehr Produktionsmittel beantragt und keinen Sender
mehr um einen Vorschuss oder eine Erlaubnis gebeten, wenn er eine
Idee hatte. "Schmutziger Süden" wird, wenn es nach ihm
geht, bald eine Miniserie fürs Bayerische Fernsehen werden, die das
Wesen der Münchner Mädchen im Jahre 2010 ergründet, denn Lemke
kennt dieses Wesen: "Extrem sexy, konsumfreudig, aber vollkommen
verwirrt". Oder, anders gesagt: "Kaum steht der Fick vorm
Bett, gehen die Mädchen von heute vor Schreck auf Facebook."
Lemke sucht in
diesen Filmen etwas Flüchtiges. Er stochert jetzt gerade in seinem
Türkenstraßenfrühstück 'rum, sagt dann: "Film ist, wenn man
etwas ahnt, lange bevor man es weiß. Und man denkt, man zieht das
Geschehen durch seine Vorahnung magisch an." Pause. Grinsen. Die
großen weißen Zähne. Dann: "Das ist es übrigens, was
Heidegger sagen wollte. Er konnte es aber nicht." Eine Vorlesung
von Heidegger hat er besucht in seiner Jugend in Freiburg, und er kam
früh auf den Trichter: "Auf Heidegger kannst du nur betrunken
reagieren."
Zurück zur
flüchtigen Magie: Sicher geht es Lemke auch um die Mädchen, und
doch hat er vor allem mit den lieben, aber haltlosen Jungs zu
schaffen, die seine Stelle in seinen Filmen einnehmen. Sie sind
schwerer zu finden als die Mädchen. Gerade hat er wieder einen
entdeckt, der ihn beflügelt: Henning Gronkowski aus Hamburg, 21
Jahre alt. In "Schmutziger Süden" wird man ihn erstmals in
einer Hauptrolle sehen. Wie das, was er sucht, zu ihm kommt, das kann
Klaus Lemke überaus exakt beschreiben.
Er erinnert sich mit
fotografischer Klarheit an den Moment, als er im Herbst 1971 durch
eine Seitenstraße der Hamburger Reeperbahn fuhr und ihm ein
16-jähriger Junge praktisch vor die Motorhaube stolperte. Der Junge
hatte eine seltsame Frisur, Lemke nannte ihn sofort "Prinz
Eisenherz". Vor allem aber hatte er eine Unschuld im Blick und
die Entschlossenheit, sich mit einem Löwenherzen dem Leben zu
stellen. So was hatte Lemke noch nie gesehen: die Macht eines derart
schrägen Lächelns. Er schnappte sich den Knaben, schleppte ihn zu
dessen Mutter, einer einfachen Frau in einer einfachen
Arbeiterwohnung. Eine Viertelstunde später hatte Prinz Eisenherz die
wichtigste Rolle in Lemkes heute legendärem Film "Rocker".
Den hatte er gerade
zu drehen begonnen, mit den "Bloody Devils", einer sehr
realen, sehr garstigen und sehr kriminellen Motorradrockergang aus
Hamburg: "Diese Rocker wollten lieber sterben, als alt zu
werden. Und fast alle aus meinem Film haben das auch bald geschafft."
Was genau er mit diesen Typen anstellen wollte, davon hatte er bei
Drehbeginn noch keine Ahnung. "Rocker" handelte dann ab
sofort aber von Prinz Eisenherz, der versucht, seinem kriminellen
Nichtsnutz von Bruder einerseits nachzueifern und ihn andererseits zu
retten. Eine im Detail fesselnde, in den Dialogen oft komödiantische,
am Ende tief berührende Geschichte. Eine weitere Legende war
geboren: der Rocker-Lemke.
Vor ein paar Tagen
wurde "Rocker", wie jedes Jahr im Juli, vor tausenden Fans
im Sankt-Pauli-Stadion gezeigt. Wie jedes Jahr sprachen die Hamburger
- sogar die, die nur bei offenem Fenster im umliegenden
Schanzenviertel zuhörten - jeden Satz mit. Lemke hat diese Sätze
nicht geschrieben, seine Rocker, seine Zuhälter haben sie vor der
Kamera improvisiert. Alles wird zusammengehalten von Prinz Eisenherz.
"Der ist das eigentliche Herz von Sankt Pauli, und dieses Herz
ist drin in ,Rocker`", sagt Klaus Lemke.
Daneben wird für
ihn alles andere, Mädchen, Geld, Ruhm, Ehrungen, Retrospektiven,
unwichtig. Auch die beinahe gottgleiche Verehrung, die Lemke immer
wieder entgegenschlägt, wenn er in Hamburg als Regisseur von
"Rocker" vorgestellt wird. "Der Film hat keinen
Regisseur", sagt er dann: "Da spricht die Stadt selbst."
Aber er weiß in diesen Momenten, dass seine Vision kein Hirngespinst
ist, dass diese Momente, die er jagt, Menschen glücklich machen und
manchmal sogar Leben verändern können.
Und plötzlich
ergibt alles einen ganz klaren Sinn. Auch die Lemke-Wohnung im
obersten Stock eines Mietshauses in der Amalienstraße, wo er seit
den Siebzigern wohnt. Warmwasser gibt es nicht, zum Duschen geht er
ja täglich ins Fitnessstudio. Einen Fernseher oder Computer besitzt
er nicht, DVDs schaut er auf einem winzigen Gerät, das er in die
Tasche stecken kann. Der Bildschirm ist zehn Zentimeter groß.
Diese Wohnung, deren
Wände vollgespickt sind mit Zetteln für Ideen, Stills und Dialoge,
sie muss exakt so sein, wie auch das zerfetzte Poloshirt exakt so
sein muss. "Die Mädchen und die Jungs, mit denen ich drehe -
die tun das deshalb quasi umsonst, weil ich selbst nichts habe",
sagt Lemke: "Wenn die sehen, da sind plötzlich neue Turnschuhe
und ein neues Poloshirt, dann werden die misstrauisch. Ich kann hier
nicht so tun, als ob ich arm wäre. Ich bin es - weil ich alles Geld,
das ich kriege, sofort in den nächsten Film baller. Das spüren die.
Ein bisschen mehr Luxus, ein größeres Set, ein schicker Apparat:
Und alles wäre vorbei."
Zumindest jede
Chance, das Glück einzufangen. Deswegen lehnt Klaus Lemke
tatsächlich immer wieder gut bezahlte Angebote für "Tatorte"
und anderen systemstabilisierenden Unsinn ab. Deshalb schimpft er mit
Freude über die deutsche Filmförderung: "Alles ist von
Staatsknete zu Tode subventioniert. Und wie Hamlet gelähmt ist durch
sein untergründiges Einverständnis mit seinem Vater, so ist der
deutsche Film gelähmt durch sein untergründiges Einverständnis mit
dem Staat."
Tatsächlich wurde
Lemke so zu dem deutschen Filmemacher, der weiß, dass er nie mehr
die Filmförderung brauchen wird. Und er wurde zu dem deutschen
Filmemacher, der so etwas einfach sagen kann: "Die Filmförderung
dient dazu, dass das Catering aufgehübscht wird. Drei von zwei
Beschäftigten, die an einem Filmset herumstehen, sind überflüssig."
Die Konsequenz: "Die ganze Welt brennt - und wir Deutsche
produzieren derweil Filme wie Grabsteine."
Aber warum macht er
immer weiter? Warum muss nach dem tausendsten Mädchen noch ein
weiteres und nach dem tausendsten Jungen noch ein weiterer erforscht
werden? Ist es nicht, mit siebzig Jahren, auch mal genug?
"Ich wusste,
dass diese Frage kommen würde", sagt Lemke: "Dabei mache
ich doch Filme, um vor genau solchen Fragen geschützt zu sein."
Lange schweigt er unter seiner Kappe. Dann: "Weil man es eben
für eine halbe Stunde wieder besser mit sich selbst aushalten kann,
wenn man einen Film mit Dean Martin gesehen hat. Oder die Macht eines
schrägen Lächelns. Einen Moment, der etwas Unbezahlbares auslöst,
etwas, das man nicht weiter beschreiben kann. Das uns aber am Leben
erhält." Er blickt nicht auf, aber er lächelt. Dann sagt er:
"Im Christentum heißt das Erlösung."
Mehr gibt es nicht
zu verstehen am Ende dieses Tages in Schwabing, bei dem es, wenn man
ehrlich ist, keine Sekunde lang um Schwabing ging. Klaus Lemke tippt
sich an die Mütze und sagt zum Abschied: "Cowboys, das sind
Splitter vom Paradies." Und so verschwindet er im Gewimmel der
Türkenstraße.
Falls es noch ein
paar spannende Philosophen gibt, so sollten sie wissen: Jungs, Lemke
ist einer von euch. Er beweist, dass wir in großen Zeiten leben:
Denn man darf sich tatsächlich für sein Leben entscheiden. Lemke
entschied sich für seines, als er in Acapulco den Wagen zurückließ.
Er stieg bei Monika ein, die heute auch schon wieder Geschichte ist.
Klaus Lemke ist der
freieste Mensch, den man treffen kann. In Schwabing. In München. Wo
auch immer.
Was sagt man dazu?
Bombe.
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