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Prämierte Texte

Takis Würger „Das verlorene Bataillon

Dieser Text wurde als "Beste Reportage" beim Deutschen Reporterpreis 2012 ausgezeichnet.


Es ist der 44. Tag im Krieg von Oberfeldwebel Christian Sommerkorn, und er hofft, dass er an diesem Tag endlich das tun wird, wozu ihn die Bundeswehr ausgebildet hat. Er schiebt ein Magazin in sein Sturmgewehr.

Es ist kurz nach vier Uhr morgens in Afghanistan, Sommerkorn klettert auf seinen Panzer und schaut ins Dahana-i-Ghori, ein Tal, in dem die Bundeswehr 300 Feinde vermutet.

Der Feindlagebericht der Bundeswehr warnt an diesem Morgen vor fünf Selbstmordattentätern im Dahana-i-Ghori. Fünf Selbstmordattentäter auf einer Fläche halb so groß wie Manhattan.

In der vergangenen Nacht hat Sommerkorn mit seiner Frau gechattet. Er schrieb: Schatz, ich bin fünf Tage draußen. Du musst nullkommanull besorgt sein. Nimm Amy abends von mir in den Arm.

Ich liebe dich, schrieb Jessika.

Ich liebe dich, schrieb Christian.

Der Panzer rollt durch den Morgen, nach einer halben Stunde springt Sommerkorn in den Staub. Er versteckt sich zusammen mit drei Kameraden hinter Bäumen, die Soldaten sichern die Flanken eines Minenräumfahrzeugs. Im Wald sitzt auch ein afghanischer Holzfäller, einer der Scharfschützen tauscht mit ihm eine halbe Tafel Ritter-Sport-Nussschokolade gegen eine Wassermelone. Sommerkorn schneidet mit seinem Klappmesser triefende Stücke aus dem Fruchtfleisch. Manchmal fragt sich Sommerkorn, wo der Krieg ist, auf den er sich vorbereitet hat.

Schießen mit Schutzweste, schießen mit Helm, schießen mit Schutzbrille, schießen im Liegen, schießen im Knien, schießen im Stehen, schießen mit der Pistole P8, schießen mit dem Sturmgewehr G36, schießen mit dem Sturmgewehr G3, schießen mit dem Scharfschützengewehr G3 DMR, schießen mit dem Scharfschützengewehr G22, schießen mit dem Scharfschützengewehr G82. Sommerkorn hat geübt für diesen Krieg.

An diesem ersten Tag meiner Recherche fragt Sommerkorn: "Was soll das eigentlich für eine Geschichte werden, die du schreibst?"

Die Recherche für diese Geschichte begann im Frühjahr mit Gesprächen, E-Mails und Telefonaten. Es musste verhandelt werden, ob es möglich sei, als "embedded journalist" über die Bundeswehr zu berichten. "Embedded", eingebettet, bedeutet in diesem Fall, mit einer Kampftruppe in den Krieg zu ziehen. Die Bundeswehr hatte damit kaum Erfahrung, aber sie willigte ein.

Die Reise dauerte drei Wochen, sie wurde begleitet von einem Presseoffizier, der bei den meisten Gesprächen mit den Soldaten zuhörte. Zensur fand nicht statt.

Die Soldaten, von denen diese Geschichte erzählt, wollten, dass Deutschland weiß, in welchem Krieg sie kämpfen. Sie wollen Respekt.

An diesem Morgen sage ich Sommerkorn, dass es nur um eine Frage geht: Was machen deutsche Soldaten eigentlich in Afghanistan?

Sommerkorn wollte darauf keine Antwort geben.

Christian Sommerkorn ist in einem Dorf in der Nähe von Freiburg aufgewachsen, er ist 30 Jahre alt. Er hätte nichts dagegen, seinen wahren Namen gedruckt zu lesen, aber die Bundeswehr bittet darum, die Namen von Soldaten im Einsatz nicht zu nennen. Alle Namen der deutschen Soldaten in dieser Reportage sind geändert.

Sommerkorn hat den Realschulabschluss gemacht und Zimmermann gelernt. Dann kam sein Musterungsbescheid. Er hatte wenig Lust, alte Leute zu pflegen, also ging er mit 20 Jahren zur Bundeswehr. Er teilte sich die Stube mit fünf Männern, die nach Schweiß rochen. Er lernte schießen, es gefiel ihm. Sommerkorn verpflichtete sich für zwölf Jahre. Er wurde Scharfschütze in Donaueschingen am Rande des Schwarzwalds, bei einer Truppe, die sich "Jäger" nennt.

Als Sommerkorn erfuhr, dass sein Bataillon nach Afghanistan gehen würde, war seine Frau Jessika im vierten Monat schwanger. Sie sagte damals, da kommst du doch irgendwie drum rum. Sommerkorn sagte: "Da habe ich mich mein ganzes Berufsleben lang drauf vorbereitet."

Sein Großvater sagte ihm, bleib hier. Als Sommerkorn sagte, er müsse, sagte der Großvater, ich wünschte, ich könnte für dich gehen.

Der Einsatz führte Sommerkorn in die Provinz Baghlan, die eine Stunde Helikopterflug östlich von Masar-i-Scharif liegt. Das Land ist grün dort, bis an die Hänge des Hindukusch. In den Tälern wachsen Pistazien und Granatäpfel, es könnte ein Paradies sein, wenn die Menschen nicht wären. Die Menschen in Baghlan töten. Sie töten sich gegenseitig, sie werden von den Deutschen getötet, und sie töten die Deutschen. Von den 13 Bundeswehrsoldaten, die in den vergangenen eineinhalb Jahren in Afghanistan gestorben sind, starben 10 in Baghlan.

Sommerkorn hat in diesem Krieg bisher kein einziges Projektil abgefeuert. Geschossen hat er in Afghanistan nur auf der Schießbahn. "Das ist, als wenn du einen Hund scharfmachst und den nicht von der Leine lässt", sagt Sommerkorn.

Der Feind verbirgt seine Waffen in Kochtöpfen, in Bäumen, in Palmölkanistern. Der Sprengstoff besteht aus Pflanzendünger auf Harnstoffbasis, Autolack und Diesel. Taliban, die keinen Dünger besaßen, sollen schon Eselurin eingekocht haben, bis die Harnstoffkonzentration hoch genug war für eine Bombe.

IEDs, "improvised explosive devices", unkonventionelle Sprengvorrichtungen, so heißen die gebastelten Bomben in der Sprache des Militärs. Sie lassen sich nicht erschießen. Ein Soldat kann sie nur finden, bevor die IED ihn findet. "Bein ab wäre schon scheiße", sagt Sommerkorn.

Er versucht, sich auf seinen Auftrag zu konzentrieren und nicht darauf, ob es dieser Einsatz wert sei, ein Bein zu verlieren oder das Leben. Er spricht ungern über "große Politik", wie er es nennt. Er sagt, er wisse zu wenig über die großen Zusammenhänge dieses Krieges, um darüber zu sprechen, aber er weiß, was eine Bombe aus Dünger anrichten kann, und er weiß, wie es ist, in einem Land zu leben, das vergessen hat, wie sich Frieden anfühlt.

Sommerkorn und 33 andere Soldaten gehen durch Reisfelder. Sie bilden zusammen eine Kampftruppe mit dem Namen "Echozug, 3. Kompanie, Ausbildungsschutzbataillon MES". Sommerkorn marschiert vorbei an weißen Orchideen und einer Hütte, vor der rund geformte Kuhfladen trocknen. Neben den Fladen hocken afghanische Männer. Sommerkorn sagt "Salam alaikum". Die Afghanen schweigen. Ihre Augen wirken feindselig, aber vielleicht sind sie nur ungewohnt schwarz.

Sommerkorn marschiert zu einem Hügel, der umringt ist von Stacheldraht und einer Mauer aus schottergefüllten Drahtkörben. Dahinter steht Sommerkorns Panzer, sein Fahrer hat ihn am Morgen hierhingefahren. In den kommenden vier Nächten wird Sommerkorn hinter seinem Panzer schlafen, am Fuß dieses Berges, unter einem Dach aus Wellblech. Auf dem Hügel leben ein Dutzend amerikanische Special Forces, Männer mit Baseballcaps und Vollbärten, die keine Namen auf ihrer Uniform tragen und häufig "fuck" sagen. Sie haben den Hügel "Combat Outpost Russian Hill" genannt, weil sie Menschenknochen gefunden haben und glauben, dass in der Erde ein Massengrab der Sowjets liege.

Die Deutschen erzählen sich, dass die Special Forces nachts den Russian Hill runterklettern, um Taliban zu jagen. So hatte sich Sommerkorn das auch mal vorgestellt, als er hier ankam.

Er kriecht unter ein Moskitonetz und legt sich auf sein Feldbett, an den Spitzen seiner Zehen wölben sich Blasen. Sommerkorn schaut sich das Lager an, die Mauer, über die jederzeit ein Afghane eine Handgranate werfen könnte. Zwischen den Panzern spannen sich Schnüre, auf denen die Soldaten ihre durchgeschwitzten Hemden trocknen, 34 Feldbetten bilden eine Reihe, darauf und davor liegen halbnackte Soldaten. Sie essen die Haferkekse aus ihren Verpflegungspaketen, sie lesen Bücher mit Titeln wie "Im Auge des Jägers", sie essen die Schokolade aus ihren Verpflegungspaketen, sie schreiben Briefe, sie essen die Müsliriegel aus ihren Verpflegungspaketen.

Nach ein paar Stunden liegen die meisten stumpf auf ihrem Feldbett und warten darauf, dass irgendetwas passiert.

Sommerkorn erlebt seinen Einsatz in einer Zeitrechnung, in der Montag oder Dienstag nichts bedeuten, Tag oder Nacht auch nicht. Er gibt seinem Tag Struktur mit ein, zwei oder drei Operationen und dem Warten darauf.

Am Nachmittag steigt er zusammen mit drei weiteren Scharfschützen wieder auf seinen Panzer und fährt zu einer afghanischen Polizeistation. Die Station besteht aus einer Hütte aus Lehm und einem Wall. Sommerkorn soll von diesem Wall aus eine Bergkette beobachten.

Vier afghanische Polizisten mit geröteten Augen und Kalaschnikows laufen über den Wall und starren Sommerkorn an. Seine Augen wirken feindselig, aber vielleicht sind sie nur ungewohnt blau.

"Vertraust du denen?", fragt einer der Scharfschützen.

"Nein", sagt Sommerkorn.

Drei der deutschen Soldaten richten ihr Gewehr auf die Bergkette, ein vierter beobachtet die Afghanen. So, dass sie es nicht merken, aber auch so, dass er alle von ihnen erschießen könnte.

"Als Scharfschütze ist dein Job eigentlich das Töten", sagt ein Soldat, der neben Sommerkorn liegt, "da will man natürlich wissen, wie das ist. Es gibt drei Möglichkeiten: Erstens, es ist nicht so dein Ding. Zweitens, es ist nicht schön, aber okay. Drittens, es ist eigentlich ganz gut."

Sommerkorn kann 72 Stunden marschieren und danach so schießen, dass das Projektil aus 1000 Metern einen Menschen trifft. Einen Menschen aus Pappe. Wie das mit einem Menschen aus Fleisch wäre, weiß Sommerkorn nicht. Keiner der Scharfschützen im Echozug hat jemals auf einen Menschen geschossen.

Ein Afghane mit hennaroten Haaren klettert auf den Wall. Sommerkorn weiß nicht, ob der Mann ein Polizist ist und wo er steht in diesem Krieg. Der Mann führt einen der afghanischen Polizisten zu den Soldaten, greift seine Hand und sagt: "Afghan soldiers very hard." Die Daumenkuppe des Polizisten ist halb abgeschnitten. Sommerkorn funkt einen Sanitäter an.

"Water?", fragt der Rothaarige.

"No, thanks", sagt Sommerkorn.

"You have water?"

"Äh, yes", sagt Sommerkorn und nimmt vier Flaschen aus einem Rucksack.

Einer der Polizisten zündet einen Joint an und reicht ihn den Deutschen. Sommerkorn schüttelt den Kopf und betrachtet die Afghanen, die rauchen, Wasser trinken und ihn anlächeln.

"Da hinten in den Bergen liegt das größte Schmutzdorf in dieser ganzen verkackten Provinz", sagt Sommerkorn, "da würde ich gern mal einen wegmachen."

Sommerkorn verarztet die Wunden der Afghanen, er gibt den Durstigen Wasser. Er zeigt, wie die Strategie der Generäle funktioniert, "Winning Hearts and Minds", "Herzen und Köpfe gewinnen", aber Sommerkorn will etwas anderes.

Die Taliban wollen einen Gottesstaat. Die afghanischen Polizisten wollen mit Sommerkorn einen Joint rauchen. Sommerkorn will Taliban wegmachen.

Am nächsten Morgen haben sich die Blasen an seinen Füßen mit Flüssigkeit gefüllt. Sommerkorn trägt Turnschuhe.

Die Befehle gibt ein Oberleutnant mit dem Brustkorb eines Gewichthebers, der sagt, er sei Soldat geworden, weil er seinem Land dienen wolle. Als er nach Afghanistan flog, postete er auf seiner Facebook-Seite: "Es lebe Deutschland!"

Nun schaut der Oberleutnant auf Sommerkorns Turnschuhe und sagt: "Echo 3 bleibt heute auf dem Russian Hill." Echo 3 ist die Gruppe der Scharfschützen.

"Wegen den Turnschuhen, oder was?", fragt Sommerkorn.

"Ja", sagt der Oberleutnant. Sommerkorn geht zu seinem Feldbett, als er zurückkommt, trägt er Stiefel und humpelt.

Die Patrouille marschiert in ein Dorf, und der Oberleutnant schüttelt die Hand eines Mannes, der einen Kugelschreiber in der Hemdtasche trägt, was vermuten lässt, dass er schreiben kann, das wäre etwas Besonderes in diesem Tal. Der Mann heißt Nu Rahman, der Oberleutnant nennt ihn Bezirksbürgermeister.

Nu Rahman führt den Oberleutnant in sein Haus und serviert ihm Tee und Vollkornfladenbrot. Als der Oberleutnant wieder aus dem Haus tritt, sagt er, Doktor Nu Rahman habe darum gebeten, dass die Soldaten ihm ein paar Flaschen deutsches Bier vorbeibringen, weil er ein Nierenleiden habe, das durch deutsches Bier kuriert werden könne. Und er habe gesagt, bei den Amerikanern wisse jeder, warum sie in Afghanistan einmarschiert seien, bei den Deutschen sei das anders.

Der Oberleutnant lächelt, als wäre das eine gute Nachricht. Die Soldaten wandern weiter. Zurück bleiben ein winkender Nu Rahman und seine Frage: Was will die Bundeswehr in Afghanistan?

Oberfeldwebel Sommerkorn humpelt nicht, als er an seinem Oberleutnant vorbei durch das Eisentor am Russian Hill läuft. Bei jedem Schritt presst er die Kieferknochen aufeinander.

Er sinkt auf sein Feldbett. Die Privatsphäre im Russian Hill spannt sich für jeden Soldaten über 190 mal 65 Zentimeter und besteht aus reißfestem Polyamid. Sommerkorn schaltet sein iPhone an und checkt, ob Jessika ihm gemailt hat.

Nachts schläft Sommerkorn auf einem Kissen, das seine Frau ihm geschenkt hat. Darauf ist ein Foto gedruckt, es zeigt Christian, Jessika und Amy.

Sommerkorn sagt, er habe seine Familie noch nie so intensiv geliebt wie hier, 5000 Kilometer von zu Hause entfernt.

Der Krieg lässt die Soldaten Gefühle erleben, die stärker sind als vieles, was sie kannten. Wut, Hass, Angst, an schlechten Tagen. An guten Tagen Mut, Hoffnung, Liebe. Der Krieg verstärkt auch die Gefühle an den Tagen dazwischen, Tage, die nicht gut sind und nicht schlecht, sondern nur leer.

Diese Tage erlebt Sommerkorn im Observation Post North, dem Basislager der Bundeswehr in der Provinz Baghlan. Der Observation Post North liegt auf einem Berg, den 700 Soldaten und eine Milliarde Mücken bewohnen. Die Soldaten leben dort in Zelten, die sie in den Staub gebaut haben. Der Staub kriecht in die Waffen und scheuert zwischen den Beinen.

Es ist ein Donnerstag, Lariam-Tag.

Lariam ist ein Medikament, das vor Malaria schützt. Die Soldaten sollen es einmal in der Woche schlucken. Lariam steht im Verdacht, bei manchen Menschen zu Psychosen zu führen. Einige Soldaten schmeißen die Pillen in den Müll, andere schlucken alle auf einmal.

Sommerkorn hockt vor einem Gasbrenner und erhitzt "Typ II Fertiggericht 2: Indische Reispfanne 300 g". Die Männer haben diskutiert, ob es möglich sei, am eigenen Ellenbogen zu lecken, und ob in München ein einarmiger Koch Buletten in seiner Achselhöhle forme. Nun reden sie über Angst.

"Ich habe Angst, dass meine Tochter vergisst, wer ich bin", sagt Sommerkorn.

"Hättest du Angst, ein Ziegenei zu essen?", fragt ein Stabsgefreiter in Surfershorts.

"Ich habe Angst, dass meine Frau und ich nicht wieder zusammenfinden, wenn ich zurück bin", sagt ein Panzerfahrer.

"Für wie viel Geld würdest du ein Ziegenei essen?", fragt der Stabsgefreite.

"Ich habe keine Angst", sagt Sommerkorn, "was ich habe, sind einige ganz besondere Fähigkeiten. Fähigkeiten, die ich mir im Laufe vieler Jahre angeeignet habe. Fähigkeiten, die mich zum Alptraum machen für Typen wie Sie." Es ist ein Zitat aus dem Film "96 Hours". In dem Film tötet ein Vater viele Menschen, und am Ende umarmt er seine Tochter.

"96 Hours", "Apocalypse Now", "Black Hawk Down", manche Soldaten fahren nach Afghanistan mit Bildern in ihrem Kopf, die sie aus Filmen kennen. Auch deshalb wollen sie kämpfen, sie wollen Hauptdarsteller sein, Helden.

"Ich lasse mich lieber hier unten ansprengen, als dass die bei uns zu Hause in die Hochhäuser fliegen", sagt der Stabsgefreite in Surfershorts. Sommerkorn denkt für einen Moment darüber nach, dann sagt er. "In welche Hochhäuser sind die denn bei uns geflogen?"

Der Stabsgefreite schweigt, er nimmt eine Packung Kaugummis vom Tisch und schiebt sich alle Kaugummis in den Mund. Er kaut ein wenig, dann spuckt er einen Klops Kaumasse auf den Tisch.

"Gib's halt mir", sagt ein Oberfeldwebel mit kurzen schwarzen Haaren. Der Oberfeldwebel heißt Julia Resch, sie ist 28, sie ist die einzige Frau in Sommerkorns Zug. Der Stabsgefreite nimmt den Klops und wirft ihn durch die Luft, Resch steckt sich die Masse in den Mund.

Das Kaugummi ist Teil von Reschs Strategie. Sie sagt, wenn sie will, dass die Männer sie akzeptieren, müsse sie das Weibliche ablegen. Ekel vor Essen, das andere im Mund hatten, ist weiblich.

Auf ihren Rücken hat Resch chinesische Zeichen stechen lassen, die übersetzt bedeuten: "Der Weg ist das Ziel." Aber das Ziel von Julia Resch ist es, am Ende des Weges anzukommen und so schnell gewesen zu sein wie die Männer.

Resch hat sich diesen Weg nicht ausgesucht. Die 34 Soldaten aus Sommerkorns Zug kämpfen nicht freiwillig in Afghanistan, sie wurden dazu eingeteilt. Nun versucht jeder von ihnen, den sechs Monaten Einsatz einen Sinn zu geben. Manche sparen die täglichen 110 Euro Auslandszulage für eine neue Küche, Sommerkorn will wissen, ob er töten kann, Julia Resch will beweisen, dass eine Frau genauso gut kämpfen kann wie ein Mann.

Zieht eigentlich irgendjemand in diesen Krieg wegen des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus?

Am Abend, bevor Sommerkorn wieder auf den Russian Hill fährt, bekommt er ein Paket von seiner Mutter.

2 Gläser Nutella, 2 Gläser selbstgekochte Erdbeer-Rhabarber-Marmelade, 1 Büchse grobe Leberwurst, 1 Stück Speck, 1 Büchse Mandarinen, 1 Tube Senf, 1 Blutwurst, 2 Ritter Sport, 1 Brief. Es ist ein Karton gefüllt mit Deutschland. Sommerkorn schreibt seiner Mutter in einer E-Mail: Danke für das tolle Paket. Du weißt doch, dass ich keine Blutwurst esse.

Drei Tage später auf dem Russian Hill geht ein Mann zur Befehlsausgabe, dessen Körper unter besonderer Spannung zu stehen scheint, wie eine Gerte, die man biegt. Der Mann ist frisch rasiert.

Sommerkorn schlurft über den Kies. Als er den rasierten Soldaten sieht, macht er sich gerade. "Guten Tag, Herr Oberstleutnant", sagt Sommerkorn.

Oberstleutnant Peter Stranow ist der Kommandeur im OP North, ein 43 Jahre alter Mann mit Brille. Die Männer mögen ihn, weil er hart und gerecht führt und manchmal den Mannschaftssoldaten zum Geburtstag gratuliert. Stranow hat außerdem den Ruf, schneller rennen zu können als jeder seiner Infanteristen. Sein Codename auf dem Funk ist Greyhound.

Stranow nimmt ein paar tiefe Atemzüge und sagt dann: "Ist schon ganz eigen und schön hier."

"Schön" ist ein seltenes Wort in einem Kriegsgebiet. Stranow scheint im Dahana-i-Ghori auch das sehen zu können, was es einmal war und irgendwann wieder sein könnte. Ein Urlaubsziel bei Afghanen und Hippies, bekannt für die Sonnenblumen, das Gras und einen Sternenhimmel, an dem die Milchstraße hell strahlt.

Die Patrouille marschiert wieder zum Haus von Nu Rahman, vor dem Grundstück sinkt Stranow auf ein Knie. Der Oberleutnant will noch mal mit Nu Rahman reden. Nach einiger Zeit marschiert Julia Resch um die Ecke und sagt: "Alles läuft gut, der Oberleutnant ist glücklich mit dem Gespräch."

"Und der Doktor?", fragt Stranow. "Ist der Doktor auch glücklich?"

Die Frage, ob die Afghanen glücklich sind über den Besuch der Bundeswehr, scheint Resch nicht erwartet zu haben.

"Ich bringe das in Erfahrung, Herr Oberstleutnant", sagt sie und rennt.

Stranow denkt darüber nach, ob die Afghanen glücklicher werden durch die Arbeit seiner Männer. Die Bundeswehr hat in Baghlan den Auftrag, zwei Straßen zu sichern. Die Straßen kommen aus Kunduz und Masar-i-Scharif, vereinigen sich im Tal und führen weiter nach Kabul. Es sind wichtige Straßen. Stranow glaubt, dass hier einige Menschen leben, die die deutschen Soldaten gern aus dem Tal sprengen würden. Aber die Mehrheit der Menschen wolle sicher fahren, und deshalb mögen sie die Bundeswehr, zumindest hofft Stranow das.

In deutschen Talk-Runden klingt es cool, wenn man sagt, nichts ist gut in Afghanistan. Aber im Tal Dahana-i-Ghori sorgen Stranow und seine Männer dafür, dass Väter ihre Töchter zur Schule fahren können, ohne auf dem Weg zu sterben.

Stranow weiß, dass viele seiner Männer sich den Kampf wünschen. "Wir könnten den ganzen Raum frei von Taliban machen, aber dann haben wir vielleicht 20 tote deutsche Soldaten", sagt er.

Bei einem Verabschiedungsappell in Donaueschingen hat Stranow den Angehörigen seiner Soldaten gesagt, dass er alles tun werde, damit ihre Söhne, Männer, Brüder und Väter heil nach Hause kämen. Stranow hat drei Kinder. Sein jüngster Sohn ist vier Monate alt.

Stranow glaubt, wer diesen Krieg gewinnen wolle, müsse die Menschen gewinnen. Und mit Gewehrkugeln verliert man Menschen, auf beiden Seiten. Im Zweiten Weltkrieg galt für Scharfschützen der Leitsatz: Töte einen, ängstige Tausende. Heute im Krieg in Afghanistan sagt Oberstleutnant Stranow: "Es kann sein, dass wir einen Talib töten und dadurch 50 neue gebären."

Aus einer Tür neben Stranow tritt ein afghanischer Mann. "Salam alaikum", sagt Stranow. Friede sei mit dir.

"Tschetur hasti", sagt Stranow. Das ist Dari und heißt, wie geht's?

"Choda Hafes", sagt Stranow. Möge Gott dich schützen.

Der afghanische Mann bleibt stumm.

Manchmal ist es schwer, die Afghanen zu gewinnen, auch wenn man ihre Sprache lernt und ihre Straßen sichert.

Nach der Patrouille hält Stranow eine kurze Rede, sie handelt von Tapferkeit und sicheren Straßen. Am Ende sagt Stranow: "Es bricht sich keiner was ab, wenn er mal den Kindern winkt." Er schaut in die Runde und sagt: "Weitermachen."

Sommerkorn setzt sich mit den anderen Scharfschützen um einen Gasbrenner. In der Nacht soll er auf einen Hügel klettern und einen Pass beobachten, über den die Taliban ins Tal schleichen.

"Wir brauchen endlich einen TIC", sagt ein Mann mit Vollbart und Glatze. TIC steht für "troops in contact" und bedeutet Gefecht. Der Mann heißt Andy, er ist Sommerkorns Partner. Auf Andys linkem Arm steht in japanischen Schriftzeichen "Stärke" und "Stolz", auf seinem rechten steht "Ehre" und "Mut". Auf seinen Hals trägt er ein Tattoo, das das Eiserne Kreuz zeigt.

"Da ist ja irgendwo auch ein Druck, den ein Soldat hat, da hat man so lange drauf hingearbeitet", sagt Sommerkorn.

Einer der Scharfschützen sagt: "Wenn du genau siehst, wie du jemanden kaltmachst, wachst du in zwei Jahren auf und siehst die Fresse von dem Typen vor dir."

"Wenn ich den Auftrag bekommen würde, eine Zielperson auszuschalten, ist das für mich kein Mensch, sondern das ist ein Auftrag", sagt Sommerkorn.

Sommerkorn hält eine indische Reispfanne in der Hand und stochert mit seinem Plastiklöffel in den gelben Körnern.

"Aber ich glaube, dass das Töten einen Menschen verändert", sagt Sommerkorn, er überlegt, dann sagt er: "Natürlich will niemand irgendjemanden töten."

Man müsse das aus soldatischer Sicht sehen und aus menschlicher, sagt Andy. Auf seinem Handy hat Andy einen Satz gespeichert, der aus den inoffiziellen Zehn Geboten der Scharfschützen stammt. Das erste Gebot lautet: "Kämpfe fanatisch! Du bist ein Menschenjäger!"

Andy und Sommerkorn versuchen, ihren Krieg aus soldatischer Sicht zu sehen. Wenn Taliban auf sie schießen, werden sie zurückschießen. Sie müssen dabei nicht nachdenken. Anders wäre es, eine Zielperson über Stunden beobachten zu müssen und dann der Person ein .300-Winchester-Magnum-Projektil in die Stirn zu schießen. Der Schütze hätte Zeit zum Nachdenken. Er hätte die Wahl.

"Für mich ist das leichter", sagt der Bordschütze des Panzers, "für mich sieht das über den Bildschirm aus wie ein Computerspiel, zu Hause spiele ich ja auch Computer."

Die Soldaten sitzen auf ihren Betten und lauschen dem Zischen des Gaskochers. Auf der anderen Seite des Stacheldrahts hört man Kinderstimmen.

Fünf Stunden später ist die Nacht mondlos, die Panzer fahren ohne Licht. Sommerkorn und Andy springen bei laufendem Motor aus der Luke und verschwinden in der Dunkelheit. Man hört nur ihre Gummisohlen im Sand. Der Berg ist steil und kahl, oben ducken sich Andy und Sommerkorn in eine Kuhle. Der Berg ist ein afghanischer Friedhof, ein Grabhügel. Andy und Sommerkorn wissen nicht, worin sie liegen. Es kann eine gewöhnliche Kuhle sein oder ein Grab.

Andy schaut durch das Zielfernrohr des G22, Sommerkorn liegt daneben mit einem Nachtsichtgerät. Häufig ist der erfahrenere Scharfschütze der Beobachter. "Der Schütze schießt, der Beobachter trifft", das ist ein Satz, den die Scharfschützen gern zitieren. Sommerkorn beschreibt Schießen wie die Arbeit eines Feinmechanikers. Wer dieses Handwerk lernen will, brauche Geduld und eine gute Auffassungsgabe.

Vor einem Schuss atmet Sommerkorn dreimal tief, er berührt den Abzug mit dem ersten Fingerglied des Zeigefingers, sucht den Druckpunkt, atmet ein Drittel der Luft aus und summt leise, damit der Beobachter neben ihm weiß, was kommt.

Trifft das Projektil einen Menschen, dringt es in den Körper ein und formt ein kleines Loch. Im Körper überschlägt sich das Projektil und reißt Knochen und Gewebe mit. Sommerkorn sagt, die Austrittsstelle könne so groß sein wie ein Spiegelei. Sommerkorn hat mit dem G22 mal auf ein Reh geschossen, nach dem Treffer sah es zur Hälfte aus wie Ragout, sagt er.

Beim Abschuss fliegt das Projektil mit einer Geschwindigkeit von 910 Metern pro Sekunde, fast dreimal so schnell wie der Schall. Ein Mensch, der ins Fadenkreuz eines G22 gerät, ist tot, bevor er den Schuss hören kann.

Sommerkorn sagt, Schmauch sei schon ein geiler Geruch. Ein schönes Gefühl sei das, mal ein Gerät in der Hand zu halten, von dem man die Wirkung sieht.

Sommerkorn kennt die Wirkung, aber er sucht einen Sinn. Jeder Mensch braucht einen Sinn, und je schwerer die Aufgabe wird, umso genauer muss der Mensch diesen Sinn kennen. Amerikanische Soldaten haben ihre Flagge. Christian Sommerkorn hat nur sein Handwerk und seinen Auftrag. Er arbeitet als Scharfschütze mit demselben Anspruch, den er hatte, als er noch Zimmermann war. Die Bundeswehr hat ihn ausgebildet zu töten, und nun wartet Sommerkorn aufs Töten. Aber der Auftrag allein gibt diesem Töten keinen Sinn. Auf die Frage, warum er auf einen Menschen schießen will, findet Sommerkorn nur die Antwort, dass er tun will, was er gelernt hat. Und eigentlich will er ja nicht auf Menschen schießen. Sommerkorn weiß, dass er in einem Widerspruch lebt. Man kann es nicht erklären. Es ist absurd. Es ist Krieg.

Sommerkorn und Andy beobachten seit zwei Stunden, bisher haben sie keinen Menschen gesehen, nur eine Ratte.

Es gibt einsame Momente in Afghanistan. Sommerkorn denkt in solchen Momenten manchmal an Jessika und Amy und an seine zehnjährige Tochter Felina, die bei seiner Jugendliebe lebt.

Am 28. Juli dieses Jahres saßen Jessika, Amy und Christian im Auto auf dem Parkplatz der Kaserne in Donaueschingen. Christian wollte es kurz machen, so erzählt er. Er küsste seine Frau, beugte sich über seine Tochter, die im Kindersitz saß, und sagte, dass er fort müsse und dass er sie liebe. Amy schaute ihren Vater an, streckte ihre Arme aus und lachte.

Sommerkorn fragt sich, wie das wohl wäre für seine Mädchen, wenn sie in der Schule sagen müssten, mein Vater ist in Afghanistan gestorben.

Seit Stunden liegen Sommerkorn und Andy auf dem Grabhügel, sie haben geschwiegen, nun sagt Sommerkorn: "Ich glaube, die Deutschen wissen nichts von der Belastung, die wir tragen."

Vor seinem Einsatz haben Fremde Sommerkorn hinterhergeschrien: Soldaten sind Mörder. Der Kommandant seines Panzers wurde angespuckt, erzählt er, als er im Feldanzug nach Tübingen fuhr, um seine Mutter von der Arbeit abzuholen.

Viele Deutsche machen die Soldaten verantwortlich für diesen Krieg, den sie für falsch halten. Ihnen ist egal, ob die Soldaten den Krieg auch nicht wollen.

Auf dem Hügel sagt Andy: "Was ist ein Esel mit einer roten Taschenlampe auf dem Kopf?" Sommerkorn schweigt. Andy sagt: "Der afghanische Knight Rider."

Die Soldaten, die vor Sommerkorn in Baghlan dienten, kämpften mit ähnlichen Problemen wie er. Am Ende ihres Einsatzes, so erzählen Sommerkorns Kameraden, schossen die Soldaten in die Luft. Sie nannten sich "The Lost Battalion".

Diese Männer sind daheim, aber ihr Name verfolgt die Soldaten in Baghlan wie ein Fluch. Sommerkorn dient im verlorenen Bataillon.

Als er drei Tage später in den Observation Post North fährt, ist noch immer kein Schuss gefallen, es ist der 62. Tag in Sommerkorns Krieg, aber die Männer haben gute Laune, weil sie Fladenbrot beim Afghanen gekauft haben. Sie wollen Zwiebeln anbraten und mit einem Beamer den Film "Der letzte Lude" gucken.

Sommerkorn stürzt aus seinem Zelt, seine Augen sind aufgerissen. "Habt ihr das gehört?", ruft er, er brüllt fast. "Ich habe gerade über Funk was von drei RPGs gehört." RPGs sind Granaten.

Das Funkgerät krächzt. Aufständische haben im Norden von Baghlan auf eine Patrouille gefeuert. Sommerkorn nickt, als über Funk die Nachricht kommt, dass die U. S. Air Force zwei F-16-Jets schickt. Nach einer Stunde beruhigt sich die Lage, die Kampfjets drehen ab, die Soldaten gehen duschen. Nur Sommerkorn hockt noch vor einer Karte Baghlans und glei-tet mit seinen Fingern wie ein Feldherr über das Tal, in dem er bis Februar dienen wird.

Die Bundeswehr hat Sommerkorn den Tag nicht genannt, an dem er zurückfliegen wird, aber er denkt schon an das erste Essen mit Jessika bei McDonalds's und an einen Caesar Salad mit Hähnchenbrust.

Und er denkt an den Tag, an dem er im kommenden Sommer seine Uniform ausziehen wird, wenn seine zwölf Jahre als Zeitsoldat vorbei sind und Sommerkorn sein Abitur nachmachen wird. Danach würde er gern in der Justiz arbeiten oder im Bundesamt für Güterverkehr. Eine Laufbahn als Beamter wäre schön, sagt Sommerkorn, wegen der Sicherheit.

In der vergangenen Nacht auf dem Grabhügel hat Sommerkorn ein wenig in die Sterne gesehen und darüber nachgedacht, dass Jessika, Felina und Amy daheim in denselben Himmel schauen. Nur Sommerkorn weiß, was er in diesem Moment gedacht hat über diesen Krieg.

Vielleicht könnte Oberfeldwebel Christian Sommerkorn am Ende durch das Warten auf den Schuss mehr erfahren über sich und den Krieg als durch den Schuss selbst. Eine Erkenntnis, die wenig gemein hat mit dem Bild von Krieg, das er aus Filmen kannte. In der Nacht auf dem Hügel sagte Sommerkorn, leise, so dass der Feind nichts hört: "Für mich ist das Wichtigste, dass ich nach Hause gehe und noch der gleiche Mann bin."

Auch Oberstleutnant Stranow schaut an diesem Abend auf die Karte Baghlans, er geht davor auf und ab in seinem Konferenzzimmer und plant, wie er auf den Angriff reagieren wird. Am kommenden Morgen werden Truppen der Afghanen zusammen mit der Bundeswehr ausrücken und nach Minen suchen. "Wir müssen ein Zeichen setzen", sagt Stranow, er sitzt in einem großen Sessel, die Spannung ist aus seinem Körper gewichen.

Morgen früh vor fünf Uhr wird Oberstleutnant Peter Stranow aufstehen und wieder die Uniform anziehen mit der schwarz-rot-goldenen Fahne auf den Schultern. Er wird auch seine Tarnhose überstreifen und wie jeden Morgen eine Postkarte in die Beintasche stecken. Die Karte hat Stranow per Feldpost von seiner Tochter Lina bekommen. Stranow trägt diese Karte immer bei sich, sie erinnert ihn an daheim, daran, dass in einem Haus in Süddeutschland eine Frau und drei Kinder darauf warten, dass er zurückkehrt aus diesem Krieg.

Auf der Postkarte steht nur ein Satz, geschrieben in der Schrift eines siebenjährigen Mädchens: "Lieber Papa, ich habe mich heute gefragt, warum du Soldat geworden bist. Bitte antworte."

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Takis Würger


Takis Würger, geboren 1985 in Hohenhameln. Volontariat bei der Abendzeitung in München. Studium der Entomologie in Wien und Boca Raton. Besuch der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seitdem Redakteur beim Spiegel.
Dokumente
Das verlorene Bataillon (PDF)

erschienen in:
Der Spiegel,
am 31.10.2011
Beste Reportage

Laudatio: Friedrichs Küppersbusch



Sie haben gerade die lange Liste der nominierten Kolleginnen und Kollegen gesehen. Wenn hier eine Problemjury war, dann trete ich dafür an, die andere Jury nicht zu verharmlosen. Das war über Strecken schon so was wie die Jahreshauptversammlung der erbitterten Modelleisenbahngegner und führte zu der einen oder anderen moralisch-ethischen oder einfach berufsständisch sehr aufschlussreichen Debatte.

Also, die beste Reportage: Was darf die alles, was darf die alles nicht? Darf so eine Reportage das Herz brechen, weil sie eine unglaublich anrührende Geschichte erzählt? Und darf uns dann an der Jurysitzung diese Reportage noch mal das Herz brechen, weil wir feststellen: nach strengen formalen Kriterien können wir das Stück gar nicht auszeichnen, weil es brillant ist, aber weil sie postum erzählt ist? Darf eine Reportage so unterhaltsam sein, so super unterhaltsam, dass sie uns praktisch weg weht, dass wir in den Seilen hängen, dass wir lachen und dass wir vergessen, akademische Fragen zu stellen? Ohne Revolution, Änderung der Gesellschaft. Ich kann in vielen dieser Fragen keine Antwort mitbringen, nur dass es großen Spaß gemacht hat, die zu diskutieren, und dass ich sehr wertschätze, zu wissen, wie viele Gedanken sich sie, Kolleginnen und Kollegen, Printredaktionen, erlauben, darüber zu machen.

Das heißt nicht, dass wir uns in Fernsehredaktionen keine nicht auch machen. Sie müssen alle mal zu uns kommen und gucken: wir diskutieren auch schon mal. Hier jedenfalls wurde toll diskutiert. In einem Punkt kann ich Antwort geben, es wurde lange diskutiert: Darf die Reportage das Wort «ich» enthalten? Die einen sagten: Nimm dich nicht so wichtig, es ist doch ganz klar, dass man nicht «ich» sagt und sich nicht wichtig macht. Die anderen sagten, nein, dadurch entsteht doch gerade Authentizität. Man muss irgendwo «ich» sagen, das ist besser, als mit irgendwelchen Floskeln daran vorbei zu konstruieren, dass du als Reporter tatsächlich irgendwo gewesen bist. Die Jury hat nun entschieden: ja, beides.

Es gab auch eine Reportage, wo man gesagt hat, der schildert so gut, dass es kein Schwarz, kein Weiß, keine Bösen, keine Guten gibt. Alle sind ein bisschen gut und ein bisschen böse, dass es einem wieder das Herz bricht zu sagen, dadurch ist dieser Text so differenziert, dass man ihm nicht zujubeln kann, weil man selber in eine differenzierte Position zur behandelten Materie gerät. Das fand ich großartig.

Das waren ein paar Stichworte zu den 19 zweiten Plätzen, die wir sozusagen vergeben haben. Aber wir haben natürlich auch einen Ersten vergeben. Einen. Und das war ein Text, der fast alle diese Debattenpunkte weg wischte. Es fing gleich damit an, dass er sich im siebten Absatz, relativ weit vorne, outete und sagte, unter welchen Bedingungen er zustande gekommen ist. Es war ein Satz von dem Jurymitglieder sagten: «Ich finde den eigentlich toll, weil er belegt und zeigt, warum ich die eine Meinung habe» und jemand anders sagte: «Ich habe genau die entgegengesetzte Meinung und ich finde den Text genauso tauglich, das auch zu zeigen.» Bis hierhin geht jetzt der Teil, wo Sie immer noch nicht wissen, liebe Nominierte, welche es jetzt ist.

Der Text war relevant, er greift ein in eine politische Debatte. Er gibt mir persönlich eine Wegweisung darüber, wie diese politische Debatte zu beurteilen ist, er hilft mir. Er bringt mir Menschen nahe, die ich nicht kenne, über die ich viele Vorurteile habe, so oder so rum. Ich bin ihr erbitterter Gegner oder ich ihr begeisterter Zujubler oder Anhänger. Und der Text geht nahe an den Menschen ran, ohne an irgendeiner Stelle kitschig zu werden. Und damit es der Autor schon mal weiß, ja, er ist es: Er schafft es, eine mich zu Tränen rührende Postkarte einer Tochter an ihren Vater einfach so abzuschreiben und es ist nicht kitschig wirkt, sondern es formuliert einfach die Frage dieses Artikels. Der deutsche Reporterpreis 2012 in der Kategorie beste Reportage geht an Takis Würger, «Das verlorene Bataillon».

 

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