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Autoren-Interview

Marie-Luise Scherer „Die Furcht vor dem Schreiben

Marie Luise Scherers Werk ist schmal. Sie sei nicht ökonomisch, sagt sie. Sie könne nur weiter schreiben, wenn der voran gegangene Satz ihren Segen habe. "Man träumt das Unmachbare“, sagt sie im Interview mit Friederike Herrmann. „Jeder Satz ist dann eine Kapitulation. Die Frage ist aber: Wann kapituliert man? Allerdings kapituliere ich nie bei der Suche nach einem Wort. Zum Beispiel: Wie riecht Mottenpulver? Nach acht Stunden hatte ich das Wort grämlich."

Kürzlich hat die ehemalige "Spiegel"-Autorin den Italo-Svevo-Preis gewonnen. Wir dokumentieren ihre Preisrede, verweisen auf zwei von Scherers Reportagen und veröffentlichen zwei der seltenen Interviews, die sie gegeben hat.

Wir entnehmen das von Rem Kohlhaas und Hans Ulrich Obrist geführte Interview der Zeitschrift "archplus".

Das von Friederike Herrmann geführte Interview entstammt dem von ihr 2006 herausgegebenen Sammelband "Unter Druck - Die journalistische Textwerkstatt. Erfahrungen, Analysen, Übungen", in dem Journalisten berichten, wie sie mit Schreibblockaden und -schwierigkeiten umgehen.

Rede anlässlich der Verleihung des Italo-Svevo-Preises 2008

Die erste Freude über diesen Preis hatte sich schnell verdunkelt, bereits am Telefon, als mir davon Mitteilung gemacht wurde, da ich mich schon über der Dankrede rauchen sah. Lieber hätte ich die Ausschmückung eines Hochaltars für Italo Svevo übernommen, wäre mit Fuhren von Blumen angetreten und hätte auch die Vasen mitgebracht. Auf mein erwachsenes Leben zurückblickend, so war es geprägt durch die Furcht vor dem Schreiben, durch sein Hinauszögern und das daraus erwachsene Unglück der Arbeitsschulden. Oft erschien mir das Menetekel des Schriftstellers Robert Wolfgang Schnell, dass nur derjenige schreiben soll, der es auch in einer lärmerfüllten Küche vermag und - in Ermangelung eines geeigneteren Platzes - am Fensterbrett stehend einen Roman zu Ende bringt. Das nun möchte ich mit drei Beispielen widerlegen. Das Erste: Eine Frau, seit einem halben Jahrhundert mit einem Dichter verheiratet, diesen auch ernährend, weiß außer den Titeln seiner Bücher eigentlich nur, dass ihm nach Alkohol der Kaffee säuert, dass er mit doppeltem Kopfkeil nach Westen schlafen muss, im Winter bei heruntergezogenen Schnapprollo nur im Südzimmer und im Sommer bei unverhängtem Fenster nur im Nordzimmer schreiben kann. Während seiner drängendsten Arbeitsphasen teilt sich die Frau, da es kein Ostzimmer gibt, eine fensterlose Kammer mit einem Bügelbrett. Sie ist still anwesend beim Servieren eines Getränkes, sonst rufbereit abwesend. Ihr Mann, als Dichter eine schmerzbereite, nie vernarbende Wunde, jemand, der über die Entschiedenheit des Knicks in einer Zigarettenkippe einen Vers zu schreiben imstande ist, widmet ihr seine Bücher mit einem Lob ihrer Geduld.

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Marie-Luise Scherer


Marie-Luise Scherer, in Saarbrücken geboren, war 24 Jahre lang Autorin beim "Spiegel". Für ihre Reportage „Die Hundegrenze“ wurde sie 1994 mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet. Zweimal erhielt sie den Egon Erwin Kisch-Preis. Sie hat zwei Bücher veröffentlicht: „Ungeheurer Alltag“ 1988 bei Rowohlt und „Der Akkordeonspieler“ 2004 im Eichborn Verlag. Sie lebt zurückgezogen in einem Dorf an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.
Dokumente
Friederike Herrmann: Interview mit Marie-Luise Scherer (pdf)
Rem Koolhaas / H.-U.-Obrist: Interview mit Marie-Luise Scherer
Marie-Luise Scherer: Rede zur Verleihung des Italo-Svevo-Preises 2008 (pdf)
Links
Marie-Luise Scherer: Die Hundegrenze (via Spiegel)
Marie-Luise Schreiber: Der unheimliche Ort Berlin (via Spiegel)

erschienen in:
Aus verschiedenen Quellen,
am 30.08.2008


Friederike Herrmann


Friederike Herrmann, Jahrgang 1960, ist Professorin im Studiengang Online-Journalismus der Hochschule Darmstadt. Ihr Schwerpunkt in Lehre und Forschung ist das journalistische Schreiben. Sie hat beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt in Hamburg volontiert und war dort mehrere Jahre Redakteurin. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen und Radiosender (u.a. Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche, taz, SWR) und arbeitet als Schreibtrainerin für Journalistenschulen (JSR, ZDF, VSZV). Vor ihrer Tätigkeit in Darmstadt war sie wissenschaftliche Assistentin an der Universität Tübingen.

 

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