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Prämierte Texte

Jonathan Stock „Der blutige Thron

Dieser Text wurde mit dem Deutschen Reporterpreis 2012 in der Kategorie "Beste Kulturreportage" ausgezeichnet.


Die Oper von Damaskus steht in Sichtweite des Präsidentenpalastes, im Zentrum der Stadt, am Umayyaden-Platz. Dort, wo die Demonstrationen für den Diktator Baschar al-Assad beginnen, dort, wo er zum Volke spricht, dort, wo sich alles befindet, was dem Regime wichtig ist: die Offizierskasinos, das Sheraton-Hotel, in dem die Elite ihre Partys feiert, die Propagandasender des Staatsfernsehens und die Folterkeller des Geheimdienstes.

Die Oper genießt einen guten Ruf. Auf dem Programm stehen Ballette, Opern, Konzerte. Schwanensee, Figaros Hochzeit, die Kindertotenlieder. Die Orgel kommt aus Deutschland. Die Tickets sind günstig, das Publikum ist jung, die Reihen sind voll besetzt.

Als Scharfschützen in der Stadt Homs Demonstranten jagten und Bürger Alleebäume zu Brennholz schlugen, tanzten sie in der Oper von Damaskus argentinischen Tango. Sie tanzten, weil die Leiterin der Oper, eine Violinistin mit zartem Lächeln, der Meinung war, »dass kulturelle Veranstaltungen weitergehen müssen – unter allen Umständen«. Die Umstände. So nennen viele in der Hauptstadt die Revolution.

An diesem Abend spielen die Absolventen der Schauspielschule im Großen Saal Theater. Ein besonderes Stück, 400 Jahre alt und doch mit Sätzen, die klingen, als seien sie gerade erst geschrieben worden. Sätze über die Macht, die locken und töten kann. Der Autor heißt Shakespeare, das Stück Macbeth.

Riad Ismat, der Kultusminister, der Shakespeare verehrt, hat es für die syrische Bühne adaptiert, und Ghassan Massoud, der berühmteste Filmstar des Landes, führt Regie. Scheinwerfer tauchen das Operngebäude in warmes, gelbes Licht. Es regnet, und im Eingang, hinter dem Wachhaus, hängt das Plakat zur Aufführung. Wer näher herantritt, liest den Namen Shakespeares und – größer noch – den Namen des Kultusministers. Der Regisseur hat für das Stück eine neue Überschrift ersonnen: Macbeth heißt hier Thron des Blutes.

Ein passender Titel, in keinem anderen seiner Stücke spielt das Blut eine so wichtige Rolle wie in Shakespeares letzter großer Tragödie. Es ist ein gehetztes Spiel über den Fall eines Mannes, der anfangs große Hoffnungen weckt, dann durch eine Intrige an die Macht gelangt und sich durch Auftragsmord, Spitzeldienste und Repression als Tyrann dort oben hält. Interpreten sagen, Macbeth sei eine Anatomie des Bösen. Will man eine Moral erkennen, könnte sie lauten, dass Verbrechen sich letztlich doch nicht auszahlt. Denn am Ende, nach einer ausländischen Intervention, wird der Machthaber getötet und seine Leiche öffentlich zur Schau gestellt. Er schafft es, vorher noch alle mit in den Tod zu reißen, die ihm wichtig sind, seine Frau, seine Freunde und deren Kinder. Er verhindert nicht, dass es am Ende kommt, wie ihm schon zu Beginn geweissagt wurde.

Ist das Stück als Mahnung gedacht? Als subversiver Akt gegen Assad, direkt im innersten Zirkel der Macht? Was der Regisseur selbst sagt, klingt nicht danach: »Für Syrien besteht heute die Gefahr eines schmutzigen, unmoralischen Krieges. Will die Opposition von den Syrern respektiert werden, muss sie die Todesschwadronen, die auf syrische Kinder, Soldaten, Polizisten, Sicherheitskräfte und Bürger zielen, klar und unmissverständlich verurteilen und sich von ihnen absetzen.«

Aber wenn mit Macbeth keine Politik beabsichtigt ist, warum spielt man dieses blutige Stück dann jetzt – zur Unterhaltung? Soll es ablenken von den sogenannten »Todesschwadronen der Terroristen«, der »amerikanischen Verschwörung«, den bösen westlichen Medien, die alles falsch berichten? Wird der Untergang eines Diktators auf einer Bühne mitten in Damaskus nur zufällig beklatscht?

Vor der Oper umarmen die Wartenden einander zur Begrüßung. Medizinstudenten sind darunter und Juristen. Federboas und Jeans, Lederstiefel und Stöckelschuhe. Ein Mann im Frack öffnet die Türen. Im Foyer nehmen die Gäste auf roten Polstern Platz, auf Stühlen mit Intarsien aus Perlmutt neben Frauen-Akten in Öl. Ein Mann erzählt von seinem Onkel, der mit bleichem Gesicht aus Homs nach Damaskus gekommen sei und sich darüber wundere, wie friedlich es hier sei. In den Saal geht es plaudernd die Treppe hoch, über roten Teppich. Drei Mädchen tuscheln und kichern, sie haben einen Blumenstrauß mitgebracht, mit handgeschriebenem Gruß, für einen Schauspieler. »Wir hoffen, wir sehen Dich in Hollywood«, steht da. Balkone in drei Stockwerken, Kameras drehen, das Licht wird gedämpft, eine Violine erklingt in Moll. Das Stück beginnt. Es beginnt mit drei Hexen, die Macbeth an einem abscheulichen und zugleich schönen Tag auf dürrer Heide seine Zukunft verkünden.

Es gibt Opern, die sind Orte der Revolution. Als am 25. August 1830 im Brüsseler Théâtre de la Monnaie eine Oper über den Volksaufstand der Neapolitaner gegen die spanischen Unterdrücker verklingt, stürmen die Zuschauer auf die Straßen und greifen zu den Waffen. Fünf Wochen später erklärt Belgien seine Unabhängigkeit.

Die Oper in Damaskus ist kein Ort der Revolution. Sie ist der Traum des früheren Präsidenten Hafis al-Assad, eines Dorfjungen, der in einer Hütte mit zwei Zimmern am Ende eines matschigen Weges geboren wurde und mit neun Jahren das erste Mal in eine Stadt kam. Den es als Analphabeten zur Bildung zog, und weiter zur Macht, und der erst im Alter einem kleinen Mädchen verriet, dass er in seiner Freizeit Gedichte schrieb. Dieser Präsident hat den Grundstein für die Oper gelegt, die seinen Namen trägt und aussehen sollte wie ein osmanischer Palast. Und er selber steht immer noch da – in Granit gemeißelt, mit steinerner Krawatte, wacht er über sein Bauwerk.

Sein Sohn Baschar fährt manchmal im Opel Sedan vor, persönlich am Steuer, die Gattin daneben. Die beiden mögen es, sich als normales Pärchen zu inszenieren und sich zwischen all den gewöhnlichen Leuten eine Oper anzusehen. Sie brauchen hier keine sichtbaren Leibwächter. »Mit unserem Blut, mit unseren Seelen opfern wir dir, Baschar!«, rufen die Schauspieler. Es ist der übliche militärische Gruß für den Herrscher Syriens.

Vor ein paar Jahren sprach Assad in der Oper über Kultur. Die Kultur von Damaskus, sagte er damals, sei eine Kultur der Ablehnung aller Spuren des Imperialismus. »Damaskus«, rief er, »ist die Hauptstadt der Kultur des Widerstands. Es ist die Kultur der Freiheit und der Verteidigung der Freiheit.«

In Wirklichkeit ist Damaskus seit einem halben Jahrhundert, seitdem das Land de facto im Notstand regiert wird, eine Art Wahrheitslabor. Hier wird getestet, wie weit sie sich biegen lässt, bis sie bricht, bis die Selbsttäuschung nicht mehr zu leugnen ist. Vielleicht wird das nie der Fall sein. »Werden Sie Meinungsfreiheit erlauben? Werden Sie Pressefreiheit erlauben?«, wurde Assad bei seinem letzten Interview gefragt, das er im Dezember dem Fernsehsender ABC gab. »Wir haben sie schon«, antwortete er. Ja, auch seinem achtjährigen Sohn erzähle er von den Terroristen im Land, wenn der Junge frage, was die Bilder der aufgebrachten Menschen im Internet zu bedeuten hätten. Er, Vater, Präsident, tröste ihn dann über all das Schlechte in der Welt: »Manchmal machen die Menschen Fehler, manchmal gibt es böse Menschen.«

Niemand, den man in diesen Tagen in Syrien fragt, glaubt an das Versprechen des Waffenstillstands. Zu oft sind die Menschen getäuscht worden. Noch immer zielen Raketen auf Homs, lauern Scharfschützen in Damaskus, noch immer wird in Demonstrationen hineingeschossen. Und noch immer werden Wohnhäuser durchsucht, Unschuldige festgenommen, sitzen in den Gefängnissen Zehntausende politische Häftlinge. Und in den schicken Vierteln von Damaskus liegen Gucci-Handtäschchen in den Schaufenstern, servieren Kellner in Edelcafés Schokoladentorte mit brennenden Wunderkerzen zum Geburtstag und gehen Studenten in die Oper. Selten war die Damaszener Welt so verdreht, waren die Unterschiede zwischen Schein und Wirklichkeit größer als in diesen Tagen. »Gut ist böse, böse ist gut«, rufen die Hexen ins Gewitter, und draußen spielt die Realität ihr eigenes Stück.

In Duma, einem Vorort von Damaskus, den Schützenpanzer und Soldaten immer noch abriegeln, sitzt ein Mann und verkündet: »Der Sieg ist nahe.« Es klingt merkwürdig aus seinem Mund. Ein Ingenieur im grauen Anzug, ein Bürger aus gutem Hause. Neben ihm hält sich sein Sohn mühsam auf dem Stuhl. Der Kopfschuss ist schlecht verheilt, die linke Körperhälfte gelähmt. Der Junge schweigt. Der rechte Fuß verkrampft, die linke Hand zur Klaue geformt. Er schlürft gierig den Tee, den der Vater für die Gäste aufgetragen hat. Sein jüngerer Bruder schaut ihn an wie einen Fremden. »Der Sieg ist nahe«, sagt der Vater. »Wenn Gott will, ist der Sieg nahe, und das Regime stürzt zusammen.«

In diesen Tagen gibt es in Syrien viele Väter, die das Schicksal ihrer Söhne beweinen. Manche schreien und heben die Hände zum Himmel. Sie können sehr laut werden. Dieser Vater ist leise, seine Hände faltet er im Schoß, seine Stimme klingt wie die eines Mannes, der nur schwer seine Meinung ändert und dann umso beharrlicher an ihr festhält. »Die Lage ist gut«, sagt er, und diese Siegesgewissheit tut weh, weil sie sein Leid nur mühsam kaschiert.

Sein Sohn, erklärt er, war dabei, seinen höheren Abschluss zu machen. Er ging am Nachmittag zur Schule, dort gab es eine Demonstration. Wenig später klingelte beim Vater das Telefon. Sein Sohn sei im Krankenhaus. Der Vater lief in die Klinik und sah den Kopfschuss. Ein Scharfschütze, erzählten sie ihm später, seine Freunde hätten es nicht geschafft, den Sohn zu retten. Zwanzig Minuten sei er am Boden liegen geblieben, weil ein Auto mit um sich schießenden Sicherheitskräften durch die Gegend fuhr und sich niemand an den Verletzten herantraute.

Am Anfang glaubte der Vater den Nachrichten aus dem Fernsehen. Jetzt nicht mehr.

Der Sohn kann noch sprechen, langsam zwar, mit vielen Pausen, aber es geht.

»Was soll ich sagen?«, fragt er.

»Wie viele Freunde hast du verloren? Wie viele sind verletzt?«, fragt der Vater den Sohn.

»Zwei habe ich verloren, die kannte ich schon ewig. Verletzt wurde keiner außer mir.«

»Doch«, sagt der Vater, »da gibt es doch Nidan und Abu Hajja und Amar, Bakar, ganz viele von deinen Freunden sind schon getroffen worden, auch Abu Haled...« Der Sohn schüttelt den Kopf. »Wer ist Haled?«, fragt er. Er kann sich nicht an den Tag seiner Verletzung erinnern. Er kann sich überhaupt an wenig erinnern.

»Ich glaube, dass die Revolution in Syrien ein Beispiel wird für die ganze Welt«, sagt der Vater. »Die Angst, diese ganze Angst, die dieses Volk ausgehalten hat, sie hat sich in Kraft verwandelt. Und das haben wir Gott zu verdanken.«

»Inschallah, werde ich eines Tages Ingenieur, wie mein Vater«, sagt der Sohn schleppend. Inschallah, sagt der Vater. Inschallah, murmelt der Bruder.

In der Oper von Damaskus haben die Hexen ihr Werk vollbracht. Um ihrer Prophezeiung, er werde auf dem Thron sitzen, nachzuhelfen, hat Macbeth den alten König umgebracht. Seine Gemahlin Lady Macbeth hat ihn angestachelt und hilft ihm nun, den Mord zu vertuschen. Es ist das erste Mal, dass die beiden Zweifel spüren. Ob der Ozean wohl das Blut von seiner Hand abwaschen könne, fragt sich Macbeth. Und seine Frau antwortet: »Meine Hände sind blutig wie die deinen; doch ich schäme mich, dass mein Herz so weiß ist.«

Danach bringt Shakespeare sein Publikum zum Lachen. Ein betrunkener Pförtner tritt auf, der ein paar harmlose Witze erzählt. Der Kultusminister hat die Szene nicht gestrichen – er hat sie ausgebaut. Der Pförtner wird zum Narren, seine Witze werden zu deftigen Zoten.

Es wird eine große Szene, die das Publikum begeistert. Vergessen sind die langen Autoschlangen vor den Tankstellen, der Stromausfall, die fallende Währung, die steigenden Preise, die Schüsse in der Nacht. Hier, heute, wird die Revolution verschluckt von einem Narren in gestreifter Hose.

Zu leichter Jazzmusik erzählt er einen langen und schmutzigen Witz, nur unterbrochen von manischem Gelächter. Der Witz beginnt mit einer Geliebten, die von ihrem Verehrer auf eine Bergspitze gebracht wird, den Berg Kassioun, wo Kain seinen Bruder Abel erschlagen und der Prophet das erste Mal das Paradies Damaskus erblickt haben soll. Wo sich die Damaszener Liebespaare treffen. Er schenkt ihr ein Glas ein, dann noch eins und noch eins. Nach dem dritten Glas fragt die Geliebte: »Mein Schatz, kann es sein, dass du mich betrunken machen willst?« – »Nein! Bei Gott«, sagt der Narr, »im Gegenteil.« »Mich betrinken« bedeutet auf Arabisch auch »mich schließen«. Das Gegenteil also: aufmachen – entjungfern. Es ist einer jener Sprachwitze, die in Syrien so populär sind. Der Narr fährt fort: »Ich habe sie mir auf die Schenkel gesetzt und habe es ihr richtig besorgt, mitten zwischen den Hühnern.«

Der Saal beginnt zu lachen, verhalten erst, dann grölt er. Zwei Kinder können sich gar nicht mehr einkriegen. Und in der letzten Reihe sitzt der Kultusminister, still und unerkannt, und lauscht. Später wird er sagen, der Narr sei zwar ein bisschen vulgär, aber er verstehe es gut, mit dem Publikum zu kommunizieren.

Der Narr tritt ab, der Mord am König wird entdeckt und der Tote zu Grabe getragen. Die Nacht ist rau. Todesschreie hallen, Vögel lärmen trotz der Dunkelheit, ein Sturm zieht auf. Einige sagen: Die Erde liegt im Fieber und bebt. Selbst die Alten können sich nicht erinnern, so eine schlimme Zeit erlebt zu haben. Die Falken jagen Eulen, und die Pferde des Königs brechen aus ihren Boxen aus, schlagen aus und fressen sich gegenseitig. Bei Shakespeare wird die Natur dämonisch, wenn die Menschen es werden.

Das syrische Staatsfernsehen wird ein paar Tage später Bilder aus Masseh zeigen, einem vornehmen Stadtteil, nur ein paar Minuten von der Oper und dem Sender entfernt. »Dringende Nachricht«, wird es heißen: »Die Bewohner von Masseh gehen auf die Straße, und sie danken ihrem Herrn für den Segen des Schnees.«

Tatsächlich gehen die Bewohner von Masseh auf die Straße. Aber sie danken ihrem Herrn nicht für den Segen des Schnees. Sie protestieren gegen das Regime, und zufällig schneit es dabei. Mehr als zehntausend müssen es sein, so viele haben noch nie mitten in der Stadt gegen Assad demonstriert. Wer sich unter sie mischt, fühlt Zuversicht und Stärke, die von der Menge ausgehen. Einige werden später sagen, es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Die Masse reicht von der Moschee über den ganzen Platz, bis weit in die Hauptstraße des Viertels. Sie tragen die Särge mit Getöteten durch die Straßen, die bei der letzten Demonstration erschossen und erschlagen wurden. Drei grüne Särge, von Palmwedeln flankiert, mit Rosenblättern bestreut. »Wir vergessen sie nicht!«, rufen die Jungen aus der Menge den hinterbliebenen Müttern zu. Der Schneesturm wird heftig, ungewöhnlich für Damaskus. Langsam kämpfen sich die Sargträger vor. »Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins. Wir folgen dir, oh Gott, Sunniten und Alawiten vereint.«

Auf dem Friedhof, noch vor dem Ende des Gebets, wird geschossen. Sicherheitskräfte feuern mit Tränengas. Es beißt in den Augen. Die Trauernden wickeln sich Tücher um Mund und Nase, die ersten rennen davon. »Schnell jetzt«, ruft die Familie. »Diese Hunde!«, schreit einer, »Möge sich Gott an ihnen rächen«, ein anderer. In weißen Leinentüchern werden die Toten hinabgelassen, der Totengräber schaufelt hastig Erde in das Loch, tritt sie fest, dann hinkt er davon. Die Särge bleiben zwischen den Grabsteinen liegen, sie werden für die nächsten Toten gebraucht.

Vor dem Friedhof herrscht Krieg. Ein Gemüseladen wird geplündert. Zwiebeln, gegen das Gesicht gepresst, sollen helfen gegen den Rauch, vielleicht helfen sie auch nur gegen die Angst. Die Jungen stehen jetzt in der Gasse und hämmern gegen die heruntergelassenen Ladengitter der Geschäfte. Das Donnern soll die Umstehenden warnen. Mülleimer werden zu Straßensperren. Die ersten Schüsse peitschen, Steinsplitter rieseln von den Wänden. Angst legt sich über die Männer. Aus der Hauptstraße rücken die Sicherheitskräfte in die Gassen vor, die Demonstranten weichen zurück, eine Welle packt die Menge, sie rast davon. In den Straßen öffnen sich Türen: »Kommt herein«, ruft und flüstert es.

Die Treppe hinunter, in einem Keller, sammeln sich ein paar Versprengte. Einige kennen sich, aber auch Fremde sind dabei. Sie harren in der Dunkelheit, lauschen auf den Lärm der Milizen über ihnen. »2000 müssen es sein.« Die Zahl ist übertrieben, aber hier unten kommt es einem vor, als sei das ganze Viertel von Assads Leuten umstellt. »Es war ein Fehler, dass wir nach unten gegangen sind.«

»Aber wenn wir oben geblieben wären, hätten sie uns wie Hunde erschossen.«

Pause.

Dann sagt einer:

»Wahrscheinlich sind auch jetzt welche unter uns.«

»Natürlich sind welche unter uns.«

Die Blicke werden misstrauischer, die Pausen zwischen den Wortwechseln länger. Irgendwann wagt sich doch einer hinauf, vorsichtig schiebt er die Luke in der Kellertür zurück. Der Himmel ist blau. Alles ist friedlich. Nur ein paar Assad-treue Wachmänner sichern die leeren Straßen. Ein paar Revolutionäre sind heute erschossen worden, ein paar mehr noch verletzt, das Viertel wird abgeriegelt, der Geheimdienst wird bald die Häuser abgehen. Die nächste Beerdigung wird im Morgengrauen stattfinden. Das Regime wird nur den engsten Familienangehörigen erlauben, dabei zu sein. Nicht nur für Hochzeiten braucht man in Damaskus jetzt die Genehmigung der Behörde.

»An jedem neuen Morgen heulen neue Witwen, weinen neue Waisen«, heißt es in Shakespeares Stück. Macbeth ist König, und mit der Macht ist die Angst gekommen. Er fühlt sich unerfahren. »Die Furcht eines Neulings, dem die harte Übung fehlt«, so nennt er es. Er hat ein Spionagenetz aufgebaut, täuscht mit Festen Frieden vor. Im Exil baut sich eine Opposition auf, die ihm gefährlich werden wird, obwohl sie sich noch selbst misstraut und immer noch die Nachstellungen des Königs fürchtet. Auch innenpolitisch zweifeln die Ersten an ihm, vorerst nur heimlich. Banquo, den alten Heerführer, seinen größten Rivalen, hat Macbeth von Auftragsmördern umbringen lassen. Nun liegt Banquo im Straßengraben, mit durchgeschnittener Kehle. Es gibt kein Zurück mehr für Macbeth. Die Hexen sind jetzt seine engsten Berater, sie sollen ihm zeigen, von wo Gefahr droht. Doch sie verfolgen bloß eigene Interessen, und Macbeth hört nur, was er hören will. Er, der am Anfang zweifelte, verhöhnt nun das Schicksal und verachtet den Tod. Er hält sich für unverwundbar.

In der Oper haben sie die Nebelmaschine angeworfen, ein Strahler richtet sich in die Dunkelheit, aus der die Hexen einen halb nackten Körper ziehen. Es ist Macbeths alter Freund Banquo, der den Tod spielt. Groß gewachsen, jeder Muskel, jede Sehne modelliert, so wie es der Regisseur mag. Nur über die grausige Maske, diese weiße Scream- Maske, die er über dem Kopf trägt, werden sie später im Ensemble lästern. Billig habe sie ausgesehen.

Trotzdem – der junge Schauspieler, der sich am Abend zuvor noch einen Rausch angetrunken hat, spielt jetzt den Tod wie ein Großer. »Macbeth!«, brüllt er, wieder und wieder, und plötzlich wird es still im Saal der Oper von Damaskus, als müsste man Angst haben, als hätte der Tod tatsächlich die Stadt betreten, als wäre alles nicht nur ein Spiel.

Der Verschwörer liegt zu Hause. Bei einer Beerdigung traf ihn die Patrone eines russischen Gewehrs. Die Kugel drang vom Hals bis zur Wirbelsäule und trat aus dem Rücken aus. Der Generator draußen im Hof ist laut, das Flüstern kaum zu verstehen, das Gesicht abgewandt.

Nur die Ärzte sind mit im Zimmer, Untergrundärzte, die selbst gefoltert wurden. Salafisten, die zärtlich vom Dschihad reden und nicht viel mehr für ihre Kranken tun können, als mit ihnen Tee zu trinken und ihnen Mut zuzusprechen.

Und so, wie er dort liegt und nicht einmal Macht über seine Glieder hat, droht der Gelähmte dem Machthaber Assad. »Wenn ich auf meine Füße springen könnte, bei Gott, ich würde weiter Freiheit fordern und den Sturz des Regimes. Das schwöre ich bei Gott. Und die Patronen von Assad sind mir egal. Denn er schießt auf uns mit Munition. Wir aber sagen: Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet. La ilaha illa Allah, Mohammadun rasulu Allah.« Je aussichtsloser die Proteste, je zahlreicher die Straßensperren in der Festung Damaskus, desto heftiger der Glaube, dass da jemand ist, der den Potentaten die Waffen entreißt und die Ungerechten zur Rechenschaft zieht.

Die Schwester des Gelähmten sitzt müde vom Helfen auf der Bettkante. Sie bringt den Bruder zur Toilette und zurück. Sie zieht ihn an, füttert ihn, flößt ihm Wasser ein und hält die Zigarette an seine Lippen. Die Mutter kniet daneben, sie möchte etwas sagen: »Wir bitten nur um Würde und Freiheit. Um nichts weiter. Wie viele unserer Jungen wir auch verlieren werden, das Wichtigste ist, das wir am Ende die Freiheit gewinnen.« Denn: »Gott ist größer als du, Baschar.«

Macbeth befestigt seine Burg, er stellt sich auf Belagerung ein. Noch fühlt er sich sicher, doch das Gefühl trügt. Seine Soldaten laufen über oder ergeben sich. In den Gängen der Burg wirkt Macbeth abgekämpft, seine Frau kann nicht mehr schlafen, die Schuld steigt aus ihren Träumen. Sie bringt sich um. Von allen im Stich gelassen, sieht sich Macbeth schließlich von Feinden umstellt. Seine Truppen fallen von ihm ab, sie glauben nicht mehr an den Sieg – ja, sie wollen den Sieg nicht einmal mehr.

Die Armee des Präsidenten zählt eine halbe Million Soldaten, inklusive Reservisten und Milizen. Mehr als 50000 zählt, nach eigenen Angaben, die Freie Syrische Armee. In Damaskus sollen es nur ein paar Hundert sein. Zwei von ihnen sitzen in der Stadt, in einer alten Tischlerei, ihrem Versteck für diese Stunde. Die Scheite im Ofen knistern, das Feuer wirft flackernde Schatten an die Wand. Wieder mal ist der Strom ausgefallen. Jeden Tag schlüpfen die Soldaten woanders unter, zu ihren Familien haben sie keinen Kontakt mehr, um sie nicht noch mehr zu gefährden. Wer in Syrien desertiert, der gibt sein bisheriges Leben auf. Es sind wortkarge Männer, gewohnt, Befehle auszuführen, nicht Interviews zu geben, Flüchtlinge im eigenen Land. Sie stemmen ihre Armeestiefel fest auf den Boden, ihre fleckfarbene Uniform haben sie nur für das Interview angezogen. Auf der Straße wäre es Selbstmord, sie zu tragen.

»Wir sind Soldaten der syrischen Armee«, beginnt der eine, »das waren wir natürlich«, korrigiert er sich schnell. Er erzählt, dass sie es mochten in der Armee, bis die neuen alawitischen Offiziere kamen von der berüchtigten 4. Division, die unter dem Kommando von Maher al-Assad, dem Bruder des Präsidenten, steht. Die Offiziere befahlen, auf Demonstranten zu schießen und auf Gläubige, die nach dem Freitagsgebet aus der Moschee strömten. Auch auf Soldaten, die nicht gehorchten, wurde geschossen. Als sie in einem Dorf, dessen Bewohner sie kannten, »aufräumen« sollten, flohen sie mit ihrer Einheit von fünfzig Mann, mit ein paar Maschinengewehren und Pistolen. Seit Monaten haben nur noch die 4. Division und die Assad-treue Republikanische Garde schwere Waffen – man will nicht die Überläufer ausrüsten.

Jetzt erhalten die beiden Männer ihre Befehle von der Führung der Freien Syrischen Armee aus Idlib, an der türkischen Grenze. Was aus den anderen ihrer Einheit geworden ist, wissen sie nicht. Sie selbst sollen jetzt die friedlichen Demonstrationen in der Hauptstadt schützen. Aber was können sie ausrichten gegen die Waffen des Regimes? Hier in Damaskus, wo Assad am stärksten ist, sind sie am schwächsten: »Wir leben, wir arrangieren uns irgendwie.«

Ausländische Bodentruppen brauchten sie immer noch nicht, sagen sie. Sie könnten den Konflikt alleine lösen. Worauf es ankomme, vor allem, wenn der Waffenstillstand scheitern sollte: Munition, eine Flugverbotszone und logistische Hilfe, um sich im Land bewegen zu können. »Nur das, mehr wollen wir nicht.« Er zitiert einen Vers aus dem Koran, aus der Sure Al-Isra: »Die Wahrheit ist gekommen. Die Lüge ist gegangen.«

Am Ende stirbt Macbeth. In seinen letzten Minuten ahnt er, dass es zu Ende geht. Anstatt zu fliehen, wirft er sich noch einmal trotzig in den Kampf. »Ich werde mich nicht ergeben, um den Boden vor den Füßen des jungen Malcolm zu küssen und mich von dem Fluch des Pöbels hetzen zu lassen!«, ruft er. Er verliert. Seine Leiche wird zur Schau gestellt, der abgetrennte Kopf auf einem Schild herumgetragen. »Endlich einmal gute Nachrichten«, sagt einer der Edelmänner. Es ist der letzte Kampf, und doch ist es ungewiss, ob danach Frieden einkehrt. » Time is free «, schreibt Shakespeare. Die Zeit ist endlich frei. Das Land ist zerstört, die Sieger sind zerstritten.

In der Oper klatschen beim Tod des Tyrannen Macbeth nur ganz wenige. Die Darsteller verbeugen sich, das Stück ist aus. Es war ein schöner Abend. Die Leute zerstreuen sich schnell. Die Schauspieler stehen vor dem Bühneneingang, rauchen in die Nacht. Glückwünsche erreichen sie und Dankesworte. Einige gehen nach Hause, andere wollen noch feiern. Einer, es ist der Auftragsmörder des Königs Macbeth, geht in den Nachtklub.

Einige neue Klubs sind in den letzten Monaten entstanden, es wurde so viel gefeiert in Damaskus wie selten, auch hier im Klub Don Vito, benannt nach Don Vito Corleone, dem New Yorker Mafiapaten im Film von Francis Ford Coppola. Der Türsteher lässt den Schauspieler ein, drinnen bedienen unter Kronleuchtern Kellner mit Krawatte, Weste und schwarzem Hut. An der gläsernen Schiebetür hängt ein Bild von Assad, gegenüber ein großes Bild des Paten. An die Wand hat einer ein Filmzitat gemalt: » Keep your friends close, and keep your enemies closer .« Das Licht ist schummrig. Hinter Samtvorhängen übertragen sie ein Fußballspiel. Der DJ legt ein neues Lied auf: » Sun is shining. God is good «, der Bass erschüttert das Gebäude.

»Ich liebe diesen Klub«, sagt der Mörder. Grey-Goose-Wodka, Southern Comfort, Jack Daniel’s, Bacardi Superior, Malibu-Rum, Glenfiddich Single Malt, Bailey’s, Ramazotti, Martini Rosso. Man kann sich als Muslim in Damaskus einen ordentlichen Rausch antrinken. Die christliche Minderheit sorgt für Nachschub, die Schnapsläden haben noch nach Einbruch der Dunkelheit geöffnet, hinter der Theke im Don Vito klappert der Shaker, das Gespräch kreist um die Ungerechtigkeiten des Schauspielerlebens und um Fußball.

Das Nachtleben in Damaskus zählt – nach Beirut und Tel Aviv – zu den lebendigsten im Nahen Osten, auch wenn in letzter Zeit die Touristen ausbleiben. In der neu eröffneten Taobar tanzen sie nachts vor goldenen Statuen auf den Tischen. Und im Moustache gibt es einen Filmabend: Killer Elite, Inferno mit Jean-Claude Van Damme, dazu Popcorn und Gewürzgurken. Noch immer lassen sich in der Stadt Manschettenknöpfe mit eingelassenen Brillanten kaufen, und noch immer kostet bei Kentucky Fried Chicken das Menü mit Fritten, Pepsi und Salat 350 syrische Pfund, etwa 5 Euro. Im Park gegenüber sind die Blumenbeete in Herzform geschnitten, und Paare schäkern schüchtern miteinander. Das Leben im Bürgerkrieg kann schön sein.

In der gleichen Stadt wuchten andere Jugendliche brennende Autoreifen auf die Straßen, fauchen Mütter Reporter an, dass Tausende für ein geschächtetes Schaf auf die Straße gehen, wenn Brigitte Bardot dazu aufruft, aber niemand sich für die niedergemetzelten Kinder Syriens interessiert. Und wieder ein paar Kilometer entfernt reden Jugendliche über Angriffskorridore, als spielten sie Indianer und warteten auf die Cowboys. Sie ziehen ihre Beine nach, die von Granatsplittern verletzt wurden, und sagen ausdruckslos Sätze wie: »Mein Vater ist letzte Woche gestorben.« Wenn man sie fragt, ob sie an den Waffenstillstand und den Friedensplan des UN-Sondergesandten Kofi Annan glauben, dann fragen sie zurück: »Wann fangt ihr endlich an zu verstehen, dass ihr nicht mit einer Regierung verhandelt, sondern mit Verbrechern?«

In der Bar des Klubs kippt der Schauspieler sein letztes Glas. Kommt es ihm nicht seltsam vor, dass die staatlichen Medien in Syrien von bewaffneten Terroristen sprechen und die ausländischen Medien von Rebellen? Er lächelt genervt: »Unsere Medien sagen dies, die anderen sagen das. Deshalb glaube ich keinem.« Was hält er von Demokratie, von Meinungsfreiheit? »Es gibt Leute, die das interessiert«, sagt er. Ob es ihn nicht auch interessiere? Nein, ihn interessiere ein gutes Leben.

Aber Macbeth , das ist doch auch irgendwie ein politisches Stück? »Für mich nicht. Ich spiele es, weil mir das mein Regisseur gesagt hat.«

Der Regisseur lässt sich telefonisch entschuldigen, er ist zu Dreharbeiten in der syrischen Wüste. Dafür ist der Kultusminister da, Riad Ismat, Übersetzer und Bearbeiter des Stücks. Er ist ein Mann, über den gesagt wird, er habe kein Profil. Das sei wichtig beim Nach-oben-Kommen. »Kein Profil« bedeutet: kein Eintrag in den Akten des Geheimdienstes. So hat Riad Ismat, früher Drehbuchschreiber für Fernsehserien, es geschafft, Kultusminister zu werden.

Um den Kultusminister sprechen zu können, sollte man nicht als Journalist um einen Termin bitten, besser, man gibt sich als kulturell aufgeweckter Student aus. Ismat ist ein freundlicher Herr, der im feinen, palmenverzierten Diplomatenviertel von Abu Rummaneh residiert. Vor einem Warteraum mit Ölgemälden sitzt ein Offizier der syrischen Armee und schaut das Staatsfernsehen, das Bilder von neuen Anschlägen der »Terroristen« überträgt. Der Minister lässt ausrichten, dass er nicht viel Zeit habe. Und die Vorzimmerdame warnt: Kein journalistisches Interview!

In seinem Amtszimmer, hinter einem schweren Eichentisch, begrüßt Riad Ismat weltgewandt in bestem Englisch. Er hat in England studiert, er hat Aufführungen am Broadway gesehen. Über den Besuch aus Deutschland freut Ismat sich, er war erst vor einem guten Jahr in Berlin, im Pergamon-Museum, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hatte ihn eingeladen. Deutschland hat er in guter Erinnerung, auch weil das Auswärtige Amt die Oper von Damaskus finanziell unterstützt hat, zuletzt im Dezember 2010 mit 15.000 Euro für die Inszenierung der Hochzeit des Figaro.

35 Bücher soll Ismat geschrieben haben, und er ist stolz darauf. Dem Gast überreicht er das Buch Der Teufel des Theaters von Dr. Riad Ismat und das Buch Der Tragische Held im internationalen Theater vom selben Autor. Das wichtigste Buch, sagt er, seien aber seine Memoiren, an denen er gerade sitzt.

Was hält er von Macbeth ? »Leider habe ich wenig Zeit und kann nicht ins Detail gehen.« Aber in seinen Büchern, sagt er, finde man Hinweise. Er überreicht ein Gratisticket für die nächste Aufführung, und dann hat er da noch ein Abschiedsgeschenk. Er holt ein großes Glas aus dem Schreibtisch. Mit stolzer Bescheidenheit greift er hinein und fischt ein kleines Stück heraus, eingewickelt in türkisfarbenes Papier. »Schokolade«, sagt Dr. Riad Ismat. Auf der Rückseite der Schokolade steht der Name »Baschar«. Die Brocken sind hart, sie schmecken scharf und schmelzen nicht auf der Zunge. »Auf Wiedersehen«, sagt der Kultusminister, »war mir eine Freude.«

In den geschenkten Büchern geht es viel um Dr. Riad Ismat, aber ein Kapitel handelt auch von Macbeth . Ein Satz lautet: »Macbeth ist nicht in der Lage, die ganze Welt in die Luft zu sprengen, aber er kann bis zum Ende mit dem Morden weitermachen.«

Ist es nun Absicht oder Zufall, dass sie jetzt in Damaskus Macbeth spielen? Es gibt auch noch eine dritte – sehr syrische – Möglichkeit, eine in jener Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge, in der nichts gesagt wird und doch alles. Dann wäre die Aufführung sehr wohl als ein Fingerzeig gedacht. Und für den Fall, dass die Rebellen siegen, könnten Minister, Regisseur und Schauspieler auf ihr subversives Verhalten verweisen und auf sichere Weise die Seiten wechseln.

Aber solange Assad an der Macht bleibt, ist es eben bloß Shakespeare.

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Jonathan Stock


Geboren 1983. Trampreise von Eutin nach Indien. Geschichtsstudium in Berlin, Edinburgh und London. Henri-Nannen-Journalistenschule. Redakteur bei Geo Epoche und Spiegel Online. Mitbegründer des Arrabbiata-Preises, der den besten ersten Satz mit drei Tellern Nudeln prämiert.
Dokumente
Der blutige Thron (PDF)

erschienen in:
Die ZEIT,
am 19.04.2012
Beste Kulturreportage



Laudatio: Michael Ebert



Auch ich habe zu dieser seltsamen Jury gehört, die alles 5:5 entschieden oder sich ständig enthalten hat.

Bei dieser Kategorie haben wir es uns etwas leichter gemacht: Der Autor des Siegertextes ist in die Oper gegangen; die Abschlussklasse einer Schauspielschule gab Macbeth, Shakespeares letztes Bühnenstück, das von einem Herrscher handelt, der mordet, um seine Macht nicht zu verlieren. Der Ort der Aufführung ist Damaskus und der syrische Kultusminister ist der Verantwortliche dieser Aufführung. Man fragt sich beim Lesen: Ist das jetzt selbstmörderische Systemkritik? Gedankenlosigkeit? Oder ein schlechter Witz? Der Autor fragt sich das auch und trifft die Schauspieler, trifft Oppositionelle, die von dem Stück wissen, trifft Opfer und Kämpfer in Syrien, trifft regierungstreue Minister, Wendehälse – und zeichnet in seinem Text das Bild eines Landes, das mindestens so kaputt, korrupt und furchtbar ist wie das, das Macbeth regiert hat. Und das Ganze tut er journalistisch wirklich herausragend. Das fand auch die gesamte Jury.

Der Preis für die beste Kulturreportage in diesem Jahr geht an «Der blutige Thron», erschienen im April 2012 in der Zeit, ohne Autorennamen, um den Autoren zu schützen.

Aber die schlauen Füchse in diesem Verein haben herausgefunden, wer der Autor ist. Und in eigener Sache möchte ich dem Autor erstens gratulieren; und ihn zweitens darum bitten, in Zukunft ein wenig vorsichtiger mit sich umzugehen. Er wird nicht zum ersten Mal für einen Text ausgezeichnet, für den er ziemlich viel riskiert hat. Und ehrlich, ich mache mir ein wenig Sorgen um dich. Pass auf dich auf, denn ich nehme es persönlich, wenn wir dir diesen Preis überreichen und du irgendwann nochmal dein Leben riskierst für eine Geschichte. Bitte, mach nur, wo du dir sicher bist, dass es nicht zu gefährlich wird. Wir würden einen sehr, sehr tollen Journalisten verlieren. Der Autor heißt Jonathan Stock und wir gratulieren ihm herzlich.

 

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